Eva Stützel: Macht voll verändern Rang und Privilegien in „hierarchiefreien“ Projekten, Verlag eurotopia, Beetzendorf 2024, 208 S., 22 Euro, ISBN 978-3-911460-01-9
Gruppen, die eine herrschaftsfreie Gesellschaft und weitgehende Hierarchiefreiheit anstreben, tun sich oft schwer damit, ihre internen Machtverhältnisse anzuschauen und zu bearbeiten. „Aber da Menschen unterschiedlich sind, entwickeln sich in Gruppen ohne explizite Hierarchie dann informelle Hierarchien, die häufig toxischer wirken als explizite Hierarchien“, schreibt Eva Stützel. Ihr Buch „Macht voll verändern“ richtet sich ausdrücklich an Menschen, die eine Gesellschaft ohne Machtmissbrauch aufbauen wollen, in der achtsam mit den Unterschieden untereinander umgegangen werden soll. Sie möchte dazu beitragen, „‘Macht’ aus der Tabuzone zu befreien und zu einem konstruktiven Umgang damit einzuladen“.
Dabei geht sie von ihren Erfahrungen, ihrem Leben im Ökodorf Sieben Linden sowie ihrer Arbeit als Beraterin und Prozessbegleiterin, aus. Die Autorin unterscheidet zwischen der destruktiven „Macht über“ und der konstruktiven „Macht mit“. Macht versteht sie positiv als Gestaltungsmacht und Möglichkeit, um Selbstwirksamkeit zu erleben und das Handeln anderer beeinflussen zu können. Dabei bezieht sie sich auf die Prozessorientierte Psychologie nach Arnold und Amy Mindell. Ihre wichtigste Inspirationsquelle ist die prozessorientierte Psychologin Julie Diamond. Grundhaltung sei die einer „tiefen Demokratie“ (Deep Democracy), in der alle Stimmen und auch Impulse aus unbewussten Ebenen wichtig seien.
Trotzdem frage ich mich, ob es nicht die Wahrnehmung verengt, wenn nahezu alle Beziehungen und Konflikte nur unter dem Aspekt der Rangordnung angeschaut werden – gibt es dann noch Raum für andere Erfahrungen und Perspektiven?
„In der Prozessarbeit wird betont, dass in jeder menschlichen Interaktion Rang eine große Rolle spielt“. Darum geht es in dem Buch. Der Rang ermögliche Macht, führt Eva Stützel aus, jedoch sei die Rangposition „nur in den seltensten Fällen eindeutig und klar definierbar“. Trotzdem spreche sie immer wieder „von hohem oder niedrigem Rang“, weil dies „zur Bewusstseinsbildung hilfreich“ sei, auch wenn die Rangposition einer Person „situativ, subjektiv und sehr fluide“ sei.
Privilegien und Macht
Die Deep Democracy unterscheidet vier Rangdimensionen: „Sozialer Rang (Status), Persönlicher Rang (Kompetenzen und Fähigkeiten), Psychologischer Rang (Selbstsicherheit, sozial-emotionale Kompetenz, Überzeugung, dass es einen Sinn gibt), Struktureller Rang (definierte Position/Rechte)“. Der Rang habe viel mit Privilegien zu tun, und unbewusste Rangkonflikte seien „die größte Ursache für Konflikte. Der Schlüssel zu einem konstruktiven Umgang mit Rang heißt: Rangbewusstsein“, und so geht es viel darum, wie solche Konflikte aufgelöst werden können. Die Autorin illustriert dies mit Beispielen.
Vieles finde ich überzeugend, auch die Empfehlung, gestaltungsfreudigen Leuten formale (Macht-)Positionen zu geben, statt sie mit Gleichheitsanforderungen zu frustrieren. Trotzdem frage ich mich, ob es nicht die Wahrnehmung verengt, wenn nahezu alle Beziehungen und Konflikte nur unter dem Aspekt der Rangordnung angeschaut werden – gibt es dann noch Raum für andere Erfahrungen und Perspektiven? Ein weiterer Ansatz sind die Quellen-Prinzipien nach Peter König. Darin geht es um die besondere Bedeutung einer Gründungsperson für ein Vorhaben. Die „Ordnung“ dieser ersten Quelle müsse berücksichtigt werden, denn sie habe die Aufgabe, das Projekt „zu halten und zu schützen“. Manches scheint mir ideologisch aufgeladen. Unkritisch bezieht sich Eva Stützel ausgerechnet auf die „Ordnungen … in den Systemischen Aufstellungen nach B. Hellinger“, dessen reaktionäre Ausfälle und emotionale Gewalt in der Therapie belegt sind.
Diese Ordnungen zu respektieren, trage zu „Wohlbefinden und Gedeihen“ bei, behauptet die Autorin, das zeige „die empirische Erfahrung aus ganz vielen Aufstellungen“. Nur ganz vorsichtig merkt sie an, dass das nicht immer gilt. Zu kurz kommen die Erfahrungen mit Macht und Gewalt in Alternativprojekten wie AAO (Aktionsanalytische Organisation, Friedrichshof, Otto Muehl) in den 1970/80er Jahren oder aktuell Go & Change. Nur kurz benennt Eva Stützel einmal die Möglichkeit des Machtmissbrauchs.
Gleich noch die Welt retten
Manche Aussagen wirken naiv, beispielsweise: „Stell Dir eine Welt vor, in der alle Menschen, auch Politiker:innen und alle Konzernchef:innen sich ihrer Privilegien bewusst sind und sie dafür einsetzen, dass möglichst viele Menschen ihr Potenzial entfalten!“. Oder: „Nur wenn wir alle unsere Selbstwirksamkeit entfalten können und uns dabei bewusst sind, wie genau dieser Wunsch nach Selbstwirksamkeit all unsere Beziehungen und Interaktionen beeinflusst, nur dann kann Friede herrschen – im Großen wie im Kleinen.“.
Mit solchem „wir“ und Alternativlosigkeiten wie „nur wenn“ lenkt die Autorin mich von ihrem Anliegen und ihren Gedanken und Erfahrungen darin ab. Auf allgemeingültige Wahrheiten reagiere ich zunächst mit Abwehr statt Neugier. Die Fülle der Theorien, Studien und Versuchsergebnisse suggeriert Geschlossenheit, was mich kaum zu eigenen Fragestellungen einlädt, auch wenn im Buch immer wieder Reflexionsfragen eingestreut sind. Aber die haben mir zu viele Leitplanken. Ich kenne die Autorin und schätze ihr Engagement für das Verständnis von Gruppenstrukturen und Kommunikation. Grundsätzlich teile ich ihr Anliegen und möchte dies nicht als Verriss verstanden wissen, sondern als kritisch wertschätzendes Feedback.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.