Wer hätte uns damals wohl so viel Langlebigkeit zugetraut? Wir selbst wohl am allerwenigsten. Aber wir sind noch da. Ob 50jähriges Bestehen des Paranoia-City Buchladens in Zürich oder der Buchladen „Jos Fritz“ in Freiburg. Ob nun über 53 Jahre Zeitschrift Graswurzelrevolution, bzw. im Sommer 2025 die 500. Ausgabe, oder eben nächstes Jahr 50jähriges Jubiläum des Libertad Verlags. Auch die Bücherkiste in Siegen konnte 2024 ihr 50. Jubiläum feiern. Ein Freundeskreis hat dies zum Anlass genommen, eine Homage an das linksradikale Buch zu verfassen. Die Totgesagten leben noch. Es ist mitunter erschreckend wie die Zeit vergeht. Da treffe ich seit vielen Jahren einen alten Weggefährten der West-Berliner Linken wieder: Hausbesetzungen, Schwarzer Block, Anti-AKW, Gender (jawohl, damals schon), und eine Regenbogen-Fahne, die seinerzeit noch für eine undogmatische Linke stand, bevor die Homosexuellen-Bewegung sie sich aneignete, was völlig okay war. Ich arbeitete damals im Regenbogen-Buchvertrieb und Matze baute die Edition ID-Archiv auf in den 1980er Jahren. Seit den 1970ern, in den Gründungsjahren einer Bewegung von undogmatischen Linken, einer Nach-68er-Zeit, gab es ein großes Netz von libertären und/oder links-alternativen Buchhandlungen, Büchertischen, Infoläden und Verlagen. Die Publikationen, selbst Gedichte wie etwa die von Peter-Paul Zahl (PPZ), erreichten oft Auflagen im fünfstelligen Bereich. Es war eine Hochzeit neuer sozialer Bewegungen, wie sie heute kaum noch vorstellbar ist. Die sieben Redaktions- und Heraus-geber*innen des Buches„50 Jahre Bücherkiste“ haben nicht nur eine Art Geschichte des linken Buchhandels veröffentlicht, sondern auch eine Kontinuität des Lesens von den 1970er bis heute dokumentiert. Es liest sich hoffnungsvoll, wie die Menschen mit den Jahren sich über Bücher sozialisieren, ihr Leben in die eigenen Hände nehmen und sonstige Lebensentscheidungen treffen, weil sie diese Buchhandlung betreten haben. Als ein Motto dieses Lebens wurde das Amtsgericht Siegen von 1982 zitiert: „Ein geregelter Geschäftsbetrieb ist nicht erkennbar“. Sie haben alle gefoppt! Und wie! Neben einem ausführlichen Interview mit dem „Guten Geist“ der Bücherkiste, Horst Ablas, berichten hier 100 Kund*innen von ihren Begegnungen mit der Bücherkiste, die oft auch als erste Anlaufstelle in geistiger wie zwischenmenschlicher Beziehung genutzt wurde. Zeitdokumente ergänzen den Band. Wo doch oben schon mal auch der Paranoia City Buchladen erwähnt wurde, ein kleiner Wermuthtropfen: Das Buch „bolo’bolo“ des Schweizer Autors P.M. taucht gleich in zwei Beiträgen auch als Foto auf, allerdings hier der„Raubdruck“ vom Osnabrücker Packpapier Verlag und nicht vom kleinen Originalverlag. Aber auch das gehört als Thema zur linken Literaturgeschichte. Auf zwölf Seiten Anhang versammelt das Buch die individuelle, alphabetische Literaturliste der über die Jahrzehnte hinweg wichtigen Bücher und Zeitschriften des Buchladens und seiner Leser*innen. Das ist ein ganz anderer Kanon, als jener, der heute als Kult- und/oder Mainstream gelesen werden kann. Wir waren alternativ und werden es bleiben. Hier schlug auch das Herz für die Kleinverlage, für die Bücherwürmer jenseits des Konsums. Irgendwie macht es mich auch ein wenig stolz, dass wir solche Projekte hervorgebracht haben, die mehr als nur einem Zeitgeist entsprachen, die eine Tradition von Widerstand am Leben halten. Und das ist gut so.
Die Totgesagten leben noch
50 Jahre Bücherkiste Siegen und ein wunderbares Buch dazu
Benjamin Bäumer, Peter Barden, Martin Hoffmann et al. (Hrgb.), 50 Jahre Bücherkiste. Eine politisch-literarische Inventur. 1974-2024. Eigenverlag, Siegen 2025, 224 Seiten, zahlr. Abb., 25 Euro. Bezug über: Buchhandlung Bücherkiste, Bismarckstr. 3, 57076 Siegen. Mail: buecherkistesiegen@online.de oder: Tel.: 0271 / 45135.