Die Berliner Kampagne „Deutsche Wohnen enteignen!“ hat den Begriff der Enteignung wieder in einen breiteren, gesellschaftlichen Diskurs eingeführt. Als Konzept ist Enteignung – und auch gerade die Enteignung von Privatbesitz von Wohnraum – nicht neu, wie eine Publikation des Verlags Monte Verità beweist. Ursprünglich veröffentlichte Peter Kropotkin den Text „Enteignung“ im Jahr 1883 als Artikelserie in der anarchistischen Zeitschrift La Révolté in Frankreich, 1886 erschien dann eine überarbeitete und erweiterte englischsprachige Fassung bei Freedom Press in London, die der vorliegenden Übersetzung zugrunde liegt. Er selber erklärte zur Bedeutung der Enteignung im Diskurs: „Anarchistische Vorstellungen im Allgemeinen und die Idee der Enteignung im Speziellen finden unter unabhängigen Charakteren und jenen Menschen, für die Müßiggang nicht das oberste Ziel ist, viel mehr Sympathie, als wir geneigt sind, uns vorzustellen.“ (S. 16) Im weiteren Verlauf des Textes thematisiert er die Enteignung in Bezug auf den (menschenwürdigen) Wohnraum und die daraus resultierende Bedeutung für die soziale Revolution. „Die Enteignung der Wohnhäuser birgt im Keim die ganze soziale Revolution. Von der Art ihrer Umsetzung wird der Charakter der weiteren Ereignisse abhängen. Starten wir auf einem guten Weg, welcher zum anarchistischen Kommunismus führt, oder bleiben wir im Morast des despotischen Individualismus stecken.“ (S. 65) Das klingt erstaunlich aktuell – gerade, wenn man in einer stark gentrifizierten Großstadt wie Berlin lebt. Die Wohnungsfrage ist für Kropotkin ein zentraler Aspekt bei der Verwirklichung des von ihm angestrebten anarchistischen Kommunismus. Optimistisch schreibt er damals noch: „An dem Tag, an dem Enteignung stattfindet, an diesem Tag werden die ausgebeuteten Arbeiter begreifen, dass neue Zeiten angebrochen sind, dass sie nicht länger das Joch der Reichen und Mächtigen tragen müssen, dass tatsächlich Gleichheit proklamiert wurde auf den Dächern; dass diese Revolution ein Faktum ist und keine Theater-Fiktion, wie viele derer zuvor.“ (S. 59f) Neben dem Text von Kropotkin gibt es ein Nachwort, das u.a. eine Passage aus dem Text über den jüdischen Bankier Rothschild einordnet, da dies bei vorschnellem Lesen schnell zu einem Antisemitismus-Vorwurf gegen den russischen Anarchisten führen könnte. Vor dem Hintergrund, dass Kropotkin zwar ein Name ist, auf den sich gerne in der Szene positiv bezogen wird, der aber wenig gelesen bzw. höchstens auf seine „Gegenseitige Hilfe in Mensch- und Tierwelt“ reduziert wird, ist es löblich, dass ein weniger häufig rezipierter Beitrag publiziert wurde. Der Text klingt – trotz einiger auf Grund des Alters überholter Ansichten und Aussichten – noch sehr modern und bietet den einen oder anderen Denkanstoß. Gerade in Bezug auf die drängende Frage, wie Wohnraum in einer wachsenden Gesellschaft adäquat verteilt werden könnte, ist das spannend.
Enteignung
Peter Kropotkin Enteignung Monte Verità / Edition Wilde Mischung, Wien 2023, 60 Seiten, 10 Euro, ISBN 978-3-900434-58-8.