Tuğsal Moğul wurde 1969 in Neubeckum geboren und wuchs als Sohn türkischer Migrant*in-nen im Münsterland auf. Er ist Arzt, Regisseur, Schauspieler und Theaterautor. Mit seinem Stück „Auch Deutsche unter den Opfern“ hat er auf erschütternde Weise die Geschichte der NSU-Morde nachgezeichnet. Die neofaschistische Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) ermordete von 2000 bis 2007 neun Menschen aus rassistischen Motiven und eine Polizistin. Tuğsal Moğuls Theaterstück „And Now Hanau“ beschäftigt sich intensiv mit dem Anschlag in Hanau, bei dem am 19. Februar 2020 neun Menschen von einem Neonazi aus rassistischen Motiven ermordet wurden. Im Gespräch mit GWR-Praktikantin Relana Waldner und GWR-Redakteur Bernd Drücke beschreibt er seine Auseinandersetzung mit Migration, Rassismus und Neofaschismus. Außerdem geht es um gesellschaftliche Perspektiven jenseits von Nationalismus, Rassismus und Gewalt. Die Radio Graswurzelrevolution-Sendung (1) wurde im Bürgerfunk auf Antenne Münster ausgestrahlt und kann jetzt, inklusive Tuğsals Lieblingsmusik, online gehört werden. Wir veröffentlichen eine redigierte Kurzversion. (GWR-Red.)
Bernd Drücke: Ich habe mir mehrere Theaterstücke von dir angeguckt und bin begeistert. Stell dich bitte mal vor.
Tuğsal Moğul: Ich bin Arzt, Anästhesist in einem Lehrkrankenhaus, aber auch mit Leib und Seele Theatermacher. Ich schreibe Stücke, die ich dann meistens erst einmal selbst inszeniere und die dann auch bundesweit von anderen Regisseur*innen inszeniert werden.
Relana Waldner: Wie ist es dazu gekommen, dass du diese unterschiedlichen Berufe parallel ergriffen hast. Wie erlebst du das Zusammenspiel dieser beiden Welten? Gibt es da Synergien, aber auch Herausforderungen?
Tuğsal: Ja, ich habe nach dem Abitur relativ schnell einen Studienplatz in Medizin gekriegt, was untypisch war, weil mein NC eigentlich gar nicht so gut war. Ich hatte ein Abi von 1,8, was zwar gut ist, aber eigentlich nicht so gut für ein Medizinstudium.
Aber da ich damals nur den türkischen Pass hatte, habe ich mich direkt bei den Unis in Deutschland bewerben dürfen. Ich habe mich dann damals in den 80ern unter vielen anderen in Deutschland als „Ausländer“ bewerben müssen. Mich hat man in den gleichen Topf geworfen wie Leute z. B. aus Afrika oder aus Südamerika, obwohl ich mein Abi in Beckum/ Westfalen gemacht habe. Das habe ich nicht verstanden, aber auf der anderen Seite habe ich so einen Studienplatz gekriegt.
Seit meinem 14. Lebensjahr habe ich immer wieder auf der Bühne gestanden und mich fürs Theater begeistert. Ich wusste zwar noch nicht, wie man damit Geld verdient, fand es aber wunderbar. Das Interesse und auch die Lust hat nie nachgelassen. Ich finde, beide Berufe haben Schnittpunkte. Es geht immer um Menschen. Wir beschäftigen uns mit Biografien, mit Lebensgeschichten. Das hat mich schon immer interessiert. Wie kommen Krankheiten zustande? Was ist in der Gesellschaft der Grund für diese Krankheiten? Prinzipiell hat so eine Narkose oder Anästhesie ja nichts mit einem Theaterstück zu tun. Aber für mich hat das einen Sinn ergeben. Ich bin froh, dass ich diesen Spagat all die Jahre machen konnte. Beide Berufe gehören mittlerweile zu meiner DNA.
Relana: Du hast angefangen, erst als Schauspieler zu arbeiten. Wie ist es dann dazu gekommen, dass du auch Regisseur geworden bist?
Tuğsal: Das war nach der Schauspielschule. Nachdem ich mit dem Medizinstudium begonnen hatte, habe ich mich zweieinhalb Jahre später an einer Schauspielschule beworben, in Hannover an der Hochschule für Musik und Theater. Dort habe ich die Aufnahmeprüfungen beim ersten Versuch bestanden. Nach der Schauspielschule habe ich auf mehreren Bühnen als Gastschauspieler mitgewirkt, war aber nie festes Ensemblemitglied. Die deutschen Bühnen waren damals auf der Suche nach Schauspieler*innen mit Migrationsgeschichte, um die Lücken für Rollen zu schließen, die dem Klischee entsprachen. Wir mussten diese Lücken füllen. Das heißt, auch wenn ein Klassiker auf dem Spielplan stand, musste ich z. B. einen Moslem spielen, so auch bei der Jungfrau von Orleans von Schiller. Ich musste einen muslimischen Kämpfer spielen, der der Jungfrau im Kampf begegnet. Steht zwar so nicht bei Schiller, aber das waren damals gängige Regieideen. Ich habe das gerne gemacht, nicht hinterfragt. Aber irgendwann hat mich das genervt, dass ich mich fast immer nur mit diesen Rollen zeigen konnte und nicht einen ganz gewöhnlichen deutschen Ralf oder Jörg spielen durfte. Auch einen Arzt hätte ich gerne mal im Theater oder auf der Leinwand gespielt. Es gab aber keine Angebote. Ich war immer der, der entweder die Leute verprügelt oder selber eins auf die Fresse kriegt.
Bernd: Ich möchte eine persönliche Geschichte erzählen. Meine Liebste, mit der ich seit 1990 zusammen lebe, ist in Kurdistan geboren und unsere Söhne liegen elfeinhalb Jahre auseinander. Unser Ältester war in den Nullerjahren in Münster Schüler am Gymnasium, zu der Zeit war er in seiner Klasse der Einzige mit Migrationsgeschichte. Er hat viel Rassismus erlebt. Bei unserem Jüngsten war das weniger krass, sein Gymnasium war international und stärker migrantisch geprägt. Da hatte sich also eine Menge getan zwischenzeitlich. Aber jetzt hat der Rassismus auch hier wieder stärker Fuß gefasst. Mein ältester Sohn lebt in Genf, war jetzt zu Besuch hier und ist dann beim Bäcker angemacht worden als „Scheiß Kanacke“. Die Rassisten trauen sich wieder ihr Gift zu verspritzen. Dabei war es uns schon geglückt, den Rassismus in dieser Stadt stark zurückzudrängen. Wie war das bei dir? Deine Eltern haben eine türkische Migrationsgeschichte. Wie war es, im konservativen Münsterland aufzuwachsen?

Tuğsal: Ja, es ist sehr konservativ gewesen, ich hatte auch meine Erlebnisse. Ich kann von zwei Erinnerungen berichten, die mich geprägt haben in der Zeit. Ich war in Beckum auf einer evangelischen Grundschule. Es gab zwei Klassen: Klasse A und Klasse B. In der Klasse A waren nur Arbeiter*innenkinder und ausländische Kinder, mit einer Einwanderungsgeschichte, unter anderem ich. In der Klasse B waren Beamten- und Akademikerkinder. Das war 1977. Wir wurden schon in der ersten Klasse getrennt. In der vierten Klasse gibt es dann immer die Überlegung, für welche weiterführende Schule man vorgeschlagen wird. Bei meiner Schule war schon vorher geklärt worden, dass aus der Klasse A die Kinder nur entweder auf die Haupt- oder die Realschule gehen. Es sollte keiner fürs Gymnasium empfohlen werden. Das war schon vorher festgelegt worden, so geplant, wie in einer Planwirtschaft. In der Klasse B waren die Beamten- und Akademikerkinder. Die wurden dann für die Realschule oder das Gymnasium eingeteilt. Keiner von denen kam auf die Hauptschule. Ich war der Einzige in meiner Klasse, der gesagt hat, ich möchte aber aufs Gymnasium. Dann gab es Lehrerkonferenzen, die haben bei der Entscheidungsfindung lange gebraucht und dann meine Eltern angerufen. Meine Eltern mussten unterschreiben, dass sie die Verantwortung für diese Veränderung übernehmen. Ich habe dann auf eigene Verantwortung mit zehn, elf Jahren entschieden, aufs Gymnasium zu gehen. Es war zwar nicht einfach mit der deutschen Sprache, meine Muttersprache ist ja Türkisch, ich habe damals noch viele Fehler beim im Deutschen gemacht. Meine Deutschlehrerin, das ist meine zweite Erinnerung, meine Klassenlehrerin hat mich immer mit meinem Vornamen schikaniert. Die hat mich sechs Jahre lang Tugsal genannt, obwohl sie wusste, dass ich Tuğsal heiße und das weiche „ğ” nicht wie ein „g“ ausgesprochen wird, sondern nur der Vokal vorher, bei meinem Namen das „u“ gedehnt wird. Die erste Generation hat es richtig schwer gehabt, also meine Eltern. Aber die zweite Generation hat es ein wenig leichter gehabt. Ich war einer der wenigen, die ausländische Wurzeln hatte und Abitur in Beckum machen konnte. Wir wurden positiv hervorgehoben: „Guck mal, ein Türke hat Abitur gemacht, ein türkischer Junge. Bravo!“ Das war schon auch irgendwie skurril. Wir hatten Lehrer, die Hälfte waren Alt-68er, also junge Lehrer damals in den 80er Jahren. Und die anderen waren noch Alt-Nazis oder die, die die Nazizeit erlebt haben und dann noch weiter als Lehrer gearbeitet haben.Viele haben uns damals noch ihre Wehrmachtsgeschichten erzählt, wie sie z. B. London angegriffen haben oder als Wehrmachtssoldaten angegriffen wurden. Das sind meine Lehrer gewesen. In so einer Zeit waren wir damals immer noch. Die haben wir noch mitgekriegt, diese Lehrer, dieses Kollegium.
Bernd: Gruselig.
Tuğsal: Absolut.
Relana: Deine Projekte zeichnen sich durch intensive Recherchearbeit aus. Du arbeitest oft mit Betroffenen zusammen, wie zum Beispiel auch beim Stück „And Now Hanau“, das 2023 uraufgeführt wurde. Es setzt sich mit dem rassistischen Anschlag in Hanau und dem massiven Behördenversagen während und nach der Tat auseinander. Das Stück prangert auch das Versagen von Polizei, Justiz und Politik an. Es gibt den Opfern sowie ihren Angehörigen eine Stimme. Wie bist du bei der Erarbeitung des Stückes vorgegangen? Was war besonders an der Recherche und auch bei der Zusammenarbeit mit den Angehörigen? Wie kam es zu den besonderen Aufführungsorten, zum Beispiel im Landgericht?
Tuğsal: Ich bin ein Jahr nach dem Anschlag emotional darauf aufmerksam geworden, weil ich einen Film von Marcin Wierzchowski gesehen habe, der dann auch die Ausstattung gemacht hat für unser „And Now Hanau“-Stück. Das war ein Dokumentarfilm, der lief in der ARD und hieß „Hanau – Eine Nacht und ihre Folgen“. Dieser Film hat mich emotional nochmal sehr bewegt, mich erneut kalt erwischt, obwohl ich mich schon über Jahre mit den NSU-Morden beschäftigt hatte. Ich habe meinen Bruder gefragt, der arbeitet u. a. beim WDR und macht auch Dokumentarfilme, ob ich mit ihm zum ersten Jahrestag nach Hanau fahren kann. Damals hat er für die Redaktion „Monitor“ einen Beitrag gemacht.
Ich habe mich bei den Dokumentaraufnahmen einfach in der Initiative 19. Februar, da gibt es diesen Laden 19. Februar, ganz abseits hingesetzt und erst mal nur zugehört. Denn immer zum 19. Februar gab es damals einen Riesenauflauf von Journalist*innen, die berichten wollten. Deshalb habe mich in die Ecke gesetzt und nur zugehört. Ich fühlte, es ist einfach zu früh. Ein Jahr nach so einem rechtsextremen Anschlag ist man noch sehr traumatisiert. Und dann kam ja noch die Pandemie dazwischen. Ich habe zwei Jahre gebraucht, um dieses Stück zu schreiben. Ich bin immer wieder hingefahren, habe dann peu à peu Kontakt aufgenommen mit den einzelnen Angehörigen, habe mich mit ihnen unterhalten, ihr Vertrauen bekommen, war bei vielen Veranstaltungen dabei, die sie gemacht haben. Z. B. in Frankfurt wurde auch die starke Ausstellung „Three Doors“ von Forensic Architecture gezeigt. Sie haben mir dann ihre Geschichten anvertraut beziehungsweise habe ich die Geschichten auch aus verschiedenen Berichten und Interviews gesammelt. Vor Beginn der Proben habe ich dann alle gefragt, ob sie mit dem Skript einverstanden sind. Ich habe allen noch mal das Skript vorgelegt oder das, was ich mit ihnen besprochen habe. Sie haben das dann bestätigt oder gesagt: „Das bitte nicht.“
Diese Tatsachen der neuen deutschen Zeitgeschichte müssen immer wieder erzählt werden, es muss in alle Geschichtsbücher, was passiert ist: Mölln, Solingen, die NSU-Morde, Hanau etc., das ist ein Teil Deutschlands.
Es war eine enge Beziehung zu den Angehörigen in der Erarbeitung dieses Stückes, was ich bis dato noch nie so gemacht hatte. So nah sein und sie, die Angehörigen, so mit ins Boot holen, das war mir wichtig. Das ist erfreulicherweise aufgegangen, so dass wir bei den Ruhrfestspielen unsere Uraufführung zeigen konnten. Das war eine Produktion vom Theater Münster und Theater Oberhausen mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen. Die Angehörigen waren da, saßen in der ersten Reihe mit den Bildern ihrer ermordeten Angehörigen. Nach der Premiere gab es nicht so einen richtigen Applaus, was es sonst am Theater gibt, sondern man lag sich weinend in den Armen. Das war sehr berührend für alle, die an dem Tag mit dabei waren. Ich war froh, dass es genau dem entsprach, was die Angehörigen erhofft hatten. Dann sind wir mit „And Now Hanau“ bundesweit losgezogen und haben für die Vorstellungen Orte aufgesucht, wo die Judikative, die Exekutive oder die Legislative in Deutschland, was die Aufarbeitung angeht, versagt haben. Deshalb haben wir in vielen Städten, in Rathäusern, Landgerichten und im Frühjahr 2025 auch im Kanzleramt in Berlin gespielt. „And Now Hanau“ wird weiter gespielt. Ich habe das Stück am Stadttheater Mainz nochmals inszeniert. Eine Theaterhaus-Stuttgart-Inszenierung gibt es auch, die ein anderer Regisseur gemacht hat, aber mit dem bin ich im engen Kontakt. Wir kriegen viele Anfragen von antifaschistischen Vereinen, Städten und Kulturinitiativen. Ich hoffe, dass das noch mehr werden. Theater hat einen anderen Zugang zu diesem Thema als ein Film, ein Buch oder eine Zeitung.
Bernd: Du hast dich stark mit Migration, Rassismus und Neofaschismus auseinandergesetzt. Vor zehn Jahren habe ich dein Stück über den NSU hier im Theater gesehen. Das war erschütternd, auch, wenn man sich vor Augen führt, was da passiert ist. Jetzt gibt es trotz dieses Wissens einen extremen Rechtsrutsch, die AfD hat zugelegt, der Rassismus macht sich wieder breit, Nazis haben Zulauf. Wie ist dein Fazit nach zehn Jahren „Auch Deutsche unter den Opfern“?
Tuğsal: Eigentlich war „Auch Deutsche unter den Opfern“ die Blaupause für „And Now Hanau“. Es hat ja nicht aufgehört und so fängt auch das zweite Stück an. Es hört einfach nicht auf. Damals, 2015, als das Stück „Auch Deutsche unter den Opfern“ uraufgeführt wurde, das hat mich nochmals verstärkt aufgerüttelt. Ich war schon immer politisch unterwegs, aber nicht so. Die NSU-Morde waren für mich eine Zäsur. Bis dahin habe ich es nicht so krass gedacht. Aber was da passiert ist, nach der Aufdeckung der NSU-Morde, wie viel der Verfassungsschutz da falsch gearbeitet hat und wie viele Fehler, wie viel Versagen da Raum eingenommen haben, hat mich fassungslos gemacht.
Ich war 13 Tage beim NSU-Prozess in München dabei, für „Auch Deutsche unter den Opfern“ habe ich mehrere Monate recherchiert. Im Oberlandesgericht München habe ich mit eigenen Augen gesehen, dass viele Zeug*innen nichts gesagt haben, wo doch klar war, dass nicht nur dieses Trio, sondern ein ganzes Netzwerk beteiligt war, dass dieses Netzwerk schon immer ziemlich groß in Deutschland unterwegs ist und dass die Mitglieder viele Menschen weiter infizieren mit ihrem Rechtsgedankengut und mit dem Faschismus. Das hatte größere Dimensionen. Es stimmt, was man dem Staat vorwirft. Der deutsche Staat war all die Jahre auf dem rechten Auge blind. Was den deutschen Rechtsextremismus angeht, hätte man den Verfassungsschutz komplett nach der Wiedervereinigung abschaffen können. Der Verfassungsschutz hat eher alles schlechter und schwieriger gemacht, als irgendwie gegen den Neofaschismus zu helfen. An diesen Rechtsstaat zu glauben, das fällt mir nach den NSU-Morden schwer. Wenn jetzt Leute aus Hanau sagen, sie rufen nicht mehr die 110 an, weil sie nicht sicher sind, was dann auf sie zukommt, ob sie nochmal Opfer werden, dann kann ich das gut nachvollziehen.
Relana: Ich kann mir vorstellen, dass du auch selbst heute noch mit Anfeindungen zu tun hast. Ist das so? Wie nimmst du die Veränderungen im gesellschaftlichen und politischen Klima der letzten Jahre wahr, was das angeht?
Tuğsal: Direkt Anfeindungen gegen mich, dass ich selber körperliche Gewalt erlebt hatte, ist mir zum Glück nicht passiert.
Ich bin aber froh, dass diese Themen jetzt im Spielplan der verschiedenen Theater gezeigt werden. Wir leben in Münster, einer gesättigten Stadt, wo eigentlich von allem viel ist. Man hat das Gefühl, hier gibt es keine Probleme. Wenn man jetzt zum Beispiel nach Dortmund fährt und aus dem Bahnhof aussteigt, da ist das anders. Es reicht schon, wenn man 50 Kilometer außerhalb von Münster ist. Aber in Münster haben wir auch Probleme. Warum habe ich das Stück hier gemacht? Weil ich hier wohne. Ich hätte es auch in Berlin oder gerade in diesen schwierigen Städten machen können oder sollen. Wir waren auch mal in Zwickau. Dort sind wir angegriffen worden. Da gab es das Festival „Unbekannte Nachbarn“, wir waren eingeladen mit meinem Theaterstück „Auch Deutsche unter den Opfern“. Das Festivalbüro wurde mit Steinen beworfen und wir hatten eine Security, um überhaupt ins Theater reinzukommen und dort zu spielen. Da gab es viele, die drin waren, die antifaschistisch unterwegs waren und uns unterstützt haben. Große Teile der Zwickauer Bevölkerung wollten uns nicht. Einen Tag zuvor gab es eine Pegida-Kundgebung. Wir hatten unser Hotel da und dort auch echt ein bisschen Angst. Aber in Münster, Frankfurt und Hanau ist uns das nicht widerfahren. Da ist schon eine gute Mobilisierung. Aber ich sage immer, Hanau ist so lange interessant in den Köpfen, so lange das in ihrer Umgebung ist. Wenn du Leute in Flensburg fragst, was in Hanau war, dann werden die sagen: „Das war das mit der Synagoge, oder?“ Dann sagst du: „Nee, das war Halle.“
„Ach so, stimmt, ja, habe ich ganz vergessen.“
Die Leute wissen es nicht mehr und das ist erschreckend, das geht verloren. Ich glaube, allein diese Theaterstücke, Bücher, Ausstellungen, auch Radiosendungen, das hält das aufrecht, dass wir das nicht vergessen, was da passiert ist. Diese Tatsachen der neuen deutschen Zeitgeschichte müssen immer wieder erzählt werden, es muss in alle Geschichtsbücher, was passiert ist: Mölln, Solingen, die NSU-Morde, Hanau etc., das ist ein Teil Deutschlands. Wie die Öffentlichkeit damit umgeht, diese selektive Wahrnehmung, das ist erschreckend. Auch wenn man sieht, wie über Aschaffenburg und Magdeburg geredet wird und dann, wie über Hanau geredet wurde. In Hanau gedenken sie und nach Aschaffenburg handeln sie, die Politik, die Justiz, die Exekutive. Das sagt die Bundesregierung ganz öffentlich.
Im Kanzleramt gab es eine Situation, wo man das Gefühl hatte: Okay, wir haben das Stück „And Now Hanau“ hier spielen dürfen. Es war toll, gleichzeitig war das ein enormer Druck von allen Seiten. Wir durften nicht viel machen, wir sollten nur das Stück zeigen und schnell wieder weg. Es wurde keine Öffentlichkeit eingeladen. Die Veranstaltung war nur an die Mitglieder der Verwaltung des Kanzleramtes gerichtet, also nur für die, die im Bundestag oder im Kanzleramt arbeiten.
Aber wie gesagt, Gewalt an mir selber, ich habe mich mal gestritten, auch mit Nazis, aber ich bin nie verprügelt worden, zum Glück.
Relana: Eine wichtige Arbeit, die Ihr mit solchen Stücken macht.
Bernd: Ja, großartig. Hast du ein Schlusswort? Was möchtest du jungen Leuten, die jetzt diese Sendung hören, mit auf den Weg geben?
Tuğsal: Ich freue mich mega, dass bei uns gerade auch im Theater das Publikum so jung ist. Wir erreichen auch 16-, 17-, 18-, 19-, 20-Jährige. Ich finde es toll, dass es diese Bewegung gibt, dass junge Leute diese Themen im Theater sehen wollen. Als zivile Gesellschaft brauchen wir die Energie, um immer wieder den Finger in die Wunde zu legen. Ich hoffe, dass das viele tun, dass wir dann auf die Straßen gehen, uns überall zu Wort melden und aktiv werden. Das wünsche ich mir für unsere ganze Gesellschaft.
Relana und Bernd: Herzlichen Dank!
(1) Die 55-minütige Radio Graswurzelrevolution-Sendung mit Tuğsal Moğul wurde im medienforum münster produziert und am 30. Juli 2025 im Bürgerfunk auf Antenne Münster erstausgestrahlt. Sie ist, inklusive der von Tuğsal Moğul ausgesuchten Musikbeiträge, abrufbar in der Mediathek bei NRWision: https://www.nrwision.de/mediathek/radio-graswurzelrevolution-tugsal-mogul-arzt-und-theaterautor-250730/
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.