Eine Geschichte mit dem Rang einer Staatsaffäre

Die Gewerkschafterin Maureen Kearney im Räderwerk der Atommafia

| Eichhörnchen

Caroline Michel-Aguirre Die Gewerkschafterin. Im Räderwerk der Atommafia edition einwurf, Rastede 2025, 221 S., 22 Euro, ISBN 978-3-89684-727-0

„Die Gewerkschafterin“ liest sich wie ein Thriller. Dieses Buch der Journalistin Caroline Michel-Aguirre basiert nicht auf Fiktion, sondern auf der wahren Geschichte der AREVA-Gewerkschafterin Maureen Kearney. Eine Geschichte mit dem Rang einer Staatsaffäre. Ein Tatsachenroman, der uns tief n die Abgründe und Seilschaften einer französischen Schlüsselindustrie blicken lässt. Er wurde aus dem Französischen von Eva Stegen wunderbar übersetzt. Wer ein Plädoyer gegen die Atomkraft erwartet, wird enttäuscht. Die Hauptfigur ist keine Atomkraftgegnerin, sie kämpft für die Interessen der Belegschaft und einen erfolgreichen Industriezweig, den Glanz der französischen Atomindustrie in der Welt. Das Buch liefert zugleich gute Gründe, Atomkraftgegner*in und Antikapitalist*in zu sein. Der Begriff „Atommafia“ wurde zurecht gewählt. Die Hauptfigur ist Maureen Kearnay, eine in Frankreich lebende Irin. Sie unterrichtet Englisch für Arbeiter*innen der Atomindustrie. Getragen von ihrer Empörung über Ungerechtigkeiten, die der Belegschaft widerfahren, wird sie zur Gewerkschafterin, zur europäischen CFDT-Vertreterin der AREVA Belegschaft. Sie besitzt ein großes Adressbuch mit Kontakten bis in die Chefetagen der Politik. Das nützt ihr, um die Interessen der Belegschaft auf EU-Ebene zu verteidigen. Sie bekommt Wind von einem geheimen Vertrag zwischen AREVA und einem chinesischen Unternehmen und versucht ihre Kontakte zu aktivieren, um das geheime Abkommen zu stoppen. Sie befürchtet einen Technologietransfer und langfristig Nachteile für die Beschäftigten. Das missfällt den Chefs der Atomindustrie, das Räderwerk setzt sich ins Rollen. Am Morgen des 17.12.2012 erlebt sie einen sexuellen Übergriff in ihrer Wohnung. Was folgt ist eine Täter-Opfer-Umkehr. Der gute Draht von AREVA-Chef Oursel zu den Ermittlungsbehörden scheint ausschlaggebend für die Lenkung der Ermittlungen in eine bestimmte Richtung: Maureen Kearnay bildet sich alles ein. Sexismus gehört zum Räderwerk der Atommafia. Gesellschaftliche Vorurteile helfen dabei. Frau ist hysterisch, Frau bildet sich Dinge ein, Frau lügt. Einmal diese Gerüchte in die Welt gesetzt, hilft auch kein gut gefülltes Adressbuch mehr. Die Gewerkschafterin wird wegen angeblich falschen Behauptungen angeklagt. Das Buch lässt hautnah die Prozesse in erster und zweiter Instanz miterleben. Die Justiz ist eine Walze, die auf Kearney zurollt. Die Strafkammer in erster Instanz glänzt mit Befangenheit. Der Freispruch erfolgt erst in der Berufung, dank der Unterstützung einer renommierten Kanzlei, bezahlt durch die Gewerkschaft, die immer zu ihr stand. Arbeiter*innen erschienen zahlreich zur Unterstützung. Der Freispruch erfolgt 2018 dank der Entdeckung von Ungereimtheiten und Fehlern in der Ermittlungsakte (seltsames Verschwinden von DNA-Proben) und Verstoßes gegen die Denklogik. Die Gewerkschafterin kann sich die Verletzung nicht selbst zugefügt haben, sie kann sich nicht selbst gefesselt haben. Der autoritäre Führungsstil von EDF-Chef Proglio, der den Deal mit China mit auf die Beine stellte, begleitet uns durch das Buch. Sowie ein (Zu)Fall, der zum Nachdenken anregt. Proglio, ein Vertrauter des ehemaligen Präsidenten und wegen Korruption verurteilten Nicolas Sarkozy, war Chef von Veolia, bevor er zur EDF wechselte. Der Konzern herrscht ebenfalls über eine Schlüsselindustrie (u.a. Gas). Während seiner Präsidentschaft im jeweiligen Konzern, ereigneten sich zwei ähnlich gelagerte Fälle. Ein Angestellter, der der strategischen Orientierung des Veolia-Konzerns widersprach, wurde gefeuert, weil er störte. Seine Ehefrau wurde kurz darauf, in ähnlicher Art und Weise wie später Maureen Kearney, Opfer eines sexuellen Übergriffes. Der Betroffenen wurde nicht geglaubt. Das Verfahren gegen die unbekannten Täter wurde sang- und klanglos eingestellt. Kein Tatverdacht gegen Dritte. Die Botschaft ist klar: Wer mächtige Interessen stört, wird beseitigt. Zur Not mit mafiösen Mitteln. Die Gewerkschafterin „stört“ nicht mehr, sie hat sich zurückgezogen. Der Deal mit China ist unter Dach und Fach, die hoch verschuldete AREVA aufgelöst, der Atomsektor neu strukturiert. Die Schulden und die Gefahren der Atomindustrie trägt die Allgemeinheit.