Graswurzelrevolution: Was hat sich seit der Rebellion der Zapatistas von 1994 gegen Ausbeutung und Unterdrückung vor Ort verändert?
Dorit Siemers: Ich finde es beeindruckend, was die Zapatistas im Laufe der Jahre alles erreicht haben. Sie haben sich aus der Unterdrückung befreit und alles selbst aufgebaut. Es gab weder gut funktionierende Schulen noch Gesundheitszentren, keine Kooperativen, keine eigenen Verwaltungsstrukturen, Frauen hatten keine oder kaum Rechte. Ich habe größten Respekt vor dem, was die Zapatistas erreicht haben! Wenn du jetzt nach Chiapas in die autonomen Orte fährst, siehst du Schulen, Gesundheitsstationen, Versammlungsorte etc. Das gab es bis 1994 nicht. Nach und nach haben die Zapatistas Teile ihrer Träume umgesetzt und vielfältige, beeindruckende Selbstverwaltungsstrukturen auf lokaler, regionaler und überregionaler Ebene aufgebaut. Mir gefällt, dass sie fragend voran schreiten, also losgehen und anfangen etwas aufzubauen. Und dann nach einiger Zeit gegebenenfalls merken, dass sie es anpassen und verändern wollen.
Du begleitest den Aufstand von Beginn an und warst zum Beispiel als Menschenrechtsbeobachterin, freie Medienschaffende und als Kaffeekäuferin vor Ort. Was waren deine bewegendsten Momente?
Dazu zählen viele Momente. Ein bedeutender Moment war das „1. Treffen der zapatistischen Frauen mit den Frauen der Welt“ Ende 2007 im Versammlungszentrum La Garrucha in Chiapas. Dort haben die zapatistischen Frauen von dem Leben vor 1994, über das Leben in der Bewegung, über die Veränderungen und wie ist es, mit Kindern in der Bewegung zu leben, berichtet. Es war toll zu sehen, wie selbstbewusst die zapatistischen Frauen auf der Bühne standen und erzählt haben! Gerade mal dreizehn Jahre nach Beginn des Aufstands. Meine Erfahrungen in Chiapas waren bis dahin, dass Frauen eher wenig sichtbar waren. Jahrhundertelange Unterdrückung muss erst einmal überwunden werden.
Ein anderer bewegender Moment war im Sommer 2013 die escuelita zapatista, die kleine zapatistische Schule. Über Tausend Menschen besuchten die autonomen Gemeinden. Jede „Schüler*in“ hatte eine persönliche Begleitung und Ansprechperson und einen besonderen Einblick in den Alltag und das Dorfleben bekommen.
Was ich beeindruckend finde, ist, dass die Zapatistas an die Zukunft denken: was müssen sie jetzt ändern oder unternehmen, damit auch ein Leben in der Zukunft gut möglich ist? Eine wichtige Rolle spielt bei ihnen die gesundheitliche Ausbildung und Versorgung. Aber auch der Anbau von Nahrungsmitteln zur Selbstversorgung. Ein respektvoller Umgang mit der Natur ist für sie selbstverständlich.
Als vierten Punkt möchte ich noch die travesia por la vida erwähnen, die Reise für das Leben 2021 nach Slumil K’Ajxemk’op/Europa. Als ich das Segelschiff mit den sieben Zapatistas als Vorhut genau in dem Hafen von Baionna, wo die Flotte von Christoph Kolumbus angelegt hatte, hab liegen gesehen, war das sehr berührend. Sie haben die conquista umgedreht, aber nicht um Tod und Zerstörung zu bringen, sondern um Hoffnung zu säen und die Kämpfe in Europa kennenzulernen. Für uns ging ein langer Traum in Erfüllung, sie auf unserem Kollektivhof in Münster begrüßen zu können und ihnen Kämpfe von hier vorzustellen.
Wie ist die aktuelle Situation in Chiapas?
Zur Zeit ist die Situation in Chiapas leider sehr angespannt. Das macht mir große Sorgen. Zwei Drogenkartelle haben sich in Chiapas ausgebreitet. Es gibt in einigen Regionen, vor allem an der Grenze zu Guatemala, viel Gewalt, Entführungen und Vertreibungen. Ich hoffe sehr, dass die zapatistische Bewegung dadurch nicht geschwächt und angegriffen wird. Hinzu kommen die schlechten Programme der regierenden Partei Morena. Es gab schon entspanntere Zeiten.
Im November haben die Zapatistas mehrere Kommuniqués veröffentlicht, in denen sie eine Veränderung ihrer Strukturen ankündigen.
Ja, die Zapatistas sind dabei, ihre Strukturen durch die Erfahrungen der letzten Jahre zu verändern, die basisdemokratische Selbstverwaltung soll weiter gestärkt werden.
Ihr habt 2012 das Kaffeekollektiv Aroma Zapatista als Genossenschaft gegründet. Was steckt dahinter?
Wir haben 2012 zu viert angefangen; mittlerweile sind wir zehn Personen. Wir haben Aroma Zapatista gegründet, um die zapatistische Bewegung zu unterstützen und um die Bewegung hier bekannter zu machen. Gleichzeitig wollten wir hier im Kollektiv zusammen, selbstbestimmt ohne Chef*in und ohne Gewinnorientierung arbeiten.
Es gibt nur wenige positive Beispiele und Nachrichten in dieser von Gewalt und Zerstörung geprägten Welt. Für mich ist die zapatistische Bewegung solch ein positives Beispiel. Sie setzt sich gegen Ausbeutung und Unterdrückung ein und zeigt, dass es auch anders geht.
Auch wir hier in Europa können dazu beitragen, die Welt zu verändern.
Unsere Idee ist, den solidarischen Handel zu stärken. Vor allem kaufen wir Rohkaffee von den Zapatistas, seit Ende 2015 zudem Rohkaffee von der linken indigenen Bewegung des CRIC aus dem Cauca in Kolumbien. Wir haben das Sortiment im Laufe der Jahre durch andere Produkte von Kooperativen in Europa ergänzt. Wie Tee von der besetzten und selbstverwalteten Fabrik ScopTi in Frankreich, aus Griechenland bekommen wir Seifen von Vio.me oder auch Olivenöl, Gewürze und Essig von BeCollective aus Kreta. Und aus der Region bekommen wir Tofu von der Tofurei aus dem Wendland. Diesen verkaufen wir aber nur vor Ort in Hamburg, da er gekühlt werden muss. Alle anderen Produkte bieten wir über unseren Webshop an.
Was bedeutet für euch solidarischer Handel?
Im „normalen“ Kaffeehandel bekommen die Kaffeeanbauenden bzw. die Menschen, die auf den Kaffeeplantagen arbeiten, viel zu wenig Geld für die viele Arbeit. Wir haben oft einen direkten Einblick in die Arbeit bekommen können. Kaffee ist ein typisches Kolonialprodukt: die, die am meisten Arbeit haben, bekommen leider am wenigsten Geld. Tausende Menschen werden ausgebeutet. Bis heute.
Wir möchten es anders machen. Für mich bedeutet der Kampf für eine andere Welt auch ein Anderer Handel. Neben der Solidarität mit den Bewegungen und deren Bekanntmachung, heißt solidarischer Handel für uns auch, einen möglichst guten Preis zu zahlen. Aufgrund der Inflation und der gestiegenen Preise auch in Mexiko haben wir den Rohkaffeepreis stark erhöht. 2023 haben wir 137 mexikanische Pesos pro kg Rohkaffee an die Kooperativen gezahlt, das sind etwa 7,30 Euro. Der Fairtradepreis liegt seit 2023 bei umgerechnet etwa 4,45 Euro pro Kilo.
Im Gegensatz zum schwankenden internationalen Kaffeepreis auf dem Weltmarkt, gehen wir nicht unter den Preis des Vorjahres, auch wenn der internationale Rohkaffeepreis stark sinkt.
Uns ist zudem wichtig, die Kaffeekooperativen auch bei schlechten Ernten nicht im Stich zu lassen. Wir kaufen auch solchen Kaffee, der normalerweise nicht nach Europa exportiert wird. Die Kaffeeanbauenden haben die gleiche oder mehr Arbeit, wenn die Kaffeepflanzen zum Beispiel außergewöhnlichen Wetterphänomenen ausgesetzt sind und die Kaffeebohnen sich nicht so entwickeln wie in „normalen“ Jahren. Auch aus unterschiedlich großen Bohnen lässt sich ein leckerer Röstkaffee zubereiten.
Es geht nicht nur um einen besseren Preis, sondern auch um eine politische Beziehung und den gemeinsamen Kampf für eine andere Welt. Die zapatistischen Kooperativen haben immer wieder betont, dass sie gerne ihren Kaffee an linke internationalistische Gruppen verkaufen und sie dadurch auch mit ihren Projekten vorankommen.
Welche Rolle spielt der Kaffeeanbau für die Zapatistas?
Die Organisierung in den Kaffee-Kooperativen und der Verkauf des Kaffees über diese bedeutet eine wichtige Einnahmequelle für die Familien. Die Familien bauen unterschiedlich viel Kaffee an und ernten daher unterschiedlich große Mengen. Manche haben nur drei Säcke, andere zehn oder mehr. Die Zapatistas werden dadurch nicht reich, aber sie bekommen Geld für Kleidung, Fahrtkosten, Lebensmittel, etc. Der Kaffeeanbau ist eine Tätigkeit neben anderen. Sie leben in Selbstverwaltung, nicht „nur“ in einem Wohnprojekt oder Arbeitskollektiv, sondern im großen Stil über Gemeinden und Landkreise hinweg. Diejenigen, die in selbstverwalteten Projekten leben oder arbeiten, können sich sicher gut vorstellen, dass dahinter einiges an Aufgaben steckt. Autonomie bedeutet eben auch, weitere cargos, also Ämter, zu bekleiden. Uns wurde bei Besuchen immer wieder berichtet, dass es wichtig ist, nicht nur Kaffee, sondern vor allem Nahrungsmittel für den Eigenbedarf anzubauen. Wir sammeln mit dem Verkauf jeden Kilos Röstkaffees Extra-Gelder für die gesamte Bewegung. Damit werden z. B. Gesundheits- und Bildungsprojekte oder auch (internationale) Treffen unterstützt. Solche Extragelder sammeln nicht nur wir, auch andere Gruppen aus Europa schicken durch den Kaffeeverkauf einiges an Unterstützungsgeldern zurück an die Bewegung.
Kaufen auch andere Gruppen in Europa?
Ja, es gibt in diversen Ländern solidarische Gruppen, die zapatistischen Kaffee importieren. Dazu gehören zum Beispiel die Schweiz, Frankreich, Italien, Griechenland, der spanische Staat, Lettland, Finnland und Tschechien. Einige importieren einen oder zwei Container, andere einige Säcke. Die meisten der importierenden Gruppen, wie auch wir, sind im europäischen Kaffeenetz RedProZapa vernetzt, welches sich einmal im Jahr persönlich trifft – immer in einem anderen Land.
Welche Erfolge gibt es durch den solidarischen Handel für die Kooperativen?
Die Kooperativen werden selbständiger und unabhängiger. Eine Kooperative konnte im Laufe der Jahre viele Träume erfüllen und hat einiges aufgebaut und gekauft: dazu zählt ein Haus mit Büro, Fahrzeuge, eine große Halle zum Kaffee lagern, eine Röstanlage und seit neuestem haben sie auch eine große Rohkaffee-Verarbeitungs- und Sortiermaschine. Sie hatten sich für die Anschaffungen in den Vollversammlungen der Mitglieder entschieden und dann daraufhin gespart.
Was gibt es für Herausforderungen des solidarischen Handels? Wo stößt er an seine Grenzen?
Eine gute Frage. Der Import von Rohkaffee ist komplex. Es gibt einiges an Bürokratie und Regeln und vieles zu bedenken. Das ist sowohl hier anstrengend, aber noch viel mehr in Mexiko. Die Bioregeln sind z.B. am Schreibtisch entwickelt und zum Teil realitätsfern. Die Zapatistas und wir fragen uns immer wieder auf’s Neue, ob wir uns überhaupt den Regeln beugen sollten oder autonome Richtlinien fördern sollten.
Auch der Kaffeepreis ist ein Thema. Eigentlich würden wir gerne einen noch höheren Preis an die Kooperativen zahlen. Nur: verkaufen wir den Kaffee hier dann noch? Können und wollen sich dann nur noch Leute mit besserem Einkommen Kaffee leisten? Wir überlegen, ob wir ein 2-Preis-System einführen. Diejenigen, denen ein bis zwei Euro mehr nicht weh tun, unterstützen hier dann diejenigen, die es sich nicht leisten können. Zudem könnten wir auch mehr Extra-Gelder für die Bewegungen sammeln.
Ich finde den Kaffee ja immer noch günstig. Eine Tasse von unserem Kaffee kostet gerade einmal rund 15 Cent. Ist das viel? Kaffee hat mehr Wertschätzung verdient! Es wird so viel Kaffee vom Vortag einfach weggekippt.
Möchtest du noch etwas hinzufügen?
Das Thema ist komplex – gerne könnt ihr euch bei Nachfragen an uns wenden. Zum Schluss möchte ich einen schönen Spruch der Zapatistas zitieren: „Es ist nicht notwendig die Welt zu erobern. Es reicht, sie neu zu schaffen. Durch uns. Heute.“