kommunikation und sprache

Verdorbene Begriffe – ideologischer Missbrauch

Die strategisch-manipulative Verwässerung und Verdrehung der Bedeutung von Wörtern

| Armin Scholl

Beitragideo
Foto: Alessandro Corsoni from Piombino, Italia, CC BY 2.0 , via Wikimedia Commons; Illustration: Dirk Sandbaumhüter

„Chaos und Anarchie“ ist ein beliebtes Begriffspaar, das in den bürgerlichen Medien oft zu lesen ist. Soll man darüber lachen, weil die Kombination beider Wörter so einfältig ist, oder soll man darüber wütend werden, weil bei Anarchie anscheinend immer noch an Bomben legende Gewalttäter aus dem 19. Jahrhundert gedacht wird? Ich will im Folgenden einige sprachliche Bezeichnungen analysieren und komme auch auf dieses Einstiegsbeispiel zurück.

Wertschätzung

Subtiler als solche abgegriffenen und gedankenlosen Wortkombinationen sind sprachliche Neuschöpfungen, die eine deutliche ideologische Prägung haben. In der Graswurzelrevolution Nr. 497 (März 2025, S.12) kritisiert Elmar Wigand den neoliberalen Neusprech. Am Begriff „Wertschätzung“ legt er dar, dass damit eine Art Ersatzbefriedigung für ausbleibende materielle Entschädigung geschaffen wird. Um die materiellen Verhältnisse, also Lohn, Arbeit und die Bedingungen, unter denen gearbeitet wird, nicht verändern zu müssen, speist man die Arbeitenden mit Wertschätzung ab, mit Worten der Anerkennung und maximal einer kleinen Gehaltserhöhung. Diese Maßnahmen haben aber mehr symbolischen Charakter, als dass sie die Arbeitsverhältnisse grundlegend ändern könnten oder wollten. Der Trick solcher Sprachverwendungen besteht darin, dass positive Assoziationen benutzt werden: Gerade in linken Kreisen bemüht man sich um eine respektvolle, wertschätzende Kommunikation, also um eine Debattenkultur, in der nicht ein Kampf um Sieg oder Niederlage ausgetragen wird, in der es nicht um Selbstbehauptung auf Kosten anderer geht. Wenn „Wertschätzung“ aber eine so große Verbreitung hat, dass sie alles Mögliche bedeuten kann, verliert sie ihren Wert.

Die Verwässerung der Bedeutung von Wörtern ist dabei nicht einem schludrigen Sprachgebrauch geschuldet, sondern hat strategisch-manipulativen Ursprung. Sie soll ablenken von schlechten Zuständen und Verhältnissen, die die Versprechungen der Mächtigen und Einflussreichen als schönen Schein, entlarven würden. Insofern verrät der Sprachgebrauch viel über vorherrschende Ideologien. Aber nicht nur Worterfindungen dienen dieser Ablenkung, sondern auch Umdeutungen von Wörtern können dazu benutzt werden, ursprüngliche Bedeutungen umzuleiten und für einen anderen Zweck einzusetzen und sie damit zu verderben. Dazu will ich ein paar Beispiele geben, die insbesondere die Leser*innen der Graswurzelrevolution (GWR) betreffen.

„Chaos und Anarchie“

Wenn man das Wort „Anarchie“ nicht für sich stehen lässt, sondern mit einem anderen Wort, das von vornherein negative Assoziationen hervorruft, verknüpft und diesem auch noch voranstellt, bringt man es in Misskredit. ‚Anarchie‘ meint dann chaotische, also gewalttätige, kriminelle, gesetzlose, unberechenbare, willkürliche Zustände. Jedenfalls denkt man nicht mehr an Selbstorganisation, freie und gleichberechtigte individuelle Entfaltung, zwanglose Kooperation und Vieles mehr. Auch das heute gewaltfreie Selbstverständnis des Anarchismus wird durch den Zusatz ‚Chaos‘ aus dem Vorstellungsvermögen entfernt.

Der Bomben legende Attentäter von prominenten Herrschenden aus dem 19. Jahrhundert wird reaktiviert und die moderne Version durch diese Assoziation verschüttet und begraben. Will man in politischen Diskussionen eine anarchistische Position vertreten, diese aus dem anarchistischen Politikverständnis begründen, findet man schon gar kein Gehör mehr, weil die negativen Assoziationen Argumenten gegenüber immun sind. Eine Möglichkeit, sich gegen diesen Ausschluss aus politischen Diskussionen zu wehren, kann das Ausweichen auf andere, noch unbelastete Begriffe sein. Im deutschsprachigen Raum bezeichnen sich Anarchist*innen oft als libertär.

„libertär“

Leider ist aber auch dieser Ausdruck bereits sprachlich verdorben. In den USA wird unter libertär eine extreme Form des Liberalismus verstanden, bei der die Freiheit Einzelner über alle anderen Werte gestellt wird. Kein Wunder, dass von einer solchen Ideologie diejenigen profitieren, die bereits Macht, Einfluss und Geld haben, die ihre Freiheit also ausleben können. Dieser Freiheitsbegriff, der keinerlei Rücksicht auf Andere, also schon gar nicht auf Minderheiten, Schwache, Arme, Außenseiter, nimmt, greift sogar die liberal-repräsentative Demokratie an, weil selbst diese gelegentlich die kapitalistische Wirtschaftsweise reguliert (Stichwort „soziale Marktwirtschaft“).

Libertäre in den USA treten für die Abschaffung staatlicher Strukturen ein, ein eigentlich anarchistisches Ziel, das aber mit Anarchie überhaupt nichts zu tun hat. Denn gleichzeitig schwebt ihnen eine völlig unkontrollierte Macht von Großunternehmen, eine vollständige Herrschaft von Konzernen über alle anderen gesellschaftlichen Bereiche, vor.

Parlamentarische Prozesse dauern diesen Kämpfern für das schrankenlose Ausleben ihrer eigenen Freiheit auf Kosten der Freiheit aller anderen viel zu lange. Deshalb träumen sie von einer ‚Disruption‘, einer schockartigen Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse (1). Das klingt ein wenig nach Revolution, passt aber nicht zu den autoritären Vorstellungen solcher Bestrebungen. Immerhin benutzen diese Kreise nicht den Revolutionsbegriff, sodass er – jedenfalls von dieser Seite – einigermaßen immun gegen seine missbräuchliche Verwendung zu sein scheint. Einer solchen rücksichtslosen Diktatur der Starken stehen alle kulturell und gesellschaftlich emanzipatorischen Gruppierungen und Bewegungen im Weg.

Letztlich lässt sich die rücksichtslose Freiheit der Wenigen nur repressiv mit Polizei und Militär durchsetzen, wie man in den USA oder in Argentinien erleben kann.

Anarchokapitalismus

Das libertäre Verständnis von Freiheit ist eine paradoxe Angelegenheit, weil sie nur funktioniert, wenn die Freiheit aller zerstört wird. Ähnlich paradox ist die Wortzusammensetzung „Anarchokapitalismus“. Hier wird Anarchie als Willkürherrschaft des entfesselten (‚freien‘) Kapitalismus verstanden. Die politische Praxis des Anarchokapitalismus funktioniert ganz im Sinn der libertären Disruption, erzeugt also die Freiheit weniger Mächtiger durch die Gewalt gegenüber allen anderen, insbesondere gegenüber allen, die im Kapitalismus nicht nützlich sind, also wenig konsumieren können oder wollen.

Gleichzeitig benötigen die Unternehmen genau diese Menschen, die ihre Arbeitskraft billig zur Verfügung stellen müssen, um Gewinne und Macht, also das, was sie unter ihrer Freiheit verstehen, zu vergrößern.

Gegenöffentlichkeit und Alternativmedien: von Rechten gekapert

Wenn ich an der Uni Seminare zum Thema ‚Gegenöffentlichkeit und Alternativmedien‘ durchführe, fühlen sich die Studierenden sofort an rechte Hassmedien (nius, Compact, Junge Freiheit usw.) erinnert. Dabei entstanden Gegenöffentlichkeit und Alternativmedien aus der 68er-Bewegung und waren mit emanzipatorischen Ansprüchen verbunden: Medien sollten nicht mehr konsumiert, sondern produktiv genutzt werden, sie sollten nicht-hierarchisch, kollektiv organisiert und nicht auf Gewinn ausgerichtet sein, sie sollten sich für emanzipatorische Politik einsetzen, also alles Eigenschaften, die wir mit der GWR verbinden.

Auch Umdeutungen von Wörtern können dazu benutzt werden, ursprüngliche Bedeutungen umzuleiten und für einen anderen Zweck einzusetzen und sie damit zu verderben

Rechtsextreme Alternativmedien sind auch alternativ zum Mainstream, aber sie sind inhaltlich autoritär, sprachlich im hetzerischen Stil verfasst, meistens hierarchisch organisiert. Und finanziellen Reibach mit allerlei rechtem Propaganda-Material machen sie auch. Sie machen sich die sprachlich scheinbar inhaltsleeren Versatzstücke ‚Gegen‘ und ‚Alternativ‘ zu nutze. Dass historisch jedoch damit kein beliebiges Dagegensein gemeint war, sondern ein Streben nach Emanzipation, Partizipation, Freiheit, Anerkennung, geht durch die rechte Umpolung völlig verloren. Plötzlich erscheinen alle Alternativmedien nur noch gegen den bürgerlichen Mainstream zu sein, sodass sich die GWR in der gleichen Kategorie wiederfindet wie Compact. Hier muss also in öffentlichen Debatten immer wieder verdeutlicht werden, dass alternativ nicht gleich alternativ ist, dass es auf die inhaltliche Qualifizierung ankommt, um konkrete Medienorgane bewerten zu können.

„Graswurzelbewegung“

Am schlimmsten ist es, wenn man sich sprachlich der eigenen Sache sicher ist und Wörter benutzt, die eindeutig definiert zu sein scheinen. Dass ausgerechnet ‚Graswurzelbewegung‘ sprachlich umgepolt werden kann, geht an den Kern eines modernen anarchistischen Selbstverständnisses. Leider ist also noch nicht einmal dieser Begriff vor Missbrauch geschützt (vom Copyright will ich in anarchistischen Kreisen lieber nicht reden). Unter dem merkwürdigen Namen „Astroturfing“ wird eine Propagandatechnik verstanden, die Graswurzelinitiativen nachahmt, aber politischen Zwecken von staatlichen Einrichtungen oder Unternehmen dienen, also strategisch manipuliert werden. Dabei werden zur Teilnahme an Demonstrationen Menschen dafür eingekauft, dass sie für eine Meinung auf die Straße gehen, die nicht von ihnen selbst kommt. Damit soll der Anschein erweckt werden, dass sich Basisinitiativen für diese Meinung einsetzen.

Der Ausdruck „Astroturfing“ geht auf eine US-Firma zurück, die Kunstrasen zum Beispiel für Sportfelder produziert, der täuschend echt wie biologisch gewachsener Rasen aussehen soll. Dies beschreibt den Zweck der manipulierten Graswurzelinitiativen ziemlich gut: Hier wird nicht nur Politik von unten simuliert, sondern auch der hohe Glaubwürdigkeitsbonus von Menschen, die für ihre Interessen auf die Straßen gehen, ausgenutzt. Es sind also Herrschaftsinteressen, denen man nicht ansieht, dass sie von den Mächtigen kommen, weil sie scheinbar von der Basis artikuliert werden. Mittlerweile kommt das Astroturfing nicht mehr so plump daher, dass es gleich enttarnt und als verdeckte Herrschaftsinteressen erkannt wird. Auf Social-Media-Plattformen werden scheinbare Basiskampagnen durchgeführt, oft sogar völlig automatisiert (mit sogenannten Bots), um die Reichweite und Wirkung der Botschaft zu verstärken(3).

Solche Manipulationen von öffentlicher Meinung durch Vortäuschung authentischer Meinungsbildung sind sowohl in der bürgerlichen Öffentlichkeit als auch für soziale Bewegungen ein Problem, weil sie langfristig die Glaubwürdigkeit der Anliegen sozialer Bewegungen untergraben können – die Demonstrationen könnten ja gefälscht oder vorgetäuscht sein. Soziale Bewegungen sind aber immer auch auf die Resonanz in bürgerlichen Massenmedien und in der bürgerlichen Öffentlichkeit angewiesen, um ihre Ziele zu verbreiten.

Graswurzelbewegung und Basisinitiativen sollten also ein Interesse haben, solche herrschaftsgesteuerten Trittbrettfahrer zu enttarnen und zu diskreditieren, um nicht bei politisch weniger erfahrenen Menschen mit ihnen verwechselt zu werden.

Ausblick

Ich will nicht bei einer resignativen Betrachtung der sprachlichen Enteignung und Verwirrung stehen bleiben. Zugegeben, bei einigen sprachlichen Verirrungen ist es zwecklos, sie korrigieren zu wollen, weil sie so tief ins Alltagssprachliche eingesickert sind. Dazu gehört das Begriffspaar „Chaos und Anarchie“. Sollte jemand in einem Gespräch diese Formulierung achtlos verwenden, kann man die betreffende Person darauf hinweisen, wie unsinnig sie ist. Im besten Fall löst man damit einen produktiven Prozess des Nachdenkens aus, aber die Macht der Gewohnheit lässt sich nicht so leicht aushebeln.

Selbst die taz, die zwar selbst keineswegs anarchistisch ist, aber zumindest aus dem Umfeld von sozialen Bewegungen heraus entstanden ist, benutzt dieses Begriffspaar immer wieder, ob absichtlich oder nicht, ist dabei völlig egal. In anderen Fällen ist eine sprachliche Gegenwehr unbedingt nötig: Weder darf ‚libertär‘ mit durchgeknallten Turbokapitalisten gleichgesetzt werden, noch darf „Anarcho“ mit „Kapitalismus“ kombiniert werden. Hier sehe ich gute Chancen für eine aufklärerische Argumentation, weil die jeweiligen Vertreter dieser irreführenden Begriffsverwendungen ideologisch leicht entlarvt werden können.

Vielleicht kann man die Kritik daran auch gut nutzen, um gleichzeitig klarzustellen, was ein emanzipatorisches Verständnis von ‚libertär‘ oder ‚anarchistisch‘ ist oder sein kann. Auch wenn es ein wenig nach abgehobenem Philosophieren klingt, aber eine Auseinandersetzung mit dem Freiheitsverständnis kann gerade bei der Benutzung dieser Wörter ganz praktisch und anschaulich aufzeigen, wie verlogen sie umgedreht und manipuliert werden können. Ebenfalls nicht ignorieren darf man die Strategie des Astroturfing. Zwar muss dann nicht mehr der Begriff ‚Graswurzelbewegung‘ gegen seine Scheinverwendung verteidigt werden, weil es für diese Pseudobedeutung bereits den kritischen Gegenbegriff des Astroturfing gibt. Aber die dahintersteckende politische Praxis sollte in anarchistischen Kreisen und sozialen Bewegungen bekannt sein, um sie wirksam bekämpfen zu können.

Die manipulativen Herrschaftsinteressen, die von einer vorgetäuschten ‚Graswurzelbewegung‘ propagiert werden, sollte man allerdings in aufklärerischen Flugblättern, Posts, bei Demos usw. so wenig wie möglich erwähnen, auch nicht kritisch, damit sich nicht die manipulierten politischen Ziele einprägen. Denn dies hat die kommunikationswissenschaftliche Forschung zur Aufdeckung von Fake News leider als Ergebnis gebracht: Wenn man Fake News als falsch bezeichnet, sie widerlegt und sie dabei wiederholen muss, um ihre Falschheit nachzuweisen, prägt sich dummerweise eher der Inhalt der Fake News ein als der Inhalt der Widerlegung. Aber so wie man mit Sprache manipulieren kann, so kann man mit ihr auch aufklären. Es kommt auf das Wie an.

(1) Die „Logik“ solcher Ideologien, ihre Nähe zum Rechtsextremismus und die dahinterstehenden Kräfte werden in zwei Artikeln von Christian Jakob (Das mächtige Netzwerk der Milliardäre, in: taz vom 15. März 2025, Extrarubrik Superreichtum ist der Vater aller Probleme, S. III) und Lukas Franke (Lustvolle Zerstörung, in: wochentaz vom 10.-16. Mai 2025, S. 40) anschaulich beschrieben.
(2) Stephan Ruderer: Ein Anarchist an der Macht? Der Wahlsieg des extrem rechten Javier Milei in Argentinien, in: GWR 485, Januar 2024, S. 1 und 9.
(3) In einem ausführlichen Artikel erläutert Olaf Pallaske 2022 auf der Seite Netzpolitik.org, wie mit Astroturfing die öffentliche Meinung manipuliert wird (https://netzpolitik.org/2022/digitales-astroturfing-wie-unser-diskurs-manipuliert-wird/). Auch die NGO Lobbycontrol hat sich kritisch mit dem Phänomen auseinandergesetzt und Beispiele dokumentiert (https://lobbypedia.de/wiki/Astroturfing).

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

Wir freuen uns auch über Spenden auf unser Spendenkonto.