Die US-Amerikanerin Erica Chenoweth hat es seit Trumps Machtübernahme vermutlich nicht leicht: Sie ist die erste offen nicht-binäre Professorin der Harvard University. Und sie forscht zu einem Thema, das den Rechten nicht gefällt: Ziviler Widerstand. Ihre Arbeiten inspirierten die Menschen der Umweltschutzbewegung Extinction Rebellion maßgeblich.(1) Am Anfang ihrer Karriere beschäftigte Chenoweth sich wissenschaftlich mit dem Terrorismus und war der Ansicht, dass Gewalt zwar nur in den seltensten Fällen zum erwünschten Ziel führt, aber doch unumgänglich sei. Von Befürworter*innen der Gewaltfreiheit herausgefordert, musste sie feststellen, dass es überhaupt kein valides Zahlenmaterial zu Zivilem Widerstand gab. In mühevoller Recherche haben sie und ihre Kolleg*innen daraufhin weltweit alle Kampagnen zwischen 1900 und 2006 untersucht, an denen mindestens 1.000 Menschen beteiligt waren und die eine Systemänderung zum Ziel hatten – über 200 von ihnen nutzten Gewalt, und über 100 nicht. Das überraschende Ergebnis: Während nur 26% der gewaltvollen Aufstände Erfolg hatten (und im Anschluss eher zu Tyrannei führten), so waren es bei den gewaltfreien 53%, die zudem tendenziell eher demokratische Strukturen förderten. Außerdem zeigte sich, dass sämtliche gewaltfreien Kampagnen erfolgreich waren, an denen sich mindestens 3,5% der betroffenen Bevölkerung beteiligten. In ihrem 2011 erschienenen Buch Why Civil Resistance Works (2) fassen sie und ihre Co-Autorin Maria J. Stephan ihre Untersuchungsergebnisse zusammen. 2021 hat sie dann dieses Thema weiter ausgeführt. In Civil Resistance: What Everyone Needs to Know (3) beschreibt sie im Detail, welche Faktoren zum Erfolg oder Misserfolg einer gewaltfreien Aktion führen. Besonders berührt hat mich der Fall von West-Papua (von Indonesien okkupiert), wo jahrzehntelanger Guerillakampf keinerlei Fortschritte brachte – sondern statt der Unabhängigkeit nur Abertausende von Toten. Doch dann entwickelte sich Ziviler Widerstand, der dem indonesischen Regime in kurzer Zeit mehr Zugeständnisse abringen konnte, als es den Bewaffneten zuvor je gelungen war. (4) Gleichzeitig stellt Chenoweth jedoch fest, dass seit den 2010er-Jahren gewaltfreie Kampagnen zwar deutlich häufiger werden, aber seltener zum Ziel führen als in der Vergangenheit. Was also fehlt nun? Sie macht vier Hauptfaktoren ausfindig: mangelnde Planung, Organisation und Training der Teilnehmenden sowie unzureichende Suche nach einer möglichst breiten Basis an Mitstreiter*innen vor dem Versuch der Massenmobilisierung; fehlender Schwung bei Wachstum und Diversität sowie zu seltener Einsatz von (General-)Streiks und Zivilem Ungehorsam; zu starker Fokus auf das Internet für die Organisation und schließlich: keine ausreichenden Strategien, um Einheit und Disziplin aufrecht zu erhalten. (5) Dies sind bisher nur vorläufige Annahmen. Wie die Harvard University mitteilt, arbeitet Chenoweth derzeit am Buch The End of People Power, in dem sie den nachlassenden Erfolg von Civil Resistance in der letzten Dekade weiter analysiert. Wir dürfen also gespannt sein. Leider drängte sich mir beim Lesen immer wieder der Gedanke auf, dass ja nicht nur die Wi-derständler*innen ihre Bücher lesen, sondern auch die Diktatoren, die somit alle Zeit der Welt haben, geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Vielleicht ist also ein anderer, ebenfalls von ihr genannter Faktor für das Gelingen eines Aufstandes mindestens genauso wichtig: unberechenbar bleiben! (6)
((1) https://en.wikipedia.org/wiki/Erica_Chenoweth
((2) Erica Chenoweth, Maria J. Stephan: Why Civil Resistance Works: The Strategic Logic of Nonviolent Conflict. Columbia University Press, New York City 2011, ISBN 978-0231156837. In deutscher Übersetzung: Warum ziviler Widerstand funktioniert: Die strategische Logik gewaltfreier Konfliktbearbeitung, Nomos Verlag, Baden-Baden 2024, ISBN 978-3756018178, 57,24 Euro
(( 3) Erica Chenoweth: Civil Resistance: What Everyone Needs to Know. Oxford University Press, Oxford 2021, ISBN 978-0190244392, 56,74 Euro (Leider nur auf Englisch erhältlich, aber keine Angst, es liest sich sehr flüssig! Tipp: Via Fernleihe kostenlos in deine örtliche Bücherei bestellen.)
((4) Chenoweth 2021, S. 149. Siehe auch: https://wagingnonviolence.org/2016/02/uncovering-the-secret-history-of-struggle-in-west-papua/
((5) Siehe auch: Agenda für Klimagerechtigkeit. Mit der Verschiebung der UN-Klimagespräche ergreift das Glasgow-Abkommen die Initiative zum Klimaschutz, Artikel von Andrea(s) Speck, in: GWR 453, November 2020
((6) Übrigens: Wer lieber Englisch hört statt liest, dem sei ein Vortrag Chenoweths aus dem Jahre 2012 empfohlen: https://alchetron.com/Erica-Chenoweth