Desertion ist für den Journalisten Rolf Cantzen schon seit einiger Zeit ein Thema. Zuerst produzierte er einige Radiofeatures dazu. Seine dreistündige „Lange Nacht der Deserteure“ wurde mehrmals im Deutschlandfunk gesendet und bekam 2024 zu Recht den Alternativen Medienpreis. Nun ist sein Buch „Deserteure – Die Geschichte von Gewissen, Widerstand und Flucht“ erschienen. An die 200 Staaten stehen in Konkurrenz zueinander. Sie schützen sich und ihre Grenzen. Das Militär und Bündnisse sind dabei die zentralen Mittel, um Interessen, Einfluss und Macht zu signalisieren. Krieg wird nicht nur angedroht, sondern ist latent einkalkuliert. Auch in sogenannten demokratischen Staaten ist die Armee eine totale Institution. In ihr werden Bürger*innen zum Teil einer uniformen Mordmaschine, zu Untertanen und Befehls-empfänger*innen dressiert. Egal, ob jemand sich freiwillig, wegen Geld oder Überzeugung dorthin begibt, über die Militärdienstpflicht oder einfach von der Straße weg einkassiert wird: Es gibt insbesondere im Krieg aus ihr kein legales Entrinnen (1). Es gab aber immer auch Soldaten, die die Ausbildung zum Töten, den Drill, den ausgeübten Terror, und erst recht im Krieg das vom jeweiligen politischen Regime verordnete Menschenabschlachten nicht mehr mitmachen wollten. Es ging gegen ihre Würde, gegen das Gewissen. Anhand der Geschichte zeigt Rolf Cantzen das Los von Kriegsdienstverweigerern, Befehlsverweigerern, Militärdienstentziehern, Selbstverstümmlern, Meutererern, Deserteuren und Überläufern. Spätestens im Kriegsfall wurden und werden sie vom Staat unerbittlich verfolgt, gefoltert, hingerichtet. Ob das inzwischen weltweit anerkannte Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung eine tatsächliche Barriere dagegen darstellt, ist nicht erwiesen, denn Staaten verfügen und entscheiden darüber. Soldaten bräuchten eine eigene Entscheidungsbefugnis, Befehle zu verweigern und die Armee notfalls auch legal verlassen zu können. Deserteure würden wohl kaum den Begriff Held für sich in Anspruch nehmen – und auch nicht den des (politischen) Widerstands. Aber: Sie lehnen den jeweils konkreten Krieg ab, wollen nicht mehr mitmachen, sorgen sich um das eigene Leben, sind solidarisch mit Menschen, nicht nur auf der eigenen Seite. Sie sind bereit, selbst unter Lebensgefahr, die Armee und damit den Krieg zu verlassen. Wegen der staatlichen Verfolgung ist es gerechtfertigt, sie zu ehren. Rolf Cantzen hat die inzwischen durchaus umfangreiche Literatur zu diesem Thema ausgewertet und beschreibt nachvollziehbar und eindrücklich die Situation der Fahnenflüchtigen und ihre unterschiedliche Behandlung im Laufe der Geschichte, wobei er den Schwerpunkt auf die Desertion in Deutschland während des Zweiten Weltkrieges legt. Die Schilderung von Fällen, Rechtsvorschriften und Auslegungen, Militärjustiz ergänzen die Gesamtschau. Während nach 1945 die früheren Militärrichter das Bild einer „sauberen Wehrmacht“ propagieren konnten und weiter ungehindert Karriere machten – keiner von ihnen musste je ins Gefängnis –, galten Deserteure weiter als Vaterlandsverräter, Drückeberger, Eidbrüchige, Feiglinge. Als Vorbestrafte wurden sie aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Es dauerte bis 2002, bei „Überläufern“ sogar bis 2009, bis sie ihre Rehabilitierung durchsetzen konnten. Das konnte nach Rolf Cantzen nur gelingen, „weil der NS-Staat ein Unrechtsregime und der von ihm geführte Vernichtungs- und Angriffskrieg ‚völkerrechtswidrig’“ gewesen sei. Seine Folgerung: „Der Staat hat ein Recht, seine Staatsbürger zu rekrutieren, um sie zu zwingen, in einem Krieg einen Feind zu töten und sich auch töten zu lassen. (…) Wenn jeder das Recht hätte, sich davonzumachen, wenn es ihm opportun erscheine, wäre das das Ende eines planbaren militärischen Vorgehens. Der Staat reklamiert für seine Staatsbürger eine Zwangsmitgliedschaft, die der Einzelne nicht nach Belieben aufkündigen kann.“ Rolf Cantzen beschreibt nicht nur die Geschichte deutscher Deserteure, sondern blickt auch auf die anderen, am Zweiten Weltkrieg beteiligten Staaten. Zum Beispiel erwähnt er, dass in der Sowjetunion 157.000 Soldaten wegen sogenannter Militärdienstvergehen hingerichtet wurden und dass es im Spanischen Bürgerkrieg zu Hinrichtungen auch auf republikanischer Seite kam. Wenn auch mit Unterschieden, aber im Wesen sind sich alle gleich, ausdrücklich auch die „für die Freiheit kämpfenden“ Armeen. Der Autor lehnt die politisch motivierte Instrumentalisierung in „gute“ und „schlechte“ Deserteure ab, anhand der in den Westen geflohenen Deserteure aus der DDR und den auch nicht gerade wenigen aus NATO-Staaten in die DDR. Als der Ukrainekrieg begann, konnte man in einer Wiener Zeitung lesen, dass auffallend viele chic gekleidete Männer mit SUVs und ukrainischem Nummernschild vor den Nobelherbergen zu sehen seien. Die Nomenklatura weiß ihre Söhne in Sicherheit zu bringen. Kämpfen soll der gemeine Mann. Dieser soll bereit sein, sein Leben für das Vaterland hinzugeben. Durch ein solch unterwürfiges Verhalten würde er zu einem „richtigen Mann“, gar zum Helden. Aber nicht alle wollen zu Befehlsempfängern und Untertanen degradiert werden. Sie wehren sich ihrer Haut, zum Beispiel mit Desertion. Danke, lieber Rolf Cantzen, für dieses hervorragende Werk. Gerade in einer Zeit, in der sich Deutschland anschickt, „kriegstüchtig“ zu werden und die Wiedereinführung der Militärdienstpflicht, perspektivisch auch für Frauen, ansteht, ist das Buch „Deserteure“ von unschätzbarem Wert.
(1) Wie die Situation in Deutschland aussieht, kann man anhand des Wehrstrafgesetzes studieren. Wie es um das höchste Gut des Menschen, das eigene Leben, bestellt ist, macht zum Beispiel § 5 deutlich: „Furcht vor persönlicher Gefahr entschuldigt eine Tat nicht, wenn die soldatische Pflicht verlangt, die Gefahr zu bestehen.“ Für Fahnenflucht, also Desertion, sieht § 16 eine Höchststrafe von fünf Jahren Gefängnis vor. Dies bereits in der sogenannten Friedenszeit.
Lesungen mit Rolf Cantzen:
Connection e.V. bereitet mit Rolf Cantzen zu seinem Buch eine Lese-Rundreise ab 1. Dezember 2025 vor. Weitere Infos: https://de.connection-ev.org/article-4552 Radiosendung zum Buch: https://www.sr.de/sr/srkultur/radio/sendungen_a-z/uebersicht/fragen_an_den_autor/20250713_rolf_cantzen_deserteure_fragen_an_den_autor_100.html