Die seit über zehn Jahren vorangetriebene Deregulierung des portugiesischen Wohnungsmarktes treibt Menschen an den Rand der Existenz und führt zu einer Elitisierung der kulturellen Landschaft. Das Wohnen in der Innenstadt Lissabons können sich viele nicht mehr leisten. Der Widerstand gegen diese Entwicklung ist bunt, doch auch politische Projekte haben mit steigenden Mieten und gekündigten Mietverträgen zu kämpfen. Aus diesen Gründen kauft das anarcho-kulturelle Zentrum Disgraça nun die Räume, die das Kollektiv schon seit zehn Jahren mit politischen Debatten, solidarischen Events, lauten Konzerten und dem Gefühl von Gemeinschaft und Widerstand belebt.
Spekulation und Wohnraumpolitik in Lissabon
In Portugal sind die Lebenshaltungskosten bereits vor der Pandemie und dem Krieg in der Ukraine stark gestiegen. Die Inflationsrate für Lebensmittel lag dort 2022 bei 12,99 Prozent und 2023 bei 10,04 Prozent. Konkret bedeutet das, dass viele Lebensmittel in portugiesischen Supermärkten ähnlich teuer oder teurer sind als in Deutschland. Damit hält der Anstieg der Löhne nicht Schritt. Der Mindestlohn für eine Vollzeitstelle in Portugal ist von 485 Euro im Jahr 2014 schrittweise auf 820 Euro brutto im Jahr 2024 gestiegen, nachdem er zuvor aufgrund der europäischen Sparauflagen im Rahmen der Troika-Politik mehrere Jahre lang eingefroren war. Dieser Anstieg auf fast das Doppelte in zehn Jahren ist, gemessen an den Ausgaben, zu wenig.
Vor allem macht aber vielen Menschen der extreme Anstieg der Mieten stark zu schaffen. Die Deregulierung des Immobilienmarktes in den Jahren zwischen 2009 und 2012 führte zur Abschaffung von Mietpreisbindungen. Auch steuerliche Anreize für Renovierungen wurden vom sozialen Zielen entkoppelt. Diese Liberalisierung, die Touristifizierung des Landes und Goldene Visa (1) sind drei von vielen Faktoren, die Investor*innen aus dem In- und Ausland angezogen haben. In den letzten Jahren wurde Lissabon zudem zu einem beliebten Ziel sogenannter digitaler Nomad*innen, die sich dort mit ihrem Einkommen aus reicheren Ländern niederlassen. Das im Oktober 2022 eingeführte D-Visum, reduzierte Steuern und eigens auf diese Zielgruppe fokussierte Agenturen (2) erleichtern ihnen die Ankunft.

Die Wohnungspolitik und der Tourismus sind dabei politisch umkämpft. Mit einem Volksbegehren wurde immerhin erreicht, dass die Stadt Lissabon im Frühjahr 2025 die Anmeldung neuer Ferienunterkünfte in vielen Stadtvierteln gestoppt hat. Die Initiative hatte einen Volksentscheid für die Stadt Lissabon gefordert. Dieser wurde allerdings vom Verfassungsgericht abgelehnt. Die Begrenzungen in kritischen Stadtvierteln stellen einen Kompromiss dar. Doch die Maßnahme kommt ein Jahrzehnt zu spät und ändert nichts mehr daran, dass beispielsweise im Stadtteil Santa Maria Maior 68,8 Prozent aller Wohnungen touristisch genutzt werden (3). Im Zentrum Lissabons ist die Zahl der Tourist*innen doppelt so hoch wie die der Einwohner*innen (4).
Diese Veränderungen sind beim Gang durch die Stadt spürbar. Traditionelle Nachbarschaftskneipen werden nach und nach durch hippe Bars ersetzt und die Preise steigen um ein Vielfaches. Veranstaltungen und Konsum werden zum Luxus, wodurch der Lebensstandard sinkt und das Sozialleben leidet. Für viele Menschen ist dies bitter. Schon etwa 2017 war zu beobachten, dass Menschen, die ihr ganzes bisheriges Leben in der Hauptstadt verbracht hatten, sich die Mieten dort nicht mehr leisten konnten und gezwungen waren, in kleinere Städte zu ziehen. Der durchschnittliche Mietpreis in Portugal stieg von 4,30 Euro pro Quadratmeter im Januar 2015 auf 16,30 Euro im September 2024 (5). In Lissabon stiegen die Preise bei Neuvermietungen allein im Jahr 2022 um 36,9 Prozent (6) – ein Anstieg der noch deutlich über den Preissteigerungen in Madrid, Barcelona oder Mailand liegt. Und es ist kein Ende dieser Preisentwicklung in Sicht. Neuerdings werden viele Mietverträge nur noch für ein Jahr abgeschlossen, um im Anschluss die Miete beliebig erhöhen zu können. So wundert es nicht, dass junge Menschen in Portugal erst mit durchschnittlich 33,6 Jahren ihr Elternhaus verlassen – so spät wie in keinem anderen europäischen Land (7).
Der vielleicht anarchistischste Raum in Lissabon dürfte Disgraça sein. Im September 2015 öffnete das kulturelle Zentrum, das mit etwa 1000 m² auf vier Ebenen Raum für viele Aktivitäten bietet
Zunehmende Spekulation führt zu einer Immobilien- und Mietpreisblase. Die portugiesische Politik scheint sich dabei mehr für ausländische Investitionen zu interessieren als für das Wohl der Menschen, die in Portugal leben – eine Entwicklung, die auch eine Folge der Troika-Jahre ist. Der Staat dereguliert den Markt, setzt Programme zur Förderung von Investitionen auf und vertreibt Menschen aus klandestinen Siedlungen am Stadtrand, die viele Jahrzehnte geduldet waren. Die Wohnungsknappheit führt zu einem weiteren Preisanstieg. Dort wo dennoch eine Politik für mehr Wohnraum betrieben wird, ist diese investor*innenfreundlich. So wird etwa Wohnungsbau gefördert, Mietbeihilfen gewährt und Vermieter*innen, deren Miete unter einem bestimmten Wert liegt, sind von der Steuer befreit. An der grundsätzlichen Situation ändern diese Maßnahmen wenig, zumal in Lissabon 48.000 und in ganz Portugal 750.000 Wohnungen leer stehen.
Auch gegen Hausbesetzungen, die bis vor kurzem oft geduldet waren, wird insbesondere in Lissabon und Porto zunehmend härter vorgegangen. Der Übergang von verspäteten Mietzahlungen zu Besetzungen ist hier fließend und steigende Lebenshaltungskosten verschärfen das Problem. 2023 stiegen die Anträge auf Zwangsräumungen um 17 Prozent (8) und ein weiterer Anstieg wird erwartet (9). Zudem weitet die spanische Firma Desokupa (9) derzeit ihren Aktionsradius auf Portugal aus (10). Das Unternehmen, das Ex-Polizist*innen, Ex-Militärs, private Sicherheitskräfte und Rechtsextreme beschäftigt, führt Räumungen in privatem Auftrag durch, operiert in einer rechtlichen Grauzone und ist für die Anwendung von Gewalt bekannt.
Lebendiger politischer Widerstand
Gegen diese Entwicklungen formieren sich seit geraumer Zeit Proteste und an den Wohnraumdemos der letzten Jahre nahmen Tausende teil. 2015 protestierten Aktivist*innen von Stop Demolições (11) gegen den Abriss der klandestinen Viertel Santa Filomena und Bairro de 6 de Maio in Amadora (12). Sie stellten sich den Abrissfahrzeugen entgegen und begleiteten die Bewohner-*innen solidarisch und teils auch juristisch. Die bis heute aktive Gruppe Habita (13) leistet ähnliche Arbeit. Gruppen wie Casa Para Viver (14), Habitação Hoje (15) und Stop Despejos (16) organisieren Solievents, Diskussionsveranstaltungen und Proteste rund um Wohnraum, Gentrifizierung und Touristifizierung.
Die Gruppe „Parar o Hotel no Quartel da Graça“ hat eine Petition gegen die Einrichtung eines fünf-Sterne-Hotels in der historischen Kaserne im Altstadtviertel Graça ins Leben gerufen. Die Initiative schlägt stattdessen eine Nutzung des Gebäudes als Nachbarschaftszentrum vor (17) und hält ihre Versammlungen bewusst im öffentlichen Raum ab, um Nachbar*innen den Zugang zu erleichtern.
Am 15. Juni 2025, dem südeuropäischen Aktionstag gegen Touristifizierung (18), und wenige Tage nach dem Feiertag des Sankt Antonius, dem Stadtheiligen von Lissabon, begleitete die Gruppe augenzwinkernd eben jenen Heiligen, der „aus seiner Kirche vertrieben wurde“, da in Lissabon „nicht einmal mehr die Heiligen vor Räumungen sicher sind“, zur Kaserne, die ein mögliches Zuhause werden könnte.
Bedrohte Zentren des Widerstandes
Gruppen wie die genannten nutzen kulturelle und politische Zentren, um sich zu organisieren, Materialien zu lagern oder auszuleihen und Veranstaltungen durchzuführen. Doch auch darüber hinaus sind politische Orte in der aktuellen Situation besonders essentiell. Sie sind der Ausgangspunkt politischer und ökologischer Kämpfe, bieten Raum für praktische Solidarität und wirken nicht zuletzt der Elitisierung des kulturellen Angebots entgegen.
Allerdings haben diese Projekte und Zentren haben selbst mit den Auswirkungen der Touristifizierung und der steigenden Immobilienpreise zu kämpfen. Im folgenden einige Beispiele:
2023 wurde Sirigaita (19), ein kulturelles Zentrum und Plattform für viele politische und solidarische Gruppen, der Mietvertrag gekündigt. Nachdem der Investor keine Bereitschaft zeigte, in irgendeiner Form zu verhandeln, verweigerte Sirigaita im Februar 2024 die Schlüsselübergabe und startete die Widerstands-Kampagne „não se despeja um desejo” (man kann ein Verlangen nicht vertreiben).
Im Mai 2025 stattete die Stadtverwaltung Lissabons dem kulturellen Zentrum RDA69 (20), das seit 2010 existiert, einen Spontanbesuch ab und entfernte Fahrradständer und Blumenkübel vor dem Projekt. Ironischerweise wurden selbige Fahrradständer vor einigen Jahren in Kooperation mit der Stadt angebracht und durch öffentliche Mittel finanziert. Aber nun passen sie offenbar nicht mehr in eine Stadt, die ordentlich aussehen und Kapital anziehen soll. Auch die bemalte Fassade und das mit Aufklebern beklebte Tor ließ die Stadtverwaltung ohne Absprache mit der Organisation oder deren Vermieterin überstreichen.
Der selbstverwalteten Kneipe Zona Franca (21) wurde 2024 nach zwölf Jahren der Mietvertrag gekündigt. Auf das Angebot des Kulturvereins, der die Kneipe betreibt, in Zukunft deutlich mehr Miete zu zahlen, reagierte die Vermieterin ablehnend (22).

Einige weitere Projekte mussten bereits schließen oder befinden sich im Kampf. Aktivist*innen sehen einen „dringenden Bedarf an gesicherten Räumen“. Dies wird auf verschiedene Weise und in Solidarität untereinander versucht.
Antiautoritäre Räume über den Hügeln von Lissabon
Der vielleicht anarchistischste Raum in Lissabon dürfte Disgraça (23) sein. Im September 2015 öffnete das kulturelle Zentrum, das mit etwa 1000 m² auf vier Ebenen Raum für viel bietet (24): Zahllose Konzerte, Filmabende, Lesungen, Debatten ziehen immer wieder ein großes Publikum an und unterstützen auch politische Kämpfe anderer Gruppen. Auch Lesekreise und kleinere Gruppen nutzen die Räume. Der Sportraum steht allen Gruppen offen, die ihn gemeinschaftlich und unkommerziell nutzen wollen – sei es für Yoga, Kampfsport oder Shibari. Der DIY-Montag lädt wöchentlich zum Basteln, Nähen und Upcyclen ein. Und Donnerstags gibt es seit Jahren eine KüfA (Küche für Alle). Disgraça versteht sich als „Laboratorium für antiautoritäre Praktiken“. In der oft chaotischen horizontalen Organisierung ist das Lernen und Experimentieren ein wichtiger Teil. Genauso wichtig sind Solidarität und der Widerstand gegen Staat und Kapital.
Wer das international vernetzte Zentrum über das Erdgeschoss betritt, kann im Buch- und Infoladen Tortuga stöbern. Die darunter liegenden drei Stockwerke werden auch liebevoll Katakomben genannt. Im Treppenhaus befindet sich der wahrscheinlich einzige Verschenkeladen Lissabons. Es gibt eine Werkstatt, einen Siebdruckraum und einen Proberaum für Bands. Dank der Hügellage befindet sich im zweiten Untergeschoss eine große Außenterrasse. Im dazwischen liegenden Stockwerk hat das viel ältere Bibliotheksprojekt BOESG (25) eine neue Heimat gefunden.
Der 2015 für zehn Jahre abgeschlossene Mietvertrag war im Verhältnis zu heute sehr günstig. Trotzdem erlebte die Gruppe das Aufbringen der Miete immer wieder als Belastung. Mit einem neuen Vertrag und heutigen Mietpreisen könnte das Zentrum nicht weiter betrieben werden. Deshalb entschieden sich die Aktiven im März 2024 für den Kauf der Räume und starteten eine Kampagne, um die notwendigen 275.000 Euro über Crowdfunding, Soliveranstaltungen und Direktkredite zusammenzubringen. „Krass, ist das viel Geld“, sagten sie. Aber auch: „Wir wollen diese Räume für immer dem Immobilienmarkt entziehen.“
Als im September 2024 167.000 Euro zusammengekommen waren, unterschrieben sie einen Vorvertrag und zahlten eine Anzahlung von zehn Prozent, um den Kauf abzusichern. Solikonzerte in Paris, Leipzig, Berlin, Frankfurt, Amsterdam, Prag und vielen weiteren europäischen Städten halfen, kleine und mittlere Beträge beizusteuern. Im Sommer 2025 waren fünf in Disgraça beheimatete Bands in zwei Solitouren quer durch Europa unterwegs. Privatpersonen spendeten oder gaben zinslose Darlehen.
„Die Solidarität, die wir erhalten haben, ist bewegend“, erzählt ein Aktiver aus dem Kollektiv. „Neulich bekamen wir eine Nachricht aus Mexiko. Dort haben Leute von uns gehört und spontan eine Soliveranstaltung organisiert. Sie haben uns 1.000 Euro überwiesen.“
Bis Oktober 2025 müssen noch weitere 40.000 Euro aufgebracht werden und anschließend sind weitere Einnahmen notwendig um Darlehen zurückzuzahlen.
Der Kauf des Gebäudes wird die Wohnraumkrise in Lissabon nicht beenden. Aber er ist wichtig, um einen Freiraum solidarischen Miteinanders und politischen Widerstandes zu erhalten. Die Sicherung dieser Räume steht auch für die Kämpfe vieler weiterer Kollektive in Lissabon und Porto.
(1) Bei den sogenannten Goldenen Visa handelt es sich um eine Möglichkeit für Nicht-Europäer*innen, durch Investition von mindestens 500.000 Euro in Immobilien in Portugal einen Wohnsitz zu erhalten.
(2) Arte-Dokumentation aus dem Jahr 2022 zu diesem Thema: https://www.fernsehserien.de/arte-re/folgen/996-der-ausverkauf-von-lissabon-altstadt-ohne-einheimische-1607537
(3) Quelle: https://shorttermrentalz.com/news/lisbon-alojamento-local-neighbourhood-ban/
(4) Quelle: https://www.theguardian.com/world/2023/jul/29/portugals-bid-to-attract-foreign-money-backfires-as-rental-market-goes-crazy
(5) Quelle: https://www.idealista.pt/media/relatorios-preco-habitacao/arrendamento/
(6) Quelle: https://pt.casafari.com/wp-content/uploads/2023/01/CASAFARI-Report-Q4-2022-Lisbon.pdf
(7) Quelle: https://www.reuters.com/world/europe/young-portuguese-defer-dreams-housing-crisis-bites-2023-03-21/
(8) Quelle: https://www.idealista.pt/news/imobiliario/habitacao/2024/02/26/62940-despejos-de-casas-arrendadas-pedidos-dos-senhorios-sobem-17-num-ano
(9) https://de.wikipedia.org/wiki/Desokupa
(10) Quelle: https://www.idealista.pt/news/imobiliario/habitacao/2025/05/20/69770-despejos-ilegais-mp-investiga-empresa-espanhola-anti-okupas
(11) https://www.facebook.com/stopdemolicoes/
(12) Nachdem ihre selbst gebauten Häuser über Jahrzehnte geduldet gewesen waren, sie Strom- und Wasseranschlüsse erhalten hatten und Steuern zahlten, wurden die dort lebenden meist migrantischen Menschen geräumt und ihre Häuser abgerissen.
(13) https://habita.info/
(14) https://www.casaparaviver.pt/
(15) https://www.habitacaohoje.org/
(16) https://stopdespejos.wordpress.com/
(17) Quelle: https://www.dn.pt/local-geral/moradores-da-gra%C3%A7a-querem-uso-comunit%C3%A1rio-de-quartel-em-vez-de-constru%C3%A7%C3%A3o-de-hotel-de-cinco-estrelas
(18) Quelle: https://www.noticiasaominuto.com/pais/2806150/manifestantes-saem-a-rua-contra-a-turistificacao-em-lisboa-as-imagens
(19) https://sirigaita.org/
(20) https://rda69.net/
(21) https://zonafrancazonalibertada.wordpress.com/
(22) Quelle: https://www.timeout.pt/lisboa/pt/noticias/mais-uma-associacao-prestes-a-perder-a-casa-zona-franca-dos-anjos-tem-de-sair-ate-ao-fim-do-ano-110424
(23) https://disgraca.com/
(24) Das Video zur Crowdfunding-Kampagne gibt einige Einblicke: https://videos.coletivos.org/w/jJe94Ct4hoWiu3EJvfK9Xu
(25) https://boesg.blogspot.com/
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.