Die Urwälder Amazoniens

| Horst Blume

Sergej Gordon/Miriam Lay Brander (Hg.)Die Urwälder Amazoniens. Lebensräume, Kontaktzonen, Projektionsfelder Neofelis Verlag, Berlin 2024,212 Seiten, mit 14 Farb- u. 
4 S/W-Abbildungen, 24 Euro, ISBN 978-3-95808-432-2

Im November 2025 findet im brasilianischen Belém die Weltklimakonferenz (COB 30) statt. Bis zu einhunderttausend BesucherInnen kommen dorthin und die Augen der Weltöffentlichkeit werden sich auf die Großstadt am Amazonas richten. Ob sie dort echte Fortschritte bei Klimaschutzvereinbarungen erkennen können, bleibt abzuwarten. Das Gebiet Amazonien entlang des 6.400 Kilometer langen Flusses erstreckt sich nicht nur über Brasilien, sondern ebenfalls über Ecuador, Peru, Kolumbien, Venezuela, Guyana, Suriname und Französisch-Guyana.

Das von Sergej Gordon und Miriam Lay Brander herausgegebene Buch „Die Urwälder Amazoniens“ beschäftigt sich in unterschiedlichen Beiträgen mit der Entdeckung, Erforschung und Ausbeutung dieser für das Weltklima so entscheidenden Region. Die Erschließung dieses riesigen Gebietes und die anschließende ökonomische Nutzbarmachung geht auf Kosten der Indigenen, die mit ihrer an die Umwelt angepassten Lebensweise den Schutz der Urwälder bisher gewährleisteten.

Medienaktivismus

Im Beitrag „Cumba für den Yasuni“ wird beschrieben, wie die indigene Gemeinschaft der Waorani in Ecuador ihr Territorium mit neuen, unkonventionellen Mitteln gegen übergriffige Erdölkonzerne verteidigt. Sie produzierte mit dem bekannten Musiker Bayron Caicedo das Musikvideo „Mi bella Amazonia“, das „mit der Wirkungsmacht inszenierter, symbolischer Bilder, strategischer Rhetorik und sprachlicher Performanz“ im ganzen Land Aufsehen erregte und in den „sozialen Medien“ Millionen Klicks erzielte.  Die harten Holzspeere, die die Waorani-MedienaktivistInnen in den Boden rammten, waren als Warnung und Drohgebärde zu verstehen.

Was die Indigenen erwartet, wenn ihr Territorium von internationalen Konzernen ausgebeutet wird, erfährt mensch in weiteren Buchbeiträgen. Während des Zweiten Weltkriegs führte Shell Lufterkundungen per Flugzeug durch, um unzugängliche, von der ecuadorianischen Regierung zugesprochene Konzessionsgebiete zu analysieren. Von 1960 bis 1978 wurde der Urwald von einem mindestens 20.000 Kilometer langen Gitternetz durchzogen, um systematisch nach Bodenschätzen zu suchen. Um alle einhundert Meter Sprengladungen mit Dynamit in 20 bis 30 Meter Tiefe gleichzeitig zu zünden, mussten bis zu fünf Meter breite Pfade über Tausende von Kilometern angelegt werden. Die Waorani verteidigten sich gegen diese Erkundungen, wobei es zu tödlichen Zusammenstößen kam. Die Bergbauaktivitäten führten zu einer großen Lärmbelästigung im Urwald: Dynamitexplosionen, andauernder Flugverkehr und Kettensägen. Wildtiere wurden vertrieben und konnten Pflanzensamen nicht mehr verteilen, die Indigenen nur noch wenige Wildtiere jagen.

Im artenreichen Kanton San Juan Bosco kam es auf der Suche nach Kupfer-, Gold- und Silbervorkommen zu Enteignungen und Landnutzungskonflikten zwischen einem chinesischen Unternehmen, Indigenen und Mestizen. Diese Auseinandersetzungen werden auf dem Rücken der Landlosen ausgetragen. Im Buch wird darauf hingewiesen, dass durch staatlich geförderten „Neo-Extraktivismus“ bei Bodenschätzen Mittel für die Finanzierung einer sozialeren Politik eingesetzt werden.

Kautschuk

Ein anschaulicher Beitrag zeigt, wie wenig Erfindungen von Indigenen in Lateinamerika in der westlichen Welt anerkannt werden. Es geht um Kautschuk, auch Gummi genannt. Dieser elastische und dehnbare Stoff hat eine große Bedeutung in der Technik und ist für die Fortbewegung (Fahrrad, Auto) unersetzbar. Bereits 1613 berichtete eine Quelle über die Weiterverarbeitung der Bestandteile des Hevea brasiliensis-Baumes zu Kautschuk.

Allerdings wurde die indigene Kreativität und Kompetenz aus kolonialistischer Perspektive in der Wissenschaft „als fast belanglos“ abgetan und bestenfalls als Vorstufe späterer Entwicklungen bezeichnet. Verwiesen wurde hierbei auf die westliche Erfindung der „Vulkanisation“, der Stoffumwandlung mit Hilfe von Schwefel. Bei der indigenen Vorgehensweise wurde dieser Effekt allerdings ohne Chemie Jahrhunderte vorher durch ein ausgeklügeltes System der Räucherung erreicht. Der von Belém ausgehende Handel mit indigenen Kautschukprodukten, beispielsweise Gummihandschuhen, spielte bis Mitte des 19. Jahrhunderts weltweit eine bedeutende Rolle. Die Indigenen selbst mussten allerdings als Kautschuk-ZupferInnen unter grausamer Zwangsarbeit ihr Leben fristen.
Mehrere Beiträge gehen auf die ersten Begegnungen von weißen Eroberern und Missionaren mit den UreinwohnerIn-nen ein und analysieren, wie während der Kolonisierung diese unbekannte Welt von ihnen wahrgenommen wurde. Abgeschlossen wird der Band mit Überlegungen zu Urwaldromanen, in denen ihre AutorInnen einen verlorenen paradiesischen Urzustand aufscheinen lassen und in neueren Versionen die sich anbahnenden ökologischen Katastrophen zum Thema machen.
Ein Teil der Buchbeiträge entstammt einer Fachtagung des Zentralinstituts für Lateinamerikastudien (ZILAS) und ist aufgrund eines Fachjargons für Laien nicht immer leicht lesbar, ein anderer Teil durchaus.