so süß wie maschinenöl

Fabrizierter Konsens: Krieg der Narrative

10: Arbeit, Ökonomie und Alltag

| Elmar Wigand

Das Wort „Narrativ“ erschien mir lange bloß ein Modewort zu sein. Ich habe es bewusst vermieden. Es schien zu den Bullshit-Begriffen einer akademisch geprägten Szene zu gehören, die den Kontakt zu breiten Teilen der Bevölkerung verloren oder aufgegeben hat. (Siehe auch: „Diskurse“. Mein Bullshitwort Nr. 1 ist übrigens „Strukturen“.) (1) Ich sehe das mittlerweile etwas anders. Auch wenn ich mit meiner ursprünglichen Vermutung nicht ganz falsch lag…

Wikipedia verrät uns: Das „Narrativ“ stammt tatsächlich aus der französischen Nach-68er-Philosophie, die einen großen Einfluss dabei hatte, Marxismus, Kommunismus und andere Theorien, die sich auf die materielle Realität, Besitz- und Produktionsverhältnisse beziehen, als verstaubt und altmodisch erscheinen zu lassen. Das „Narrativ“ wurde vom Gründervater der „Postmoderne“, Jean-François Lyotard, 1979 erstmals verwendet. Lyotard war 1966 aus der linksradikalen Gruppe „Sozialismus oder Barbarei“ ausgetreten und reflektierte das so: „Eine Periode meines Lebens war beendet, ich verließ den Dienst der Revolution, ich machte etwas anders, ich hatte meine Haut gerettet.“ Er wurde Professor, Star-Philosoph und Stichwortgeber. (2) „Narrativ“ war im Duden von 2013 noch als Adjektiv verzeichnet und bedeutete „erzählend“. (3) Inzwischen ist es zum Substantiv aufgestiegen als „sinnstiftende Erzählung“.
Es gibt ja solche Worte, die sich aufgrund ihres unerfreulichen Inhalts abnutzen und ständig erneuert werden müssen: Aus dem Siechenheim wurde das Altenheim, das Seniorenheim, die Seniorenresidenz, demnächst vielleicht das Silver Surfer Resort…
Analog dazu ist das „Narrativ“ vermutlich bloß eine modernisierte Form des Mythos, der Legende oder der Propaganda.
Diese Zeilen werden zu einer Zeit geschrieben, als ein Narrativ in der deutschen Öffentlichkeit und vor meiner Haustür, im arabisch geprägten Teil Neuköllns, geradezu durchgeprügelt wird: „Bedingungslose Solidarität mit der israelischen Regierung.“ Herunter gebrochen auf die aktuelle Situation: „Die Hamas ist verantwortlich nicht nur für 1.200 Opfer ihres Angriffs auf Israel, sondern auch für den Tod aller, die nach dem 7. Oktober 2023 vom israelischen Militär umgebracht wurden.“
Wer etwas anderes sagt, muss damit rechnen, die volle Breitseite zu kriegen. Polizeiknüppel, Jobverlust. Es zeugt von Empathielosigkeit und moralischem Bankrott, dass ein solch waghalsiges, unlogisches und rechtlich unhaltbares Framing bei staatstragenden deutschen Eliten und größeren Teilen der Bevölkerung verfängt. „Kritik an Israel verbietet sich, weil sie wahrscheinlich antisemitisch motiviert ist“, so wird das Narrativ begründet und imprägniert.
Wer Krieg führen will, braucht Narrative. Früher nannte man es Propaganda. Die französische Revolution und Napoleons Feldzüge haben gezeigt, dass ein begeistertes Volksheer, dessen Soldaten für höhere Werte kämpfen, töten und bereit sind, selbst zu sterben („Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“), den Söldner- und Berufsarmeen der europäischen Aristokratie an Masse und Kampfkraft bei Weitem überlegen waren. Da Absatzmärkte, Kohle, Diamanten, Gold, Erz und Erdöl bei einfachen Soldaten und ihren Familien wenig Gefühle auslösen, ging es den USA offiziell gern um Menschenrechte.
Menschenrechte gelten aber nicht für Kolonialisierte, also die Barbaren, sondern nur für Zivilisierte: Diese Wilden sind zu Demokratie nicht fähig und daher auch zu Menschenrechten nicht berechtigt. Sie verstehen keine andere Sprache als Gewalt. Sie sind es nicht anders gewohnt. Sie würden uns noch schlimmer behandeln, wenn sie könnten….
Der von den Südstaaten am 12. April 1861 begonnene amerikanische Bürgerkrieg dauerte bis 1865. Dieser erste industriell geführte Krieg wurde von den Nordstaaten angeblich zur Abschaffung der Sklaverei geführt. Die Abschaffung der Sklaverei führte aber nicht zum Ende des Rassismus. In den Südstaaten der USA herrschte bis in die 1950er Jahre Rassentrennung und der Friedensnobelpreisträger Martin Luther King wurde am 4. April 1968 in Memphis erschossen. In den Ersten Weltkrieg führte Präsident Wilson die seit dem Bürgerkrieg kriegsmüden US-Amerikaner 1917 mit der Verheißung, es wäre „Der Krieg, um alle Kriege zu beenden.“ Als Tätigkeitsnachweis wurden nach Kriegsende 1919 die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), 1920 der Völkerbund und 1945 die UNO gegründet. Papiertiger bis heute.
Ein Narrativ kann offenbar wirkungsmächtig sein, ohne angemessene Bezüge zur Realität zu haben. Es kommt darauf an, was die Leute glauben sollen und wollen, nicht was tatsächlich geschieht oder geschehen ist. Hier liegt gleichzeitig die Schwäche des Begriffs: Am Ende schlägt die Realität zurück. Kriege gehen verloren, Mauern fallen, Konzerne gehen pleite, Märkte kollabieren. Damit zerplatzen auch Narrative und entpuppen sich womöglich als Mittel der psychologischen Kriegsführung und mentalen Kolonialisierung.
Und beim nächsten Mal erzähle ich euch, was das alles mit dem Hasso-Plattner-Institut (HPI) in Potsdam zu tun hat – einer Retorten-Uni des gleichnamigen SAP-Milliardärs –, einer gescheiterten Betriebsratsgründung am HPI und Arbeitsverhältnissen, die von sachgrundlosen Kettenbefristungen und Beratung durch McKinsey & Company geprägt sind. Hier hat die PR-Agentur Lutz Meyer & Company mindestens 20.000 Euro mit der Fabrikation von Zustimmung verdient: „Wir brauchen keinen Betriebsrat, wir haben eine bessere Idee!“ (4)
Auch so ein verdammtes Narrativ.

(1) Wir brauchen Organisierung und funktionierende Organe statt Struktur-Larifari.
(2) https://de.wikipedia.org/wiki/Narrativ_(Sozialwissenschaften)#Wortgeschichte
(3) Matthias Heine: Modewort: Hinz und Kunz schwafeln heutzutage vom „Narrativ“, Welt, 13.11. 2016, https://www.welt.de/debatte/kommentare/article159450529/Hinz-und-Kunz-schwafeln-heutzutage-vom-Narrativ.html
(4) Hasso-Plattner-Institut: Union Busting durch Pseudo-Betriebsrat. Wann ermittelt die Staatsanwaltschaft?, arbeitsunrecht in deutschland, 4.3.2024, https://arbeitsunrecht.de/hasso-plattner-institut-union-busting-durch-pseudo-betriebsrat-wann-ermittelt-die-staatsanwaltschaft/

Elmar Wigands monatliche Glosse „so süß wie maschinenöl“ kann nach Erscheinen in der GWR auch als Podcast gehört werden: https://arbeitsunrecht.de/kolumne/