Je länger die DDR dauerte, um so mehr nahm ihre Militarisierung zu. Wehrkunde-Unterricht mit praktischen Übungen, vormilitärische Ausbildung während der Lehrzeit und in der Gesellschaft für Sport und Technik, 18 Monate Grundwehrdienst, Militärlager während des Studiums, Reservistendienst – im schlimmsten Fall alle zwei Jahre, Kampfgruppen in den Betrieben – dies macht das Ausmaß deutlich. Mit dem Wehrdienstgesetz von 1982 konnten auch Frauen in der DDR zum Dienst in der Nationalen Volksarmee verpflichtet werden. An den Anfang seines autobiographischen Buchs stellt Wolfgang Herdzin Losungen und Worte aus der Zeit der kirchlichen DDR-Friedensbewegung, um an den Widerstand gegen die Militarisierung zu erinnern und auch weiterhin zum Frieden anzustiften. „Es gibt keinen Weg zum Frieden, Frieden ist der Weg.“ „Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung“, so das Motto des konziliaren Prozesses. „Der Friede fängt in mir an, ich kann ihn erzeugen und kultivieren“, so lautet eine goldene Regel für Wolfgang Herdzin, nach der er zu leben versucht. Geboren 1955 in Eisleben, wuchs Herdzin in einem katholischen Elternhaus auf. Seine christliche Erziehung und sein Engagement in der Jungen Gemeinde und als Meßdiener in der katholischen Kirche bescheren ihm die, in der DDR für so einen Fall, erwartbaren Probleme. So will er z. B. seinen Jugendkaplan im Staatsbürgerkunde-Unterricht hospitieren lassen. Ihm wird mit Relegation von der Erweiterten Oberschule (EOS) gedroht und er muss ausführlich seinen Klassenstandpunkt darlegen. U.a. durch diesen Jugendkaplan, der Mitglied im Aktionskreis Halle ist, hat er bereits als Jugendlicher Zugang zu oppositionellen Gedanken und Schriften – auch aus dem Westen – und kann im kirchlichen Kreis darüber diskutieren, sich eine Meinung bilden und eine Haltung finden. Zu seiner Lektüre gehören Kurt Marti und Dietrich Bonhoeffer, Reiner Kunze, Alexander Solschenizyn, Ulrich Schacht und immer wieder Wolf Biermann. Viele Texte schreibt er mit der Hand für sich ab und gibt sie auch weiter. Mit Reiner Kunze ergibt sich ein Briefwechsel, aus dem Herdzin zitiert. Nach dem philosophisch-theologischem Studium an der kirchlichen Hochschule Erfurt gelingt ihm mit dem „bildungspolitischen Trick“, einer bischöflichen Delegierung, der Zugang zum Aufbaustudium Psychologie an die Humboldt-Universität. Er beschäftigt sich unter anderem mit antiautoritärer Erziehung, religionslosem Christentum, mit Entwicklungspsychologie, mit der Praxis der Gesprächstherapie und Psychotherapie. Bei solchen Studien, Literatur und Gesprächen bleibt es nicht aus, dass das Ministerium für Staatssicherheit aufmerksam wird und Nachforschungen anstellt. So präsentiert Herdzin Stasi-Akten-Auszüge zu verschiedenen seiner Lebensabschnitte. Mehrere Freunde und Freundinnen Herdzins werden aus politischen Gründen inhaftiert. Aus Anlass der Aufforderung zu einer Einberufungsüberprüfung schreibt er am 9.4.1984 eine Erklärung an das Wehrkreiskommando. „Aufgrund meiner christlich geschärften Motivation lehne ich derzeitig den Wehrdienst grundsätzlich ab.“ In einem privaten Brief schreibt er: „Ich habe nochmal das Gelöbnis der Bausoldaten gelesen – unannehmbar.“ Er hat damit seinen Kriegsdienst in der DDR total verweigert, was nur eine verschwindende Minderheit der Wehrpflichtigen getan hat. Ab Mitte der 80er Jahre engagiert sich Wolfgang Herdzin im Ostberliner Friedenskreis Friedrichsfelde. In diesem Kreis begegnet er vielen Aktiven der Friedensbewegung. Sie machen sich Gedanken über das System der DDR und versuchen, trotz aller staatlichen Verbote und Repressionen politisch wirksam zu werden. So agiert der Friedenskreis als Mit-Initiator bzw. Unterstützer von Friedensseminaren und -werkstätten, Menschenrechts- und Ökologieseminaren sowie von Kirchentagen der „Kirche von unten“ – entfaltet also das ganze Programm der oppositionellen Aktivitäten. Dann kommt der Herbst 1989. Wolfgang Herdzin leitet im Oktober den Friedenskreis ein: „Es wechseln die Zeiten, da hilft keine Gewalt.“ Im Dezember, nach dem Mauerfall, versucht er den rasenden Wandel der Verhältnisse zu erfassen: „Jeder Tag steht und stand für Jahre.“ Zehn Monate später findet der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik statt. Herdzin stellt fest: „Nein, im Augenblick gibt es kein Hoffnungslicht. Trotzdem bleibt da eine, auch meine Vision, dass mit der Übernahme durch die westdeutsche Gesellschaft das Beste nicht gewählt und das letzte Wort der Geschichte nicht gesprochen ist.“ Sein Ziel bleibt weiter das Anstiften zum Frieden, praktisch, konkret und verbindlich – auch mit diesem Buch.
Mitglied im Vorstand der Havemann-Gesellschaft
Anmerkung: Der Vorlass Wolfgang Herdzins befindet sich im Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft. https://www.havemann-gesellschaft.de/fileadmin/robert-havemann-gesellschaft/archiv/nachlaesse/H/WHerdzin_Findbuch_online.pdf