Der Anarchosyndikalist Wilhelm Wehner

| Dieter Nelles

Norbert Lenhard, Wilhelm Wehner. Anarchist, Syndikalist, Antimilitarist, Freigeist und Naturfreund. Herausgeber: Initiative gegen das Vergessen Schweinfurt, Verlag Rudolph Druck, Schweinfurt 2025, 144 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-911812-01-6

„Wenn man bedenkt, dass hier in Deutschland dreiviertel der gesamten Bewegung arbeitslos sind und unter schwersten physischen und seelischen Depressionen zu leiden haben“, schrieb Rudolf Rocker im März 1932 an Max Nettlau, „so ist es geradezu ein Wunder, dass noch eine Wochenzeitung, eine Monatsrevue und andere Dinge erscheinen können, dazu noch große Versammlungen in allen Teilen des Landes abgehalten werden.“ (1) Dass die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union Deutschlands(FAUD), die Anfang 1932 nur noch 4307 Mitglieder hatte, dieses „Wunder“ noch vollbringen konnte, war das Verdienst eines festen Kerns von Aktivist*innen. Diese waren auf lokaler Ebene in der Arbeiterbewegung verwurzelt und übten teilweise einen Einfluss aus, der weit über den Rahmen der kleinen FAUD hinausging. Zu diesem festen Kern der FAUD gehörte Wilhelm Wehner aus Schweinfurt. Norbert Lenhard, langjähriger Betriebsrat eines großen Auto- und Industriezulieferers und aktiv in der „Initiative gegen das Vergessen“ in Schweinfurt, hat nun ein Buch über ihn veröffentlicht. Wilhelm Wehner, geb. 1885, trat als 17-Jähriger in die SPD ein und schloss sich 1905 der kleinen Gruppe von Anarchist*innen in Schweinfurt an. Danach ging er auf Wanderschaft und wurde in Berlin Teil der anarchistischen Gruppe um die Zeitschrift „Revolutionär“. Als verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift verbüßte er mehrere Haftstrafen. 1909 schloss er sich dem Sozialistischen Bund von Gustav Landauer an und war einer der rührigsten Aktivisten der Gruppe in Mannheim und Stuttgart. 1913 kehrte er nach Schweinfurt zurück, wo er 1915 heiratete. Er wurde 1916 zum Militärdienst einberufen und kurze Zeit später „wegen unerlaubter Entfernung und erschwerten Ungehorsams“ angeklagt. „Er sei Anarchist“, erklärte er seinem Hauptmann, und „lasse sich nicht als Menschenmörder ausbilden“ (S. 43). Bei Ausbruch der Revolution wurde er „gewaltsam aus dem Gefängnis in Kaiserslautern“ befreit (S. 60). Wegen der Ausrufung der Räterepublik saß er 1919 mehrere Monate in Festungshaft. Wehner war einer der führenden Aktivisten der FAUD in Schweinfurt, die Ende 1919 knapp 100 Mitglieder hatte. Nach einem Streik bei der Firma Fichtel & Sachs verlor er als „Rädelsführer“ seinen Arbeitsplatz und lebte von 1927 bis 1933 in Nürnberg. Neben seinen Aktivitäten in der FAUD war Wehner engagiert bei den Naturfreunden, denen er seit 1913 angehörte, im Arbeitersport, in der Freidenker- und in der Sexualreformbewegung. Im März 1933 wurde er verhaftet und saß bis September in Schutzhaft im Bezirksgefängnis. Nach dem Krieg schloss er sich der Föderation Freiheitlicher Sozialisten an und korrespondierte bis 1957 mit Rudolf Rocker. Wehner konnte einen großen Teil seiner Bücher und Zeitschriften retten. Er hatte sie bei einem Kollegen in Kisten versteckt. Rudolf Rocker versorgte er mit anarchistischer Literatur aus seinen eigenen Beständen und Antiquariaten in ganz Deutschland. Wehner trat nach 1945 in die IG Metall ein. „Aber ganz isolieren kann man sich selbst nicht“, schrieb er an Rocker, „auch wenn es schwierig ist, mit unseren Ideen einzudringen.“ (S. 107) „Als Anarchist, Kriegsgegner und bekannter ‚Revoluzzer‘ nahm er politisch eine Minderheitenposition“ in der Schweinfurter Arbeiterbewegung ein, schreibt Lenhard. „Er war aber sicherlich nicht isoliert oder ausgegrenzt. Das zeigte sich nicht zuletzt bei seinem Begräbnis im Juni 1968. Laut Aussagen von Familienangehörigen erwies ihm eine sehr große Trauergemeinde die letzte Ehre.“ (S. 34) Norbert Lenhard hat ein interessantes Buch vorgelegt, das reich illustriert ist, da Wehner rund 600 Bilder hinterlassen hat. Das Buch ist auch ein gutes Beispiel für die These des verstorbenen Bert Altena, wie bedeutend die Erforschung des Anarchismus und Syndikalismus auf lokaler Ebene sein kann.