Mit der Graswurzelrevolution gegen den Pleitereaktor

Eine Erfolgsgeschichte

| Horst Blume

500 Ausgaben der Monatszeitung Graswurzelrevolution sind bis jetzt erschienen, 50 Jahre alt wird die Bürgerinitiative Umweltschutz Hamm gegen den Thorium Hochtemperaturreaktor (THTR) in ein paar Monaten und mindestens 50.000 Jahre wird das radioaktive Inventar dieses Reaktors noch strahlen. Angesichts dieser Zahlen ist klar, hier geht es um langfristige Entwicklungen. Um über einen so langen Zeitraum in einer Zeitungs- oder Bürgerinitiative aktiv zu sein, muss mensch in dieser an politischen Umbrüchen reichen Zeit einen langen Atem haben.

Seit 1976 wurden in der Graswurzelrevolution über die Jahrzehnte hinweg insgesamt 27 Artikel über den Widerstand gegen den THTR in Hamm-Uentrop und seine geplanten Nachfolgereaktoren veröffentlicht (1). Die 1972 gegründete Graswurzelrevolution war über die erkämpfte Stilllegung hinaus der ständige kritische „Begleiter“ dieses Pleitereaktors, mit dem kurz vor Gründung unserer Zeitung mit dem Bau begonnen wurde.
Der in Hamm-Uentrop erst 1985 fertiggestellte THTR lieferte nur für 423 Tage Strom und musste 1989 nach etlichen gewaltfreien Aktionen, zivilem Ungehorsam und vielen Demonstrationen stillgelegt werden (2). Die 600.000 tennisballgroßen radioaktiven Brennelemente lagern heute im Zwischenlager bei Ahaus. Die Genehmigung für den Betrieb des Lagers läuft 2036 aus. Ein Endlager für radioaktiven Atommüll gibt es in der BRD frühestens 2074.

Rückbau – die Lage heute

In dem stillgelegten THTR befinden sich noch ca. 1,5 Kilogramm Spaltstoff, darunter Plutonium und Uran. Durch den Störfall von 1986 können sich die radioaktiven Stoffe an Stellen befinden, an denen man sie nicht vermutet. Das wird sich beim geplanten Rückbau des THTR als großes Problem erweisen. Nach einer Studie der Ingenieurgesellschaft Siempelkamp aus dem Jahr 2008 wird der gesamte Rückbau etwa 21 Jahre dauern. In Auftrag gegeben wurde sie von der Betreibergesellschaft des THTR, der Hochtemperatur-Kernkraftwerk GmbH (HKG), in der RWE Nuclear und mehrere Stadtwerke Gesellschafter sind.
Hinter den Kulissen wird schon seit einiger Zeit verhandelt, wann mit dem Rückbau begonnen werden kann und wer die Kosten von mindestens einer Milliarde Euro dafür aufbringen soll. Denn die HKG ist von den Betreibern wohlweislich als Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) gegründet worden. Da ihr Eigenkapital fast aufgebraucht ist, wird die HKG womöglich bald Insolvenz anmelden und dann müssten der Bund und das Land NRW die immensen Kosten tragen.
Bei diesem Störfallreaktor müsste mit großer Vorsicht mit dem Rückbau begonnen werden, um eine radioaktive Kontamination der Bevölkerung zu vermeiden. In den 90er Jahren fanden 59 Bahntransporte von radioaktiven Brennelementen durch Hammer Wohngebiete nach Ahaus statt (3). Bei einem Rückbau der gesamten Anlage kämen viele gefährliche Transporte auf uns zu.
Deswegen ist eine ausführliche Diskussion hierzu notwendig, um die Bevölkerung an den zukünftigen Entscheidungen zu beteiligen. Letzten Endes kann es leider nur darum gehen, die am wenigsten schlechteste Lösung für den zukünftigen Umgang mit der strahlenden Ruine zu finden. Grundsätzlich wäre angesichts vieler ungeklärter Fragen bei Rückbau, Transport und Lagerung des Atommülls zu überlegen, ob ein Rückbau des THTR zum jetzigen Zeitpunkt wirklich sinnvoll wäre. Denn die radioaktiven Hinterlassenschaften müssen nach jetzigem Stand so oder so bis mindestens 2074 zwischengelagert werden, da noch kein Endlager existiert.

Widerstand – inspiriert von der Graswurzelrevolution

Um die notwendigen Herausforderungen zu bewältigen, haben wir uns als Bürgerinitiative mit gewaltfreien Techniken und Vorgehensweisen vertraut gemacht und bemühten uns freundlich und offen auf andere Menschen zuzugehen, damit sie uns verstehen und unser Anliegen positiv aufnehmen konnten.

Eine besondere Rolle spielte in der Anfangszeit der Bürgerinitiativen Theo Hengesbach (4) aus Dortmund, der uns mit der Graswurzelrevolution sowie mit Theorie und Praxis der gewaltfreien Aktion bekannt machte und viele wichtige Impulse gab. Da 1976 Bürgerinitiativen in der BRD noch ein recht neues Phänomen in der Politik waren, stellten die Artikel von Theo in der Graswurzelrevolution für uns eine willkommene und notwendige Reflexion über unser eigenes Tun dar. Die gemeinsame Vor- und Nachbereitung unserer Aktionen und ihre Unterteilung in Zwischenziele bewirkten einen klareren Blick darauf, was möglich war und bewahrte uns davor, vorschnell zu resignieren. Auf diese Weise konnten temporäre Niederlagen oder aufgetretene Probleme verarbeitet werden und Lernprozesse stattfinden. Wichtig war, das dies alles nachvollziehbar und über einen längeren Zeitraum für einen größeren InteressentInnenkreis in der Graswurzelrevolution veröffentlicht wurde und somit andere Menschen von unseren Erfahrungen lernen konnten.

Erfahrungsweitergabe

Der Stromgeldboykott (Strobo/Stromgeldverweigerung) wurde bundesweit und auch in Dortmund von vielen Gruppen propagiert und praktiziert (5). Er ist ein weiteres Beispiel, bei dem wir über einen langen Zeitraum hinweg Erfahrungen mit Zivilem Ungehorsam machten. Die Graswurzelrevolution berichtete über zehn Jahre hinweg von 1977 bis 1986 in 28 Artikeln hierüber. Sie wurde dadurch zu einem Medium, das bei der Organisierung und Kommunikation der Strobo-Gruppen untereinander behilflich war.
Solch eine längerfristig angelegte Erfahrungsweitergabe und Reflexion des eigenen Handelns gab es in der früheren Phase der GWR zu verschiedenen Konfliktfeldern (zum Beispiel Gorleben) ziemlich oft. Das machte für mich den praktischen Wert der Zeitung aus.
Darüber hinaus gab es noch andere Publikationen als die GWR, die für zusätzlichen Input und Interaktion miteinander sorgten. Der eher auf interne Diskussionen ausgerichtete „Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren“ wurde in 56 Ausgaben von den GraswurzelrevolutionärInnen Helga und Wolfgang Weber-Zucht herausgegeben (6). Als ausführlich analysierende „Fachzeitung“ kam die „Gewaltfreie Aktion“ vom Versöhnungsbund hinzu. Das „Umweltmagazin“ (gegründet als BBU-Aktuell) des Bundesverbandes der Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) wirkte als Graswurzelrevolution „light“ in höherer Auflage in viele andere Initiativen hinein und verstärkte so unsere Intentionen. Die „Gewaltfreien Aktionsgruppen“ stellten eine zusätzliche organisatorische Basis dar. So konnte die graswurzelrevolutionäre Bewegung in politische Auseinandersetzungen eingreifen, den Basisbewegungen wichtige Anregungen geben und Teilerfolge erreichen.

Ausblick

Da es heute die eng mit der Zeitung verbundenen „Gewaltfreien Aktionsgruppen“ in dieser Form nicht mehr gibt, stellt sich die Frage, wie die Graswurzelrevolution in Zukunft auf die politischen Entscheidungen und Diskussionen innerhalb der Gesellschaft einwirken kann. Von den Linken vernachlässigte Themen und problematische Entwicklungen werden in der GWR meiner Meinung nach gut angesprochen. Ebenfalls klappt es sehr gut mit der Kritik von negativen Tendenzen innerhalb der anarchistischen Bewegung. Kritik an dem Verhalten von historischen Figuren, wie z.B. Nestor Machno (Ukraine) oder Buenaventura Durruti (Spanien), ist ebenso präsent wie die Erinnerung an die in der Öffentlichkeit wenig zur Kenntnis genommenen Persönlichkeiten des gewaltfreien Anarchismus.
Mit der Zeit ist das in der politischen Praxis verankerte Grundgerüst, auf das sich viele unserer VorgängerInnen gestützt haben, meiner Meinung nach zu sehr in den Hintergrund der Berichterstattung geraten. Die Graswurzelrevolution ist aber nicht irgendeine anarchistische Zeitung, sondern betont ihr Ziel im Untertitel: „für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft“. Und um dieser ein Stück weit näherzukommen, bedarf es bestimmter Aktionsformen, Techniken und Grundlagen. Wo, wenn nicht in unserer Zeitung sollte darüber entsprechendes Wissen vermittelt werden?
Gerade jetzt, wo ein deutlicher Rechtsruck in der Gesellschaft stattfindet, ist es wichtig, jüngeren Menschen zu vermitteln, wie sie auf gewaltfreie Weise politisch aktiv werden können. Beispielsweise könnte der von Bill Moyer entwickelte Movement Action Plan (MAP) aus dem Jahr 1989 wieder verstärkt in den Fokus gerückt und den heutigen Begebenheiten angepasst werden (7).
Klar ist, dass kluge Sätze auf Papier (oder im Netz) allein eine stärkere Berücksichtigung dieser Aktionsformen nicht erreichen können. Aber Grundlageninformationen über Technik und Strategie von gewaltfreien Aktionen sollten zukünftig von uns in der Graswurzelrevolution öfter veröffentlicht werden, um aufzuzeigen, was möglich ist.

(1) Siehe: https://www.machtvonunten.de/
lokales-aus-hamm.html?view=article
&id=293:20-jahre-nach-tschernoby-vergesslich-in-die-zukunft&catid=21:lokales-aus-hamm
(2) Siehe: https://www.machtvonunten.de
/lokales-aus-hamm.html?view=article&id
=307:rueckblick-15-jahre-buergerinitative-umweltschutz-hamm&catid=21:lokales-aus-hamm
(3) Siehe: https://www.machtvonunten.de/lokales-aus-hamm.html?view=article&id=303:castortransporte-von-hamm-nach-ahaus&catid=21:lokales-aus-hamm
(4) Siehe: https://www.machtvonunten.de/lokales-aus-hamm.html?view=article&id=286:zum-tod-von-theo-hengesbach&catid=21:lokales-aus-hamm
(5) Siehe: https://www.machtvonunten.de/lokales-aus-hamm.html?view=article&id=316:kein-atomkraftwerk-mit-unserem-geld&catid=21:lokales-aus-hamm
(6) Siehe: https://www.machtvonunten.de/?view=article&id=34:gewaltfrei-gegen-das-atomkraftwerk-in-hamm-uentrop&catid=21:lokales-aus-hamm
(7) Siehe: https://www.graswurzel.net/gwr/produkt/aktionsplan-fuer-soziale-bewegungen/
Weitere Infos (auch als Papierzeitung) im „THTR-Rundbrief“ Nr. 157:
https://www.reaktorpleite.de/?view=article&id=1455:thtr-rundbrief-nr-157-dezember-2024&catid=80:rundbriefe-2024