gegen das vergessen

Der lange Schatten des deutschen Kolonialismus

Ein Gespräch mit dem deutsch-namibischen Politikwissenschaftler Henning Melber

| Interview: Bernd Drücke und Markus Beinhauer

BeitragMelber
Bernd Drücke, Henning Melber, Markus Beinhauer (v.l.n.r.) im medienforum münster.

Den meisten Menschen dürfte kaum bekannt sein, dass das Deutsche Kaiserreich von 1884 bis 1914 das viertgrößte überseeische Kolonialreich der Welt war. Henning Melbers Buch „Der lange Schatten des deutschen Kolonialismus“ kann dazu beitragen, die Wissenslücken zu schließen. Es ist im Oktober 2025 in deutscher Übersetzung im Unrast Verlag erschienen. Der Politikwissenschaftler und Soziologe Dr. Henning Melber wurde 1950 in Stuttgart geboren. Als jugendlicher Auswanderer kam er mit Mutter und Bruder nach Südwestafrika/Namibia, wo er 1974 der Befreiungsbewegung SWAPO (South-West Africa People’s Organisation) beitrat. Nach der Unabhängigkeit leitete er ein politikberatendes Forschungsinstitut. Aus Enttäuschung über die Grenzen der Befreiung wechselte er 2000 nach Uppsala, wo er Forschungsdirektor des Nordic Africa Institute und Direktor der Dag Hammarskjöld Foundation war. Er ist außerordentlicher Professor an der Universität Pretoria und der Uni des Freistaats in Bloemfontein. Im Gespräch mit Bernd Drücke und Markus Beinhauer geht es um den deutschen Kolonialismus, Solidarität und Utopien jenseits von Herrschaft, Militarismus und Gewalt. Die 65minütige Radio-Graswurzelrevolution-Sendung, inklusive der ungewöhnlichen, von Henning Melber ausgesuchten und kommentierten Musik, wurde am 30. Oktober 2025 auf Antenne Münster gekürzt erstausgestrahlt und kann ungekürzt in der NRWision-Mediathek (1) gehört werden. Wir veröffentlichen Auszüge aus dem Gespräch in nahezu unverändertem Originaltext. (GWR-Red.)

Bernd Drücke: Gestern hast du dein neues Buch „Der lange Schatten des deutschen Kolonialismus“ in Essen vorgestellt. Heute Abend stellst du es in der Volkshochschule Münster vor. Was kannst du uns zum Inhalt erzählen? Wie war deine gestrige Lesung und was erwartet uns heute Abend?

Henning Melber: Es ist formal betrachtet ein fachwissenschaftliches Buch, also 60 Seiten Anmerkungen und viele Literaturhinweise. Es ist, hinter dieser Fassade, ein sehr persönliches Buch, was ich auch vorab erkläre. Es ist meine Beschäftigung mit dem, was meine eigene Identität mitgeformt hat und von dem ich unterstelle, dass es subkutan in den Identitäten aller Deutschen vorhanden ist, auch wenn es nicht auf der Ebene des Bewusstseins stattfindet. Es ist kein geschichtliches Thema. Es ist ein Thema der Gegenwart und entsprechend sind die Inhalte. Sie fangen an mit einer Selbstreflexion, mit einem Bilanzieren der aktuellen Situation, gehen dann über auf die Gewaltgeschichte seit der Aufklärung, die in Völkermord gipfelte. Dabei betone ich auch, dass es kein eurozentrisches Gewaltmonopol geblieben ist, sondern Völkermord auch in anderen Teilen der Erde inzwischen stattfindet, wie also aus Unterdrückten Unterdrücker werden. Das geht dann in eine ausführlichere Beschreibung der deutschen Kolonien über, um dann zu schildern, wie der Kolonialismus im Deutschen Kaiserreich sich ausprägte, schon mit ausdrücklichem Verweis auf Afrikanerinnen und Afrikaner in Deutschland, die für mich immer zum Teil des Narrativs gehören. Dann leite ich über zur NS-Zeit und dem Kolonialismus. Danach geht es um die Bearbeitung beziehungsweise Verdrängung des deutschen Kolonialismus in den beiden deutschen Staaten DDR und Bundesrepublik. Danach dann, ab der 1990er Jahre, geht es um die zunehmende Sensibilisierung von Teilen der Gesellschaft dank postkolonialer Initiativen, dank neuerer kolonialhistorischer Forschungen, nicht zuletzt dank afro-deutscher Initiativen, um die Erinnerung an den deutschen Kolonialismus in seiner Bedeutung auch für die Gegenwart in das öffentliche Bewusstsein zu bringen. Das wird dann anhand des Beispiels Deutschland und Namibia vertieft, wo im Moment ja die Verhandlungen über die Anerkennung des Völkermords seit 2015 immer noch laufen. Sie enden dann in einer aktuellen Bilanzierung, die ein Sowohl-als-auch abwägt, wir haben es nämlich vermocht, uns in den öffentlichen Diskurs einzubringen und werden konfrontiert mit einem Backlash, nämlich dieser rassistischen White Supremacy, die um sich haut im Moment. Ich versuche dann etwas zweckoptimistisch zu argumentieren. Wir haben etwas erreicht, denn wir haben diesen weißen Rassisten Angst gemacht, deswegen schlagen sie so um sich. Ich gebe zu, dass es etwas hilft, sich zu behaupten. Ob es dann wirklich stimmt, das müsste man noch abwarten, aber das ist so ungefähr die Quintessenz des Buches. Zu der deutschen Übersetzung, die nicht in meiner Sprache ist, eine interessante Erfahrung: Ich lese einen Text von mir in der Sprache eines Übersetzers, dessen intellektuelles Eigentum diese Übersetzung ist. Das ist nicht meine Sprache und ich habe darauf verzichtet, das abzugleichen. Ob ich das so oder anders formuliert hätte? In vielen Nuancen hätte ich es vermutlich anders formuliert. Ich habe zu diesem Buch noch ein aktuelles Kapitel auf dem Stand von August 2025 ergänzt, um auch jetzt die Entwicklungen in dieser neuen Koalitionsregierung nochmal aufzugreifen. Die Vorstellung gestern in Essen war ausverkauft. Die Buchhandlung Proust hatte Tickets angeboten. Die Buchhandlung war mit 50 bestuhlten Plätzen überfüllt, 20 Leute waren zugeschaltet. Es war, was die Engländer „preaching to the converted“ nennen. Zumindest hat sich niemand zu erkennen gegeben, der oder die völlig anderer Meinung wäre. Ein Schwerpunkt, was mir besonders gut gefallen hat, lag durch ein Co-Referat einer Wissenschaftlerin aus Hagen auf postkolonialen Initiativen im Ruhrgebiet, so dass auch Teile der Diskussion sich eigentlich damit beschäftigten: Wie geht man diesem Thema in der Region zu Leibe? Heute Abend mache ich es mit René Aguigah zusammen. Das ist schön. Mit ihm zusammen hatte ich schon in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin vor fast genau einem Jahr das 2024 erschienene englische Buch „The Long Shadow of German Colonialism. Amnesia, Denialism and Revisionism“ vorgestellt. Damals waren es über 100 Leute, die kamen. Ich bin gespannt, wie viele es heute Abend sein werden. [Anm. der GWR-Red.: Es kamen über 160 Teilnehmer*innen].

Bernd: Ich freue mich auch auf die Musik, die du heute für uns ausgesucht hast. Was hören wir jetzt?

Henning: Als erstes eine kleine Provokation, zumindest war sie so gedacht, die aber einen sehr persönlichen Grund hat. Ich habe als Eröffnungslied, Zuhörerinnen und Hörer mögen staunen, Udo Jürgens gewählt, mit einem Lied von 1968, mit dem Titel „Ich glaube“. Das hat den folgenden Grund, dass Udo Jürgens 1969 in der Aula der Deutschen Höheren Privatschule in Windhoek zwei ausverkaufte Konzerte gegeben hat. Ich war damals in der Abiturklasse und konnte als Platzanweiser umsonst beide Konzerte hören. Udo Jürgens hat bei beiden Auftritten dieses Lied „Ich glaube“ gesungen, in dem eine Zeile vorkommt, die heißt: „Ich glaube, dass die Haut und ihre Farben den Wert nicht eines Menschen je bestimmt.“ In der Art, wie er es vortrug, wurde deutlich, dass er sich absolut bewusst war, dass er in einem Land der Apartheid diese Zeile vorträgt. An beiden Abenden gab es eine Person in der abgedunkelten Aula, die da spontan geklatscht hat. Das war für mich in beiderlei Hinsicht ein Beispiel von Zivilcourage, das mich seither sehr beeindruckt hat. Ich dachte, das sollte man auch denen zumuten, die vielleicht die Nase rümpfen bei dem Namen und sagen „bürgerlich liberal“. – Vielleicht, aber so what? Udo Jürgens hat bis zu seinem letzten Konzert „Ich glaube“ vorgetragen und ich zolle ihm dafür Respekt.

Bernd: Ja, dann hören wir mal rein.

„Ich glaube“ (Auszüge): „Ich glaube, dass der Acker, den wir pflügen // Nur eine kleine Weile uns gehört // Ich glaube nicht mehr an die alten Lügen // Er wär auch nur ein Menschenleben wert // Ich glaube, dass den Hungernden zu speisen // Ihm besser dient als noch so kluger Rat // Ich glaube, Mensch sein und es auch beweisen // Das ist viel nützlicher als jede Heldentat // Ich glaube, diese Welt müsste groß genug Weit genug, reich genug für uns alle sein // Ich glaube, dieses Leben ist schön genug Bunt genug, Grund genug sich daran zu erfreuen // Ich glaube, dass man die erst fragen müsste // Mit deren Blut und Geld man Kriege führt // Ich glaube, dass man nichts vom Krieg mehr wüsste // Wenn wer ihn will, ihn auch am meisten spürt // Ich glaube, dass die Haut und ihre Farben // Den Wert nicht eines Menschen je bestimmt // Ich glaube niemand brauchte mehr zu darben // Wenn auch der geben wird, der heut nur nimmt …“

Bernd: Ja, das war jetzt tatsächlich Udo Jürgens, das erste Mal bei Radio Graswurzelrevolution!

Henning: Überraschung!

Bernd: Also, das hätte ich nicht gedacht, das war ja wirklich auch antimilitaristisch, das war antirassistisch. Ich bin positiv überrascht.

Henning: Das war der gewünschte Effekt.

Bernd: 1974 bist Du in Namibia Mitglied der SWAPO geworden. Du warst über 50 Jahre aktiv in dieser Befreiungsorganisation und bist im Sommer 2025 ausgetreten. Kannst Du ein bisschen zur Geschichte der SWAPO erzählen? Warum bist du Mitglied geworden? Und warum bist du ausgetreten?

Henning: Die SWAPO war die antikoloniale Befreiungsbewegung für Namibia. Die gründete sich 1960. In dem Jahr, als wir nach Namibia auswanderten, hatte die SWAPO den bewaffneten Befreiungskampf aufgenommen. Als ich mit der Schule zu Ende war in Windhoek, war für mich Namibia die Heimat geworden. Um in einer Heimat ein Bleiberecht zu haben, muss man etwas dafür tun. Das war, auf eine Kurzformel gebracht, das entscheidende Motiv dafür, dass ich 1974 der SWAPO beigetreten bin, um mir sozusagen ein Recht zu erwerben, in diesem Land eine Zukunft zu haben. „Der Krieg formt seine Leute.“ Das war auch schon ein Thema ab und zu in der Graswurzelrevolution, auch von mir, und es ist nicht nur positiv zu verstehen. Ein bewaffneter Befreiungskampf hat das Potenzial, aus Opfern Täter zu machen, oder macht sie eigentlich auch zu Tätern, wenn der Befreiungskampf erfolgreich sein will. In der SWAPO gipfelte das in Menschenrechtsverletzungen
in den eigenen Reihen, die in den 1980er Jahren eskalierten, indem Tausende von SWAPO-Angehörigen im Exil inhaftiert wurden unter dem Verdacht und Vorwurf, für Südafrika zu spionieren. Unter Folter wurden Geständnisse abgepresst und andere belangt. Es gab nie eine auch nur halbwegs faire Güterabwägung, ob diese Vorwürfe zutreffend sind. Die meisten dieser Betroffenen waren einfache Flüchtlinge, wo man sagen würde: Was für ein Interesse hätte Südafrika an denen gehabt? Vermutlich waren die wirklichen Spione diejenigen, die Bestandteil waren dieser internen Repression. Das wurde mit der Unabhängigkeit bekannt und war für mich seither sehr belastend in meinem Bewusstsein, weil ich in der Situation darum wissend das zwar kritisiert habe, aber mich nicht in der Lage sah, deswegen aus der SWAPO auszutreten. Nach 14 Jahren Einreiseverbot hatte ich das Bedürfnis, nach Namibia zurückzukehren und, wie ich dachte, dazu beizutragen, dass wir wirklich die bessere Gesellschaft machen. Das erwies sich als Trugschluss und führte zehn Jahre danach dazu, dass ich vor Ort das Handtuch warf, aber in der SWAPO blieb, schon damals als einer der lautstarken Kritiker, aber immer unter Verweis, dass sich das als SWAPO-Mitglied tue, um zu unterstreichen, dass auch das eine SWAPO-Position ist.

Ein bewaffneter Befreiungskampf hat das Potenzial, aus Opfern Täter zu machen, oder macht sie eigentlich auch zu Tätern, wenn der Befreiungskampf erfolgreich sein will.

Ich kritisiere die ehemalige Befreiungsbewegung aufgrund der Werte, aufgrund derer ich Mitglied dieser Bewegung geworden bin. Nun starb im August 2025 Solomon Hawala, der sich den Namen „Schlächter von Lubango“ erworben hatte.   Das soll heißen, dass er der Oberkommandierende war, der verantwortlich war für die Folterungen, für die Hinrichtungen, für die elendige Behandlung der Gefangenen, der selbst hundertfach gemordet hat, der nach der Unabhängigkeit zum führenden Mann des Sicherheitsregimes wurde, der 2014 dann pensioniert wurde, sich zurückzog. Mit seinem Tod wurde all dieses wieder in der Öffentlichkeit wach, auch unter den hunderten Überlebenden, die sich an dieses Trauma immer noch erinnern und die nie rehabilitiert wurden. Ich schrieb daraufhin einen Meinungsartikel direkt am Tag danach und schlug vor, dass dies der Anlass sein sollte, endlich sich diesem Thema zu stellen, in einer adäquaten Form, in der Hawala eben auch als Schlächter von Lubango beigesetzt wird. Einen Tag später erklärte die Staatspräsidentin, die auch Präsidentin der SWAPO ist, dass Solomon Hawala aufgrund seiner Verdienste zum nationalen Helden posthum ernannt wird und ein Staatsbegräbnis erhält. Da gab es für mich keine Wahl mehr. Ich hab dann am nächsten Tag mein Rücktrittsschreiben an die SWAPO-Präsidentin, die zugleich Staatspräsidentin ist, und die Generalsekretärin der SWAPO gerichtet und hab damit geschlossen, dass ich sagte, ich bleibe unserem Slogan seit der Gründung der SWAPO treu, nämlich „Solidarity, Freedom, Justice“.

Bernd: Zu deiner Geschichte passt auch das Lied, was du jetzt für uns ausgesucht hast.

Henning: Ja, es ist sozusagen die englische, internationale Variante von „Ich glaube“, denn drei Jahre später hat John Lennon unter dem Titel „Imagine“ ausgedrückt, was Udo Jürgens vorher schon alles selbst vorgetragen hatte.

„Imagine“(Auszüge): Imagine there’s no heaven // It’s easy if you try // No hell below us // Above us only sky // Imagine all the people // Living for today // Imagine there’s no countries // It isn’t hard to do // Nothing to kill or die for // And no religion, too Imagine all the people // Living life in peace // You may say I’m a dreamer // But I’m not the only one // I hope someday you’ll join us // And the world will be as one // Imagine no possessions // I wonder if you can // No need for greed or hunger // A brotherhood of men // Imagine all the people // Sharing all the world // You may say I’m a dreamer // But I’m not the only one // I hope someday you’ll join us // And the world will live as one“

Bernd: Henning, du forschst seit Jahrzehnten zur Kolonialgeschichte Afrikas und insbesondere zum Genozid an den Herero und Nama, der während der deutschen Kolonialzeit in Namibia begangen wurde. Du hast viel dazu veröffentlicht, unter anderem auch in der Graswurzelrevolution. Viele Menschen haben wahrscheinlich von diesem Völkermord noch nichts gehört, weil das Thema nicht in den Medien oder im Schulunterricht präsent ist. Kannst du dazu etwas erzählen? 

Henning: Der Völkermord, der zwischen 1904 und 1908 in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika stattfand, war der erste des 20. Jahrhunderts und in den Kämpfen starben nach Schätzungen zwei Drittel der Ovaherero, Ovaherero ist die Pluralform von Herero, und ein Drittel der Nama, die damals als „Hottentotten“ verunglimpft wurden.   Als „Kollateralschaden“, wie das zynisch heißt, muss man die Damara dazu zählen und die San, die Buschleute, die sich allerdings weniger deutlich artikulieren, weil sie ihrer Agency noch drastischer beraubt wurden als Folge dieses Genozids, als die Nama und die Herero. Es ist wichtig, dass er selbst von der Bundesregierung seit 2015 als Völkermord mit dem rechtlich relevanten Zusatz „aus heutiger Perspektive“ eingestanden wird.

Markus Beinhauer: Es gibt zwischen Namibia und Deutschland seit vielen Jahren Verhandlungen bezüglich des Genozids. Und immer wieder gibt es die Kritik, dass die Opfergruppen der Herero und Nama dabei kaum eine Rolle spielen. Da würde mich Deine Einschätzung interessieren: Warum ist das so?

Henning: Es ist ein interessantes Beispiel dafür, dass bilaterale, staatliche Verhandlungen zwischen zwei Regierungen koloniale Asymmetrien reproduzieren können, auch auf der Seite der vermeintlichen Opfer, denn die namibische Regierung verhandelt mit dem Anspruch, demokratisch gewählt zu sein und alle Bevölkerungsgruppen zu vertreten. Dass aber der Völkermord ganz bestimmte Bevölkerungsgruppen betroffen hat und die Mehrheit der Bevölkerung nicht, weil die nicht in direkter Weise vom Kolonialismus betroffen war, die aber die Hauptbasis der SWAPO als Regierungspartei stellt, täuscht darüber hinweg, dass sozusagen die Belange der Nachfahren der damals hauptsächlich betroffenen indigenen Gemeinschaften ignoriert werden. Und sowohl Deutschland wie Namibia hat vor mittlerweile fast 20 Jahren in der UNO eine Resolution mit unterschrieben. Die nicht rechtswirksam ist, aber die trotzdem natürlich ein Bekenntnis ist zu den Rechten indigener Bevölkerungen, in der ausdrücklich festgehalten wird, dass alle Angelegenheiten, die indigene Bevölkerungen betreffen, nur verhandelt werden können unter direkter Teilnahme von Vertretungen, die von diesen indigenen Bevölkerungen ernannt worden sind. Und die Ovaherero, die Nama und Damara werfen der namibischen Regierung vor, dass sie diesen Beschluss nicht respektiert, dass sie im Namen von Bevölkerungsgruppen verhandelt, die nicht ein eigenes Wort am Verhandlungstisch haben und die, was eigentlich nie offen ausgesprochen wird, aufgrund der Folgen des Völkermords Minderheitsgruppen im Lande sind, denn sie wurden ja nahezu vernichtet. Das heißt, die Demographie heute, die dazu beiträgt, dass die Mehrheit der Bevölkerung im Norden Namibias, die nicht vom Völkermord betroffen ist, die SWAPO wählt, die damit Regierung wird, würde anders ausfallen, wenn es diesen Völkermord damals nicht gegeben hätte.

Markus: Welches Musikstück hast Du als nächstes für uns ausgesucht?

Henning: Das nächste Musikstück ist das einzige, das auch mit Krieg zu tun hat: „The Partisan“. Es zeigt ein wenig die Ambivalenz, die mich auch immer begleitet hat bei der Entscheidung, in die SWAPO einzutreten. Das ist ja kein pazifistischer Entschluss. Es ist sozusagen die Entscheidung, auch billigend in Kauf zu nehmen, dass mit Formen von Gewalt Ziele erreicht werden. Und „The Partisan“ von Leonard Cohen ist auf einer sehr frühen LP von ihm, die mich noch im Abiturjahr, so wie Udo Jürgens, begleitet hat. Ein Lied, in dem zum Ausdruck kommt, welche Opfer Widerständler, und in dem Fall sogar ausdrücklich eine ältere Frau, zu bringen bereit sind, zur Erkämpfung der Rechte, die ihnen verwehrt bleiben. Und bis heute ist es eine Ambivalenz, mit der ich selbst weiterhin lebe, nämlich einerseits sehr kritisch zu sein gegenüber Gewalt, ich hab vorhin schon auf diesen Spruch von Christa Wolf in „Kassandra“ verwiesen: „Der Krieg formt seine Leute“, und andererseits bereit war, in eine Befreiungsbewegung einzutreten, die mit Mitteln der Gewalt dann selbst solch unsägliches Leid in den eigenen Reihen verursacht hat. In Leonard Cohens Lied gibt es die Zeile „Freedom soon will come, then we’ll come from the shadows“. Ich projiziere in dieses „then we‘ll come from the shadows“ auch ein Stück weit Optimismus, den die SWAPO nicht eingelöst hat, nämlich sich dann aus diesem Schatten zu befreien und eine neue Gesellschaft aufzubauen, die dann hoffentlich auch ohne Gewalt auskommt. [Musik: Leonard Cohen – The Partisan …]

Markus: In der Wissenschaft gibt es die These und auch die Gegenthese, dass es eine Kontinuität gibt zum einen zwischen der Kolonialzeit der Deutschen, dem deutschen Kolonialismus und dem Nationalsozialismus und eben auch dann zwischen dem Genozid an den Herero und Nama und der Shoa. Wie stehst du dazu?

Henning: Die Kritikerinnen und Kritiker der Kontinuitätsthese unterstellen zu Unrecht, dass damit gemeint ist, es gebe einen direkten Weg von Windhoek nach Auschwitz. Es gibt keinen einzigen Kolonialhistoriker, von dem ich wüsste, dass er das so sagt. Aber ich teile die Meinung derjenigen, die sagen: Um die Eskalation im Holocaust zu verstehen, muss man im deutschen Kolonialismus beginnen. Mentalitätsgeschichtlich in der Herausformung von Unterwerfungsstrategien. Der Oberkommandierende des Völkermords, Lothar von Trotha, sprach von einem Rassenkrieg und sagte: „Ich vernichte die aufständischen Stämme mit Strömen von Blut und Strömen von Geld.“ Personell waren einige der Kolonialoffiziere auch direkt maßgeblich beteiligt am Naziregime. Die Rassenforschung begann ja auch mit der
Untersuchung von Schädeln und Skeletten von Afrikanern aus den deutschen Kolonien. Also, es gibt eine Geschichte, die auch von Raphael Lemkin, der den Begriff des Völkermords geprägt hat, der den deutschen Kolonialismus benennt als anfangs konstituierendes Element von Völkermord, schon erwähnt wurde in seinen Schriften. Hannah Arendt sagte in den „Ursprüngen totaler Herrschaft“: Um den Holocaust zu verstehen, müssen wir die Ursprünge totaler Herrschaft in den deutschen Kolonien untersuchen. – Die dann übertragen wurden in Herrschaftsformen und Praktiken im eigenen Reich. Also von daher sollten die Kritikerinnen und Kritiker vorsichtig sein bei der Überlegung: Wen kritisieren sie eigentlich? Sie kritisieren damit auch die Wegbereiter und Pioniere der Völkermordthese und jemanden wie Hannah Arendt, die ja teilweise auch heute bei dieser aufgeladenen Debatte tendenziell zur Antisemitin erklärt wird, aufgrund ihrer Kritik. Das ist das Fatale bei der Diskussion heute, dass der Hinweis darauf, um das, was im Naziregime perfektioniert wurde in industrieller Massenvernichtung, richtig zu begreifen, man mentalitätsgeschichtlich in die Gedanken eines Völkermords zur Zeit des deutschen Kolonialismus zurückgehen will. Und der neue Kulturstaatsminister Wolfram Weimer sagt, dies untergrabe die Singularität des Holocaust und ist für ihn tendenziell antisemitisch. Das heißt aber eine Pervertierung des „Nie wieder!“, das die Überlebenden von Buchenwald sagten, denn „Nie wieder!“ heißt nie wieder Formen von Massenvernichtung, wie sie im ersten Völkermord schon in der deutschen Kolonialzeit angelegt waren.

Markus: Vielen Dank. Dein nächstes Musikstück?

Henning: Jetzt kommt der Wandel zur afrikanischen Perspektive. Man hört vielleicht schon raus, dass ich einen leichten Hang zur Sentimentalität habe mit der Auswahl der Lieder. Abdullah Ibrahim, der produzierte 1974 noch unter seinem alten Namen als Jazzer, nämlich „Dollar Brand“, ein Stück, in dem er ein Township in Kapstadt intonierte, nämlich Manenberg. Das wurde 1974 auf einer Platte veröffentlicht, die seither Kultstatus hat auch im Anti-Apartheid-Widerstand in Südafrika, weil es nämlich Identität pflegt und dadurch auch Selbstbehauptung fördert, ohne dass es Worte braucht. Es ist ein reines Melodiestück. Das war das Jahr, in dem ich in die SWAPO eingetreten bin, und auf dem Rückweg von Namibia zur Fortsetzung meines Studiums in Westberlin habe ich die Langspielplatte gekauft und mitgenommen. [Musik]

Bernd: Im Sommer 2025 ist in der Graswurzelrevolution Nummer 500 ein bewegender Essay von Dir erschienen, unter dem Titel „Solidarität, das Pflänzchen immergrün“. Was bedeutet für dich Solidarität? Wie sieht deine Utopie aus? 

Henning: Solidarität ist für mich Empathie, Mitgefühl, Verständnis für die Sichtweisen anderer, die betroffen sind, ohne zu hierarchisieren, was sehr schwierig ist, denn wir urteilen und empfinden ja nach unserer eigenen Lebenswelt und nach unseren eigenen Erfahrungen. Und sich in andere hineinzuversetzen, ist nicht immer einfach und manchmal unmöglich. Deren Trauma lässt sich nicht nachempfinden, aber es lässt sich durch Mitgefühl, nicht Mitleid, Mitgefühl ist etwas anderes, und Empathie zumindest insofern auffangen, als dass es eine Respektbekundung ist gegenüber den Empfindungen dieser Menschen. Die oft von Trauma geplagt sind, die manchmal auch sehr aggressiv reagieren, mit Widerstand reagieren. Und zu versuchen, sich damit zu identifizieren, im Sinne einer konstruktiven Teilhabe, die gleichzeitig nicht bedeutet, alles entschuldigend in Kauf zu nehmen, sondern durchaus auch das Recht für sich selbst zu reklamieren, in bestimmten Punkten anders zu denken, anders zu empfinden, anders zu handeln. Aber immer auf dieser Grundlage, das als eine Anerkennung und Respektbezeugung gegenüber dem anderen zu verstehen, gegenüber dem dann auch Differenzen vermittelt werden. Auch das ist eine Form von Anerkennung. Und dann zu versuchen, auf einer gemeinsamen Grundlage zu handeln, durchaus teilweise unterschiedlich zu handeln. Für mich war immer prägend, was Albert Camus mal gesagt hat, nämlich: „Alles, was ich über Solidarität weiß, habe ich beim Fußball gelernt.“ Wenn man heute den Profifußball anguckt, dann kommen einem vielleicht noch andere Gedanken, aber zu der Zeit wurde Fußball eben als Mannschaftssport im Teamgeist gespielt. Und wenn dann ein Stürmer nach hinten zurückgeht, um die Verteidigung zu unterstützen, dann ist es auch eine Form von Solidarität. Meine Utopie ist, dass der Fußball wieder solidarisch wird und dass diese Bereitschaft, sich auf andere Menschen einzulassen, gestärkt wird. Und dass Kämpfe anderswo auch als Kämpfe bei sich selbst verstanden werden. Amílcar Cabral wurde mal Anfang der Sechzigerjahre gefragt, was denn die beste Form von Solidarität ist. Und er sagte: „Ihr könnt uns gerne Medikamente schicken zur Unterstützung unseres Befreiungskampfes, humanitäre Hilfsleistungen. Aber die beste Form der Solidarität ist, dass ihr den Kampf im eigenen Land führt.“

(1) https://www.nrwision.de/mediathek/radio-graswurzelrevolution-der-lange-schatten-des-deutschen-kolonialismus-251028/

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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