editorial

„Krieg ist Frieden!“

Orwells Dystopie und die Gegenwart

| Bernd Drücke

GWR 504 Titelseite

Liebe Leser*innen,
„Krieg ist Frieden! Freiheit ist Sklaverei! Unwissenheit ist Stärke!“ Diese Parolen prangen in George Orwells Roman „1984“ am „Ministerium für Wahrheit“. In seiner Dystopie beschrieb er 1949 einen fiktiven totalitären Überwachungsstaat im Jahr 1984. Dort wird die Bevölkerung unterdrückt, jeder Schritt überwacht. Die von der Partei eingeführte Amtssprache ersetzt oder streicht schädliche Begriffe wie „Gerechtigkeit“ und „Demokratie“. Fernseher, die rund um die Uhr Staatspropaganda ausstrahlen, können alle Wohnzimmer überwachen. „Big Brother is watching you“ steht überall, Kunst wird zensiert, die Geschichte neu geschrieben, Menschenrechte werden abgeschafft.
Heute erkennen wir nicht nur in der Trump-Autokratie orwellsche Züge.
Die Parole „Krieg ist Frieden!“ hat sich offensichtlich auch im Nobelpreiskomitee in Stockholm durchgesetzt, als es im Oktober 2025 der extrem rechten venezolanischen Politikerin und Trump-Verehrerin María Corina Machado den Friedensnobelpreis verlieh. „Wer weiß, wofür sie steht, erkennt, dass an ihrer Politik nichts auch nur annähernd Friedliches ist. Wenn dies im Jahr 2025 als ‚Frieden‘ gilt, dann hat der Preis selbst jegliche Glaubwürdigkeit verloren. Als Venezolanerin und US-Amerikanerin kenne ich genau, wofür Machado steht. Sie ist das lächelnde Gesicht der Washingtoner Regimewechselmaschine, die gewandte Sprecherin für Sanktionen, Privatisierung und ausländische Interventionen, präsentiert im Gewand der Demokratie“(1), kommentiert die Journalistin Michelle Ellner treffend.
Im November 2025 wurde bekannt, dass der mit 100.000 Euro dotierte Westfälische Friedenspreis 2026 an die NATO und NATO-Generalsekretär Mark Rutte geht. Ein Friedenspreis für Kriegsverbrecher! Die NATO, das größte Militärbündnis der Weltgeschichte, hat 1999 einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die damalige Bundesrepublik Jugoslawien geführt. Damit hat sie die Büchse der Pandora geöffnet und eine Blaupause für Putins völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine geliefert. Die NATO hat gezeigt, dass man das Völkerrecht ignorieren kann, wenn man mächtig genug ist. Sie hat damit Putin, Netanjahu und anderen Kriegsverbrechern signalisiert, dass sie das auch tun können, wenn sie entweder so mächtig sind wie die russische Atommacht oder die Supermacht USA als „Waffenbruder“ haben, wie das rechtsextreme Netanjahu-Regime.

Die GWR 504

In der GWR lassen wir oft Aktivist*innen von New Profile, Combatants for Peace und Palestinians and Jews for Peace zu Wort kommen. Diese Graswurzelgruppen bauen Brücken, verweigern Feindschaft und den Massenmord auf Kommando. Nun ist Israels Graswurzelbewegung massiv bedroht. Netanjahus neues NGO-Gesetz droht, viele dieser Initiativen handlungsunfähig zu machen, berichtet Christiane Berg. Ihr Artikel „Ziviler Mut unter Beschuss“ (Seite 1 und 7) wird ergänzt von Britta Schweighöfer, die mit „Gewaltfreie Lösungen“ (S. 7) aufzeigt, dass ein anderer Weg für Israel und Palästina möglich ist.
Die belarussische Menschenrechtsaktivistin Olga Karach skizziert mit „Der Aufbau einer Friedenslinie“ (S. 8f.) ihre Vorstellungen, wie eine Demilitarisierung entlang der „Frontlinie“ in Osteuropa Realität werden könnte.
Die War Resisters’ International fordert „Solidarität mit den Gefangenen für den Frieden!“ (S. 9). Alexander Amethystow analysiert mit „Kriegsbereit“ (S. 10) die Kriegsübungen von NATO und Russland an der gemeinsamen Grenze.
Für mich ein Highlight dieser Ausgabe ist das Gespräch, das Markus Beinhauer und ich mit Henning Melber geführt haben: „Der lange Schatten des deutschen Kolonialismus“ (S. 3ff.). Ans Herz legen möchte ich Euch als Ergänzung dazu die auch musikalisch inspirierende 65minütige Radio-Graswurzelrevolution-Sendung (2) mit dem deutsch-namibischen Politikwissenschaftler.

„Wir sind nicht alle, es fehlen die Gefangenen“

Der Antifaschist*in Maja drohen in Ungarn 24 Jahre Haft unter menschenunwürdigen Bedingungen. Dazu schreibt GWR-Mitherausgeberin Silke: „Schon zwei Jahre im Knast, kein Ende in Sicht“ (S. 1, 6).
Um die Repression der türkischen Erdoğan-Autokratie gegen die Anarchafeministin Pınar Selek geht es auf Seite 6.
Dortmunds Polizeichef hat angekündigt, dass er Obdachlosen das Leben in der Innenstadt „so unbequem wie möglich machen“ will. Diese soziale Kälte hat Zoa veranlasst den obigen Kommentar „Stadt ohne Obdach“ für die GWR zu schreiben. Um diese obszöne Politik gegen Arme in ihrer ganzen Menschenverachtung zu begreifen, lest bitte auch Elmar Wigands Kolumne auf Seite 22: „Superreiche Soziopath*innen? Die Block-Entführung und der Zustand der herrschenden Klasse“.
Einen kleinen Sieg für die Pressefreiheit und für Radio Dreyeckland feiern wir auf Seite 24.
Mut machen auch die Anarchistinnen Clara Wichmann und Traudchen Caspers, die uns von Gisela Notz und Antonia Lammertz vorgestellt werden (S. 13f.).
Empfehlen möchte ich zudem die kontroversen Beiträge zum Thema „Religionskritik und Anarchismus“ (Seite 16 f.), „Aus dem Leben eines Anarchisten aus der Nordpfalz“ (Seite 18 f.), das Interview zu Gustav Landauer und dem Kulturzionismus (Seite 20 f.), den Rückblick auf die 30. Linke Literaturmesse (S. 15) und das Theaterstück „Das Rote Haus“ (S. 23).

Anarchie und Glück,
Bernd Drücke (GWR-Koordinationsredakteur)

(1) Wenn María Corina Machado den Friedensnobelpreis erhält, hat „Frieden“ seine Bedeutung verloren, Artikel von Michelle Ellner, https://amerika21.de/analyse/277316/machado-frieden-bedeutung-verloren
(2) https://www.nrwision.de/mediathek/radio-graswurzelrevolution-der-lange-schatten-des-deutschen-kolonialismus-251028/