Das Verhältnis von Anarchist-*innen zum Antisemitismus ist schon häufiger untersucht worden. Über die Geschichte hinweg setzten Anarchist*innen sich in ihrer Mehrzahl für die Emanzipation der Jüdinnen und Juden und gegen Antisemitismus ein. Zugleich aber gab es schon im 19. Jahrhundert antisemitische Ausfälle etwa bei Michail Bakunin. Spätestens ab dem Sechs-Tage-Krieg 1967, nachdem sich die Haltung zu Israel innerhalb der Neuen Linken radikal wandelte, wurde auch der Anarchismus zu einer „wichtigen Stimme im antizionistischen Chor“ (Werner Portmann). In der Tradition dieses Antizionismus gab es auch nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 Positionen innerhalb des libertär-sozialistischen Spektrums, die in dem Terror weniger ein Pogrom als einen Akt des Widerstands sahen. Diese Feststellung ist Ausgangspunkt des vorliegenden Bandes, der fünfzehn Texte zum Themenkomplex beisteuert. Im „Krieg der Schreier“ (Lea Susemichel), einer erbittert geführten Debatte, in der nur die Lautesten gehört werden und die meisten wahrscheinlich gar nicht repräsentiert sind, ist ein Buch an sich schon lobenswert, dem explizit „an einem Dialog und [an] Verständigung“ (Frederik Fuß) gelegen ist. Für eine fundierte Auseinandersetzung liefert der Band einige wichtige Grundlagen. Trotz des expliziten Engagements gegen Antisemitismus von namhaften Anarchist*in-nen wie Rudolf Rocker, hat es immer wieder auch antisemitische Äußerungen und Haltungen in anarchistischen Kreisen gegeben. Wie der Herausgeber Frederik Fuß in seinen „12 Thesen zu Antizionismus und Antisemitismus“ aufzeigt, hat beispielsweise der konzeptuelle Gegensatz von „künstlich“ (Staat) und „natürlich“ (befreite Gesellschaft) im Anarchismus als „Einfallstor für antisemitische Denkweisen“ gedient. Fuß kritisiert diese antisemitischen Tendenzen, ohne das anarchistische Projekt in Gänze zu verwerfen. Die Anarchist*innen, betont er, „bekämpfen die Feinde der Freiheit aufs Schärfste, ohne Apologeten der kümmerlichen bürgerlichen Freiheit zu werden“. Diese grundsätzlich positive Wertung teilen nicht alle Beiträge, wobei gerade die heftigste Kritik dermaßen polemisch vorgetragen wird, dass an ihrer Plausibilität Zweifel aufkommen. Wenn etwa Timo Gambke dem Anarchismus wegen des Aufgreifens poststrukturalistischer Theorie „Begriffslosigkeit und Geschichtsvergessenheit“ attestiert und ihm nachsagt, die „vulgären Ergüsse eines intellektuell verwesenden Postkolonialismus nachzuplappern“, ist das durch die Pauschalität so falsch wie im Tonfall daneben, dass man auch den Rest des Textes getrost vergessen kann. Theoretisch ergiebiger sind, neben den Texten von Fuß, Beiträge wie der von Torsten Bewernitz, der unter Bezugnahme auf die anarchistische Tradition erläutert, warum das Massaker der Hamas unter keinen Umständen als „Widerstand“ zu bezeichnen ist. Dazu diskutiert er Widerstand als „eine legitimierende Diskursstrategie“, die in linker Debatte und Praxis meist positiv konnotiert ist. Den so verstandenen Widerstand setzt er in Bezug zum im Anarchosyndikalismus zentralen Konzept der Direkten Aktion. Indem er das antisemitische Pogrom der Hamas anhand der Praxiskonzepte im Anarchismus diskutiert, liefert Bewernitz auch einen guten Beitrag zur anarchistischen Theorie. Dass im Band ausschließlich Männer schreiben, spiegelt vielleicht einen von Männern geprägten Diskurs im Gegenwartsanarchismus ebenso wider wie die relative Gleichgültigkeit den Geschlechterverhältnissen als Herrschaftsverhältnissen gegenüber. In der Sache begründet ist es nicht. Im anarchistischen Kontext hatten sich viele Frauen gegen den Antisemitismus stark gemacht. So hatte etwa Auguste Kirchhoff 1924 in der Zeitschrift Die schaffende Frau, die dem syndikalistischen Frauenbund nahestand, gegen den Antisemitismus Stellung bezogen. Sie entkräftet dabei antisemitische Vorurteile, um schließlich jeden Rassismus (zu denen sie den Antisemitismus zählt) zu verdammen und aus libertär-sozialistischer Sicht darauf zu beharren, dass „einzig würdig ist, dass alle ihren Platz an der Sonne haben können“. Im Band wird aber an vielen Stellen deutlich, dass Antisemitismus auch anders funktioniert als Rassismen. Anders als Rassismen, die die jeweils diskriminierte Gruppe als „minderwertig“ und defizitär einzustufen, sieht der Antisemitismus die Jüdinnen und Juden nicht unbedingt als irgendwie untergeordnet an, sondern immer wieder auch als mächtig und herrschend. Das äußert sich in antisemitischen Tiraden von Linken ebenso wie in den zahlreichen antisemitischen Verschwörungsnarrativen. Jüdinnen und Juden wurden als Bolschewisten und Kapitalisten gleichermaßen diffamiert. Ein Antikapitalismus, der sie mit der Geldwirtschaft assoziierte, hat auch die antisemitischen Ausfälle von „Teilzeitanarchisten“ wie Karl Grün, Richard Wagner und Wilhelm Marr im 19. Jahrhundert begründet, wie Olaf Briese im Band aufzeigt. Wie die meisten Sammelbände wartet auch das bei Syndikat A erschienene Buch mit qualitativ recht unterschiedlichen Beiträgen auf. Wie andere Bände auch, produziert es durch das nicht Gesagte auch Leerstellen, wie etwa feministische Perspektiven oder ein stärkeres Eingehen auf die globale Dimension der Debatte. Nichtsdestotrotz ist es eine hörenswerte Positionierung im „Krieg der Schreier“.
Jenseits des antizionistischen Chors
Ein Sammelband diskutiert das Verhältnis von Anarchismus und Antisemitismus
Frederik Fuß (Hg.) Anarchistische Scheidewege. Zum Verhältnis von Anarchismus und Antisemitismus. Syndikat A, Moers 2025, 196 Seiten, 12,90 Euro, ISBN 978-3-949036-16-3