Ziviler Mut unter Beschuss

Israels Regierung greift Friedensaktivist:innen und Menschenrechtsgruppen an

| Christiane Berg

Der brutale Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023, der Krieg in Gaza, das unfassbare menschliche Leid auf beiden Seiten und die seit Jahrzehnten andauernde Besatzung machen eines deutlich: Es braucht einen glaubwürdigen Friedensprozess – und dafür braucht es besonders jene zivilgesellschaftlichen Stimmen, die Brücken bauen, die trotz aller Widrigkeiten unermüdlich für Dialog, Gerechtigkeit und Versöhnung arbeiten.

Genau diese Stimmen sind nun massiv bedroht. Ein neues NGO-Gesetz in Israel droht, viele dieser Organisationen handlungsunfähig zu machen. (1)

Gemäß dem Gesetzentwurf müssten zivilgesellschaftliche Gruppen, die ausländische Mittel über einem bestimmten Schwellenwert erhalten, eine dreijährige Verpflichtung unterzeichnen, sich nicht an Demonstrationen, Kampagnen oder öffentlicher Kritik zu beteiligen. Eine Weigerung würde eine Steuer von 23 Prozent für ihre ausländischen Geldgeber nach sich ziehen – darunter EU-Regierungen und Institutionen wie das Auswärtige Amt oder deutsche politische Stiftungen. Bei Verstößen könnte diese „Strafsteuer“ auf 46 Prozent steigen.

Zudem müssten jene Nichtregierungsorganisationen, die ausländische Gelder erhalten, bei einer Berufung vor dem Obersten Gerichtshof erhöhte Antragsgebühren zahlen. Eine solche Bestimmung würde insbesondere kleinere Organisationen von einer gerichtlichen Überprüfung abhalten und damit den Grundsatz des gleichberechtigten Zugangs zur Justiz untergraben.

Die betroffenen NGOs, darunter Combatants for Peace (2), Standing Together, Rabbis for Human Rights, Parents circle – Families Forum, B´tselem, Women Wage Peace, stünden damit vor einer unmöglichen Wahl: sich mundtot machen zu lassen oder finanziell auszubluten.

Warum werden diese Organisationen als so gefährlich wahrgenommen, dass ein solches Gesetz verabschiedet werden soll?

Um das zu verstehen, muss man sich den Alltag der Menschen in der Region vor Augen führen:

An den Zufahrtsstraßen zu den palästinensisch verwalteten „A-Gebieten“ im Westjordanland stehen überdimensionale, leuchtend rote Warnschilder, die von der israelischen Regierung aufgestellt wurden. Sie richten sich an israelische Staats-bürger:innen und warnen eindringlich davor, diese Gebiete zu betreten – unter Hinweis darauf, dass es gegen israelisches Recht verstoße und der Aufenthalt dort lebensgefährlich sei.

Die physische Trennmauer zwischen Israel und den besetzten Gebieten ist sichtbar und gegenwärtig. Doch die Mauern, die mit solchen Warnschildern in den Köpfen und Herzen der Menschen entstehen, sind noch bedrohlicher. Hier wird Angst erzeugt vor dem, was sich hinter der Sperranlage befindet. Angst vor den palästinensischen Menschen dort, die kollektiv als Bedrohung dargestellt werden. Eine Begegnung kann kaum stattfinden. Umgekehrt ist es ähnlich: Palästinenser:innen begegnen in der Regel jüdischen Israel:innen, die als Soldaten:in-nen auftreten oder gewaltbereiten Siedler:innen. Auch wenn diese eine Minderheit darstellen, sind doch sie es, die in Erscheinung treten, bewaffnet und brutal die Palästinenser:innen von ihrem Land vertreibend.
Die Mauer hat den symbolischen und den realen Zweck, die Palästinenser:innen aus dem Leben der Israelis auszuschließen. Eine solche Mauer teilt die Menschen auf in „Wir“ und „Die“, teilt auf in Eingeschlossene und Ausgeschlossene.
Die physische Mauer, wie auch die Mauer, die durch Angst in den Herzen der Menschen entsteht, trennt von dem, was berühren könnte, trennt vom Leid der anderen.
Gegen diese Entmenschlichung leisten zivilgesellschaftliche Organisationen aktiv Widerstand. In Masafer Yatta bringen Freiwillige der israelischen Organisation Ta`ajush („Zusammenleben“) Familien Zelte, nachdem ihre Häuser zerstört wurden. Freiwillige des Center for Jewish Nonviolence leben zeitweise in abgelegenen Dörfern der südlichen Hebronberge, wenn Familien sich von gewaltbereiten Siedler:innen aus nahegelegenen Outposts bedroht fühlen. Die Rabbis for Human Rights begleiten palästinensische Farmer bei der Olivenernte–. Dabei werden sie von rechtsradikalen Siedlern brutal angegriffen. (3)
Was für ein wichtiges Zeichen, wenn Israelis auf diese Weise Solidarität zeigen – wenn sie deutlich machen, dass sie nicht einverstanden sind mit der Politik der eigenen Regierung.
So auch Shaul, 19 Jahre alt, der den Armeedienst verweigert. Er musste bereits mehrfach für 40 Tage ins Gefängnis. In der Zeit zwischen den Haftaufenthalten unterstützt er Ta`ajush bei Einsätzen gegen Siedlerübergriffe in Masafer Yatta. Auf meine Frage, ob es hart sei, seine Zeit entweder im Gefängnis oder im Westjordanland zu verbringen – wo es nicht selten zu gewalttätigen Provokationen durch Siedler:innen oder zu Willkürakten seitens der Armee kommt –, antwortet er: „Das ist nicht hart. Ich weiß genau, was ich zu tun habe und dass das, was ich tue, richtig ist: Es entspricht meinen Werten. So, wie ich mein Leben gestalte, ist es genau richtig.“
Sei es vor Ort bei der Olivenernte im Westjordanland oder bei den Treffen in Dialoggruppen, in der Zusammenarbeit erleben sich Palästinenser:innen und Israelis als Menschen. Echte Begegnungen finden statt. Sollte es eines Tages zu einem Frieden kommen, dann müssen die Menschen auf ein friedliches Zusammenleben vorbereitet sein – und genau solche Erfahrungen gemacht haben.
Ohne diese zivilgesellschaftlichen Organisationen gäbe es kein verlässliches Bild davon, was im Westjordanland, in Gaza oder Ostjerusalem tatsächlich geschieht. Ihre Mitglieder sind Augenzeug:innen, durch die Menschenrechtsverletzungen überhaupt bekannt werden.

Die israelische Regierung hat erkannt, welches Potenzial diese auf Dialog und Gerechtigkeit ausgerichteten NGOs in sich tragen. Während die derzeitige Politik auf Vertiefung der Spaltung zwischen Israelis und Palästinenser:innen zielt, nehmen die Mitglieder der betroffenen NGOs einander als Menschen wahr, die zusammenarbeiten können. Oder wie es Jamil von den Combatants for Peace auf den Punkt bringt: „Es geht nicht wirklich um die Teilung zwischen Israelis und Palästinenser:innen, sondern um die Spaltung zwischen Menschen, die diese Kriegsenergie verbreiten und um Menschen, die eine friedliche, gerechte Energie in die Welt bringen.“ (4)

Dieses Gesetz bedroht das, was in diesem Konflikt am meisten Hoffnung gibt: die Menschen, die sich nicht entmenschlichen lassen, die weiter miteinander reden, die den Weg des Dialogs wählen, inmitten von Trauer, Angst und Zerstörung. Ohne sie wären die Stimmen der Opfer unsichtbar. Ohne sie gäbe es keinen Dialog, keinen Austausch, keine gemeinsame Hoffnung.

Wir können unseren Blick auf jene zivilgesellschaftlichen Organisationen richten, die uns die konkrete Utopie eines friedlichen Zusammenlebens bereits vorleben: Es gibt eine palästinensische und eine israelische Zivilgesellschaft, die sich für einen gerechten Frieden einsetzen. Beide erleben Trauer. Beide verlieren Familienangehörige und Freund:innen. Diese Stimmen sagen: Wir sehen einander im Leid. (5)
Denn nur wenn wir das Leid der Anderen begreifen, können wir eine gemeinsame Zukunft bauen. Das ist keine naive Hoffnung. Das ist ziviler Mut. Das ist konkrete Arbeit unter lebensgefährlichen Bedingungen. Und genau deshalb braucht es unsere aktive Hoffnung.

(1) https://www.maecenata.eu/wp-content/uploads/2025/10/OB-84_Sojref_Zivilgesellschaft-in-Israel_final.pdf
(2) Zu Combatants for Peace siehe: Jenseits von Gaza: Der stille Krieg im Westjordanland, Artikel von Rana Salman, in: GWR 501, September 2025 ; Bernd Drücke (Hg.), Die Kriegslogik durchbrechen, Graswurzelrevolutionäre Stimmen zum Gaza-Krieg, Verlag Graswurzelrevolution, September 2025
(3) https://www.google.com/url?sa=t&source=web&rct=j&opi=89978449&url=https://www.ochaopt.org/content/humanitarian-situation-update-335-west-bank&ved=2ahUKEwiLhfbly92QAxXh3gIHHQ6IIBoQFnoECBkQAQ&usg=AOvVaw0nibXDCFdprl7rL0e4X79T
(4) https://www.google.com/url?sa=t&source=web&rct=j&opi=89978449&url=https://thereisanotherwayfilm.com/&ved=2ahUKEwj4s5jMzN2QAxU-ywIHHeA7O64QFnoECCIQAQ&usg=AOvVaw3ZAJEEJvbfaA10vaFm4FyJ
(5) Vgl. hierzu: Unsere Vision – Elternkreis-Familienforum https://share.google/VBhmjSsK657DBVpIA (Letzter Zugriff 11/2025)