Magische Haut

| Maurice Schuhmann

Rolf Cantzen Magische Haut. Eine Reliquienverschwörung Alibri Verlag, Aschaffenburg 2024, 289 S., 18 Euro, ISBN 978-3865694034

Im Christentum beginnt das Jahr traditionell am 1. Januar, was nach historischer Überlieferung der Tag der rituellen Beschneidung des Säuglings Jesus Christus war. Im Judentum wird ein Junge am 8. Tag nach seiner Geburt beschnitten. Das ist der sogenannte Bund mit Gott, der auf den Stammvater Abraham zurückgeht.
Die Vorhaut von Gottes Sohn selber wurde zu einer eigenen Reliquie im Christentum – dem sanctum praeputium. Wie auch im Falle anderer Reliquien, etwa dem Leichentuch Christi oder von Splittern der Lanze, mit der Christus am Kreuz von einem Soldaten verletzt wurde, gibt es häufig mehr als eine Reliquie bzw. mehr als für eine Reliquie möglich wäre. Im Falle der angeblichen Vorhaut vom Gottessohn waren es zeitweilig gar 13 Reliquien, die für sich beanspruchten, die Vorhaut des Gottessohnes zu sein. Auch wurde der Ring um den Saturn als eine zum Himmel gefahrene Vorhaut des Gottessohnes rezipiert. (Kein Witz!)
Für einen Atheisten wie mich klingt das alles sehr suspekt, aber es ist genau der richtige Stoff für den atheistischen Autor Rolf Cantzen, dazu einen humoristischen und religionskritischen Roman zu verfassen. Der besondere Clou dabei ist, dass vieles mehr als man denkt, den realen Tatsachen entspricht.
Der Roman entspinnt sich in mehreren, zeitlich weit auseinander liegenden Erzählsträngen, in deren Zentrum stets die Reliquienverehrung für jene Vorhaut steht – sei es im Jahr 1489, 1527 oder 1990. Im Jahr 1990 geht es dann im zentralen Strang um eine Reliquienverschwörung, die an die Anfälligkeit von Teilen der Bevölkerung an moderne Esoterik anknüpft. Zentraler Akteur ist ein dem Opus Dei nachempfundener Geheimbund, dem es um die Reaktivierung des Reliquienglaubens und damit um eine erneute Stärkung der Macht der Kirche geht.
Eine sehr gute Passage über diesen Reliquienglaube ist die folgende Aussage von dem fiktiven Professor Angendt: „Die Vorhaut erklärt sich ganz einfach: Jesus ist auferstanden, hat seinen ganzen Leib mitgenommen. Aber bei seiner Beschneidung: Die Vorhaut. Ist er mit der Vorhaut in den Himmel gefahren oder nicht? Ohne Vorhaut. Und da hatte man die Vorhaut als Leibreliquie, die einzige. Ausgefallene Zähne, die gab es auch noch. Und Haare. Aber die waren nicht so beliebt. Daraus entwickelte sich eine regelrechte Vorhauttheologie.“
Mit einer gewissen Schadenfreude thematisiert Cantzen auch einen anderen Aspekt: „Für christlichen Antijudaismus, der fließend übergeht in den rassistischen Antisemitismus, bedeutet eine auf der Erde zurückgelassene Vorhaut ein schweres Handicap. Wie soll man frisch und fromm antijüdisch und antisemitisch agieren, wenn vom Himmel ein vorhautloser Gott hinunterschaut, dessen unten zurückgebliebene Vorhaut immer wieder an seine jüdische Herkunft erinnert?“
Ein Anknüpfungspunkt für den hier persiflierten Reliquienkult ist dabei die Wahnvorstellung, dass diese Reliquien eine besondere, meist heilende Wirkung hätten. Wie bei vielen Reliquien dachte man, dass eine Berührung dieser Reliquie zur Fruchtbarkeit beisteuern oder Wunden heilen würde.
Wiederholt greift er in den späteren Erzählsträngen auch auf eigene Erfahrungen als Schüler am katholischen Internat in Hautrup zurück, über welches er bereits 2012 die eigene Geschichtensammlung „Ich bin hinter dir. Katholische Internatsgeschichte“ beim Alibiri-Verlag veröffentlicht hat. Diese wird auch direkt erwähnt. Das Thema sexueller Missbrauch, das sich durch seine Widmung für die Opfer eines solchen bereits am Anfang des Bandes findet, bleibt im Roman selber nur ein Randthema.
Die Geschichte ist gut recherchiert und sehr faktenreich, aber neigt manchmal deswegen auch zu kleineren Längen. Die Idee, diesen Stoff zu einem Roman zu verarbeiten, ist eine gute Sache und erlaubt es, den einen oder anderen eher trockenen Fakt in einer ironischen Art und Weise zu verpacken. Ich könnte mir den Stoff gut für ein Radiofeature vorstellen und bin von der Form des Romans nicht 100%ig überzeugt.