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Digitale Selbstüberwachung
Optimier-Dich-Selbst gehört zum Credo neoliberaler Subjektivität. Selbstoptimierung bedeutet die „freiwillige“ Selbstanpassung an die Verwertungsbedingungen des Kapitals. Self-Tracking – die digitale Selbstüberwachung/-kontrolle – ist das (Selbst-)Tuning des postmodernen Menschen. Die digitale Protokollierung des eigenen Lebens dient der Selbstvermessung, der Selbstbeobachtung und der Selbstoptimierung. Wie genau ticke ich, was ist ganz speziell für mich wichtig und richtig, oder eben genau falsch. Wie sehen meine Gewohnheiten aus und wie interagiere ich mit meiner Umwelt? Dies sind zentrale Fragestellungen, welche mit Hilfe einer analytischen Beobachtung behandelt werden können. Hier gilt es Vieles zu verfeinern und zu verbessern. Dabei geht es um die Konkurrenzfähigkeit des unternehmerischen Selbst, um eine marktkonforme Subjektivität. Ziel der Selbst-Optimierung ist das unternehmerische Selbst, das „für sich selbst sein eigenes Kapital ist, sein eigener Produzent, seine eigene Einkommensquelle“ (1) . In der gegenwärtigen, postfordistischen Produktionsweise wird die „Integration der gesamten Subjektivität in die Warenproduktion und das Selbst als ein Unternehmen imaginiert“ (S.139). In diesem Kontext ist das Self-Tracking einzuordnen. Die neoliberale Variante des „Erkenne Dich selbst“ der Self-Tracker*innen ist die „Selbsterkenntnis durch Daten“. Das digitale „Ich“ der Selbstvermesser*innen besteht aus Zahlen, Messwerten und Leistungspunkten.
Im Foucault’schen Sinne kann das Self-Tracking als eine kybernetische Technologie des Selbst angesehen werden. Foucault ist bewusst, dass das Subjekt dieser „Technologien des Selbst“ nicht frei über beliebige Techniken der Selbstbearbeitung verfügt. Er macht darauf aufmerksam, dass alle Reaktionsmuster auf jene kulturellen Praktiken der Selbstbearbeitung angewiesen sind, die sich innerhalb einer bestimmten Epoche herausgebildet haben. Daneben sind diese „Technologien des Selbst“ mit den „Technologien der Macht“ verzahnt, wozu eben auch der kybernetische Kapitalismus gehört.
Kybernetik ist nach ihrem (Mit-)Begründer Norbert Wiener die Wissenschaft der Steuerung und Regelung von Maschinen, lebenden Organismen und sozialen Organisationen. Die Kybernetik ist der Versuch, „gemeinsame Elemente in der Funktionsweise automatischer Maschinen und des menschlichen Nervensystems aufzufinden und eine Theorie zu entwickeln, die den gesamten Bereich von Steuerung und Kommunikation in Maschinen und lebenden Organismen abdeckt“ (2). Wiener hat mit seinem Feedback-Modell gezeigt, dass Kommunikation nicht durch Kontrolle unterdrückt wird, sondern vielmehr immer schon deren Voraussetzung darstellt. Mit dem Ineinandergreifen von Kontrolle und Kommunikation hat sich auch der französische Philosoph Gilles Deleuze beschäftigt: die Kontrollgesellschaft funktioniert bei ihm durch „unablässige Kontrolle und unmittelbare Kommunikation“(3) und die „Suche nach den Universalien der Kommunikation sollte uns das Fürchten lernen“ (4). Die Kontrolle im kybernetischen Sinne unterscheidet sich grundlegend von der panoptischen Überwachung. Im Panoptikum und im klassischen Überwachungsstaat ist das Individuum „Objekt einer Information, niemals Subjekt in einer Kommunikation“ (5).
In seinem Buch Digitale Selbstüberwachung, das im Verlag Graswurzelrevolution erschienen ist, setzt Simon Schaupp voraus, dass die Technologien und Praxen des Self-Tracking nicht in einem luftleeren Raum stattfinden und schlägt deshalb vor, „sie vor allem unter zweierlei Gesichtspunkten zu interpretieren: Erstens als Antworten auf die Leistungsansprüche der postfordistischen Ökonomie und zweitens als Ausdruck eines spezifisch kybernetischen Modus der Kapitalakkumulation und Kontrolle“ (S.18). Zunächst beschreibt und analysiert Schaupp die verschiedenen Einsatzbereiche des Self-Tracking: Sport, Gesundheit und Diät, Zeitmanagement, Disziplin. Mithilfe eigens dafür entwickelter mobiler Messgeräte (Tracker) lädt die/der Self-Tracker*in seine Lebensdaten und Körperfunktionen in spezialisierte soziale Netzwerke und Datenbanken. Das so generierte, digitale „Ich“ der Selbstvermesser*innen besteht aus Zahlen, Messwerten und Leistungspunkten, diese „Quantifizierung wird als Basis eines rationalen Selbstmanagements dargestellt“ (S.68). Die „Selbsterkenntnis durch Zahlen ist kein Selbstzweck, sondern soll „fast immer in eine Selbstoptimierung münden“ (S.72). Durch diese permanente Selbstoptimierung des Körpers und seiner Funktionen befinden sich die Self-Tracker*innen immer im Konflikt und in Konkurrenz zu anderen und vor allem sich selbst. So ist es auch nicht verwunderlich, dass fast alle Self-tracking-Anwendungen eine Ranking-Funktion beinhalten. Das Ranking macht deutlich, dass es bei Self-Tracking nicht um eine Normierung nach dem Muster klassischer Disziplinargesellschaften geht, sondern, „dass die Selbstoptimierung im Self-Tracking wesentlich als relational verstanden werden muss. Es geht nicht darum eine bestimmte Norm zu erreichen, sondern besser oder manchmal auch einfach anders zu sein als die Anderen“ (S.83).
Die Self-Tracking-Anwendungen sammeln mehr Daten, als für die jeweilige Auswertung notwendig ist und die so generierten Daten werden nicht auf den Computern der Anwender*innen gespeichert, sondern auf den Servern der Anbieter und gehen in deren Eigentum über. Die Zeitmanagement-Anwendung RescueTime, die überwacht, wie viel Zeit Anwender*innen mit welchen Programmen und Internetseiten verbringen, „verkauft diese Daten – welche Hard- und Software wann genutzt wird, welche Anwendungen wie lange geöffnet sind, welche Musik gespielt wird, wie viele Emails empfangen und geschrieben werden, Liste der Accounts, in die Anwender_innen sich einloggen usw. – dann an Unternehmen und Universitäten zur Durchführung von large scale research studies‘ weiter“ (S.55).
Wie schon weiter oben erwähnt, sieht Simon Schaupp das Self-Tracking und die damit verbundene Selbstoptimierung im Kontext eines kybernetischen Kapitalismus, der als Reaktion auf die systemischen Notstände des Postfordismus gelesen werden kann, wie „permanente Notwendigkeit von Rationalisierungsmaßnahmen und der Ausweitung der Warenproduktion“ (S.81). Self-Tracking stellt als Antwort auf diese Notstände „eine Technologie zur Rationalisierung individueller und kollektiver Arbeit“ (S.81) dar.
Für Schaupp liegt das gesellschaftstheoretische Potential einer Analyse, die die Kybernetik ins Zentrum stellt, darin, die Wechselwirkung von Produktion und Kontrolle pointiert erfassen zu können. In der Kybernetik fallen Produktion und Kontrolle in eins, sie folgen derselben Logik, basieren auf derselben technologischen Infrastruktur. Es geht also darum, zu zeigen, warum die hochtechnisierte, neoliberale Wirtschaft notwendigerweise eine Kontrollgesellschaft ist“ (S.89). Dies zeigt er in seinem Kapitel „Genealogie des kybernetischen Kapitalismus“ auf. Schaupp geht es dabei um „die Verschiebung hin zu einer kybernetischen Organisation von Produktion und Kontrolle“ und „die Kontinuität des Kapitalismus als zentrale[r] Herrschaftsstruktur“ (S.88). Schaupp gibt hier eine kurze – aber leicht verständliche – Einführung in die kybernetische Ökonomie, in der das Zählen und Steuern der Bevölkerung eine Rolle spielt. Nach dem Rekonstruieren verschiedener Stränge des kybernetischen Denkens kommt er zu drei aufeinander aufbauenden Grundprinzipien kybernetischer Steuerung:
1. Überwachung und Quantifizierung (Erhebung von Daten)
2. Rückkopplung (Zurückleitung von Informationen an das beobachtende System)
3. Selbstoptimierung (Die Kybernetiker*innen sprechen meist von „Selbstorganisation“ oder „Selbstregulierung“)
Hier wird deutlich, dass sich die zentralen Charakteristika des Self-Tracking in den Grundprinzipien des kybernetischen Kapitalismus wiederfinden. Die kybernetischen Technologien des Selbst sind – neben ihren Kontrollfunktionen – auch „eingebunden in Prozesse der Kapitalakkumulation“ (S.113). Dadurch wird das Self-Tracking „zunehmend zu einem Teil betriebswirtschaftlicher und volkswirtschaftlicher Rationalisierung von Produktion und Reproduktion“ (S.113), die im Wesentlichen aus automatisierter Selbstüberwachung besteht. Da fast alle Self-Tracking-Technologien die Möglichkeit bieten, die Ergebnisse mit dem digitalen „Freundeskreis“ zu teilen, besitzt die Selbstvermessung auch Komponenten der Fremdüberwachung. Die Möglichkeit und Möglichkeiten der Fremdüberwachung, z.B. durch Arbeitgeber*innen, Kranken-, Lebens- und Rentenversicherung ist ein wesentlicher Bestandteil der Self-Tracking-Technologien. Die Self-Tracking-Anwendungen sind daneben auch Teil der kapitalistischen Landnahme: „Mittels der Kommodifizierung von Informationen ermöglich sie eine Ausweitung der Warenproduktion. Im Self-Tracking wird dabei eine besondere Charakteristik der Internetökonomie deutlich: Das Verschwimmen der Grenzen zwischen Produktion und Konsum“ (S.119).
Schaupp weist zum Schluss seines Buches noch auf einen interessanten Aspekt der Self-Tracking-Anwendungen hin: der Konstruktion von Männlichkeit. Er interpretiert das Männlichkeitsbild des Self-Tracking als Reaktion auf den Neoliberalismus, in dem das Bild des „männlichen Familienernährers in die Krise geraten“ ist: Obwohl sich das Self-Tracking nicht ausschließlich an Männer richtet, sind „die Diskurse um das Self-Tracking stark männlich dominiert“ (S.124). So tritt an die Stelle des „Familienernährers“ die Figur des Managers: „Das ökonomische Verhältnis zu sich selbst und anderen [
] scheint auch die Männlichkeitskonstruktionen wesentlich zu prägen, die im Self-Tracking zum Tragen kommen. All dies legt nahe, dass für eine männliche Subjektivierung ökonomische Rationalität noch an Bedeutung gewonnen hat. Ein wesentlicher Teil dieser ökonomischen Rationalität ist der Wettbewerb. Dieser spielt auch im Self-Tracking eine wesentliche Rolle. Es gibt kaum eine Technologie, die nicht irgendeine Ranking-Funktion beinhaltet“ (S.126).
Mit Digitale Selbstüberwachung ist es Simon Schaupp gelungen, einen herrschaftskritischen Blick auf eine gegenwärtige Technologie zu werfen, die uns alle (be-)droht, und das Self-Tracking in Bezug auf den sich im Werden befindenden kybernetischen Kapitalismus zu analysieren.
Jürgen Mümken
(1) Michel Foucault: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität. Band 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2004. S.314.
(2) Norbert Wiener: Kybernetik (1948), in: Norbert Wiener: Futurum Exactum. Ausgewählte Schriften zur Kybernetik und Kommunikationstheorie. Herausgegeben von Bernhard Dotzler. Wien: Springer, 2002. S.13-S.30. Hier: S.15.
(3) Gilles Deleuze: Kontrolle und Werden, in: ders.: Unterhandlungen 1972-1990. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1993. S.243-S.253. Hier: S.250.
(4) Ebd. S.251.
(5) Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1977. S.257.
erschienen in: Ne znam – Zeitschrift für Anarchismusforschung, Nummer 5 / Frühjahr 2017
Das kybernetisierte Selbst
Simon Schaupp über digitale Selbstüberwachung
Simon Schaupps kleines Buch über die soziale Bedeutung digitaler Selbstüberwachungstechnologien beginnt als Selbstexperiment. Schaupp kauft sich ein neues Smartphone, nimmt an einer politischen Demonstration teil, läuft auf der Straße, schreit Parolen, flüchtet schließlich vor der Polizei. Abends erreicht ihn eine Nachricht seines neuen technischen Begleiters: „Glückwunsch, Simon, Sie haben heute 10.000 Schritte gemacht! Versuchen Sie doch morgen 15.000.“ (S. 7) Eine auf dem Apparat vorinstallierte Self-Tracking-App hat sich zu Wort gemeldet.
Man hätte diese winzige Episode in ihrer soziologischen Bedeutung leicht übersehen können, doch liefert sie Schaupp den Anlass, intensiv über die Bedeutung der digitalen Wortmeldung und über die immer populärer werdende Praxis des Self-Trackings, also der Vermessung des eigenen Lebens durch verschiedene technische Hilfsmittel, nachzudenken. Schaupp zufolge lässt sich die wachsende Popularität der digitalen Selbstüberwachungstechnologien aus dem Umstand erklären, dass sie ihren Nutzer_innen das Gefühl vermitteln, fit zu werden für einen gleichermaßen permanenten wie alternativlosen Wettbewerb. Die entsprechenden Apps, verstanden als geradezu paradigmatische Exempel gegenwärtiger gesellschaftlicher Entwicklungen, zielten auf die profunde Nervosität und Statuspanik von Beschäftigten, die ihre materielle Existenz im Postfordismus immer häufiger in radikal subjektivierten Arbeitsverhältnissen sichern müssen. Verantwortlich für die Panik- und Angstattacken sei ein System, das den Typus des „unternehmerischen Selbst“ [1] zu seiner Gallionsfigur erhoben habe. Indem es bei Strafe der Exklusion jeden jederzeit zu Höchstleistungen antreibe, halte es zu einer methodisch disziplinierten Lebensführung an, die sich an der Norm der employability orientiert. Den Marktwert der eigenen Ich-AG zu erhöhen, das ist das Versprechen, mit dem die neuen Apps die Subjekte der Aktivgesellschaft ködern. Hielt der persönliche Coach in den 1990er-Jahren dazu an, das eigene Spiegelbild morgens eine Minute lang anzulächeln, um das Gemüt autosuggestiv zu stärken, so setzt die Selbstvermessung an die Stelle solcher Psychotricks die quantifizierte Objektivität der Zahlen: Lauf morgen 5.000 Schritte mehr als heute, dann wirst du deinen Konkurrenten enteilen, sei es auf dem Weltmarkt, in der Firma oder auf dem Arbeitsmarkt.
Der in einer Rezension angebrachte Hinweis, dass es sich bei Schaupps Buch um eine akademische Abschlussarbeit handelt, sollte nicht missverstanden werden. Zwar ist Schaupps Darstellung anzumerken, dass sie universitären Regeln und formalen Zwängen gehorcht, doch stellt sich der Autor tatsächlich der anspruchsvollen Aufgabe, richtige Soziologie zu betreiben, statt nur zu demonstrieren, welche umfangreichen soziologischen Kenntnisse er bisher erworben hat. Schaupps Analyse des Self-Tracking tritt mit dem Anspruch auf, ein Stück Gegenwartsanalyse zu bieten. Wer so einen zeitdiagnostischen Anspruch in einer Abschlussarbeit formuliert, ist in aller Regel entweder größenwahnsinnig oder kühn. Zu Schaupps Kühnheit gehört, sich auf ein strikt durchargumentiertes Interpretationsangebot festzulegen. Zwar bietet er keine vollständige Kartierung der Deutungsmöglichkeiten, die sich angesichts digitaler Selbstüberwachung womöglich ausfindig machen ließen. Dennoch trägt sein Buch eindeutig zur Bereicherung der Debatten um die Digitalisierung des Sozialen bei, schon allein weil sein Interpretationsvorschlag geeignet ist, Widerspruch hervorzurufen.
Das erste Kapitel führt kursorisch in die Geschichte des Internets ein. Auf wenigen Seiten wird zunächst dessen Ursprung im Militärkeynesianismus des Kalten Krieges verortet. Bereits die Entstehung digitaler Technologie lokalisiert Schaupp mithin in einem Kontext von Herrschaft – und fomuliert damit eine Lesart, die hinsichtlich der übergeordneten Narration durchaus plausibel erscheint, im Text allerdings nicht weiter ausbuchstabiert wird. Sodann stellt Schaupp sein methodisches Instrumentarium vor. Im Anschluss an die auf diesem Gebiet nach wie vor einschlägigen Theorien von Foucault und Deleuze entscheidet er sich für eine Mikrodispositivanalyse, die Diskursfragmente zum Thema digitales Self-Tracking untersucht. Anders und weniger anspruchsvoll ausgedrückt: Er schaut sich die Werbung für Self-Tracking-Produkte an. Was Schaupp dabei interessiert, sind die Versprechen, die Self-Tracking Devices für ihre Nutzer_innen attraktiv machen. Für welche Probleme geben sie vor, die Lösung zu sein? Welchen vor allem auf dem Arbeitsmarkt existierenden Herausforderungen soll sich mit ihrer Hilfe begegnen lassen?
Im zweiten Kapitel werden dann Sport, Gesundheit, Zeitmanagement, Selbstdisziplinierung und andere konkrete Anwendungsfelder digitaler Selbststeuerungstechnologien beschrieben. In jedem der genannten Bereiche, so Schaupp, unterstütze und verstärke deren Einsatz ein „stark instrumentelles Selbstverhältnis“ (S. 74), in dessen Rahmen psychische und physische Mechanismen „gezielt benutzt“ würden, „um Leistungssteigerungen zu erreichen“ (ebd.).
Im dritten Kapitel wird das ermittelte Anwendungsspektrum unter dem Schlagwort des „kybernetischen Kapitalismus“ diagnostisch ausgewertet. Schaupp identifiziert zunächst vier dem zeitgenössischen Kapitalismus eigene Problemlagen (in seinen Worten: „Notstände“), auf die Self-Tracking-Technologien reagierten: Erstens setze die Notwendigkeit fortschreitender Rationalisierung alle Besitzer_innen von Arbeitskraft unter einen steten Anpassungs- und Leistungsdruck. Die genaue Selbstvermessung der eigenen körperlichen Ressourcen und – darauf aufbauend – ihre gezielte Optimierung seien letztlich dazu angetan, die Arbeitskraft der Marktsubjekte in eine hochkompetitive Arbeitswelt einzupassen. Zweitens ziehe die Notwendigkeit unausgesetzt voranschreitender Landnahme als Reproduktionsvoraussetzung kapitalistischen Wirtschaftens immer neue Lebensbereiche in den Strudel der Profitgenerierung hinein. Self-Tracking-Technologien versprächen in diesem Zusammenhang die Aneignung „unbezahlter Arbeit in Form von Daten“ (S. 81), mit deren Hilfe sich wiederum neue Geschäftsmodelle anstoßen ließen, die ihrerseits keineswegs zwingend die Form von Apps und Gadgets annehmen müssten. Drittens sei gerade die postfordistische Ökonomie mit ihren wissens- und empathieintensiven Hightech- und Hightouch-Berufen, ihrer Aktivierung weiblicher Erwerbsarbeit und der generellen Abwertung physischer Normalarbeit durch eine tiefgreifende Krise der Männlichkeit geprägt. Self-Tracking-Technologien, zumal wenn sie mit der Vermessung körperlicher Leistungsfähigkeit operieren, böten hier ein Substitut für den Verlust männlicher Selbstwirksamkeitserfahrungen. Sie stünden mithin für die „Durchsetzung neuer Männlichkeitsnormen“ (S. 82). Die in ihnen zum Ausdruck kommende „kybernetische Männlichkeit“ (S. 142) versöhne „vormals weiblich konnotierte Fähigkeiten“ (S. 141) – Selbstaufmerksamkeit, Körperneurotik, Konsumorientierung – mit einer klassisch männlichen, weil „militärischen“ Ästhetik wettkampforientierter Selbstverhärtung. Das Militärische wird gewissermaßen narzisstisch. Eingebunden in rekursive Selbststeuerungstechnologien, die mit allerlei kostenpflichtigen Zusatzprodukten kombiniert werden, wird die harte Arbeit am eigenen Wirksamkeitspotenzial genieß- und folglich auch konsumierbar. Viertens enthält der Anforderungskatalog, mit dem sich das unternehmerische Selbst des Postfordismus konfrontiert sieht, Schaupp zufolge ein spezifisches Disziplinarproblem: Gerade im Kontext moderner Wissensarbeit würden elaborierte und zuverlässige Fähigkeiten der Selbstkontrolle unabdingbar. Self-Tracking-Anwendungen nähmen in diesem Zusammenhang den Charakter von Eigenverwaltungs- respektive Eigensteuerungsinstrumenten an, die das Subjekt auf Trab halten, indem sie es kontinuierlich mit Informationen über den erreichten oder unterbotenen Stand an Selbstdisziplinierung versorgen. Indem sie ihre Träger auf diese Weise zu immer neuen (Höchst-)Leistungen antrieben, ohne dass Überanstrengung oder Überforderung als Optionen überhaupt vorgesehen wären, so Schaupp, fungierten die Self-Tracking Devices letztlich als „Waffen der Streikunterdrückung“ (S. 141).
Als kybernetische und kapitalistische Technologie begreift Schaupp das Self-Tracking, weil in ihm „die kybernetischen Prinzipien der Selbstregulierung und Rückkopplung als gemeinsames Charakteristikum neoliberaler Kapitalakkumulation und Kontrolle“ (S. 89) zusammengeführt würden. Dass Schaupp insbesondere die kybernetischen Aspekte an den von ihm analysierten Phänomenen hervorhebt, ist vor allem seiner Absicht geschuldet, die in der Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus seiner Meinung nach bislang nur unzureichend berücksichtigte Kontrollproblematik stärker zu beleuchten (ebd.). Mit der Betonung automatisierter, direkt auf Profitgenerierung zielender Feedbackprozesse möchte Schaupp in diesem Zusammenhang einen spezifischen Modus von Prozesskontrolle herausstellen, der sich in Self-Tracking-Technologien zwar exemplarisch beobachten lasse, der seiner Ansicht nach aber – anders kann man die nicht eben bescheidene Ausrufung einer kybernetischen Spielart des Kapitalismus nicht verstehen – auch in anderen gesellschaftlichen Arenen wirksam ist.
Sowohl die große Stärke als auch die Schwäche des Buches liegen gerade in dieser generalisierenden Zuspitzung: Die These, dass es sich beim Self-Tracking um eine besondere, nämlich um eine kybernetische Form von Kontrolle handeln soll, ist durchaus plausibel. Tatsächlich haben wir es ja mit halbwegs autonom operierenden Systemen zu tun, die auf ihre Komponenten in spezifischer, nämlich auf Optimierung zielender Weise einwirken. Indem das Regulationsmodul der App deren Nutzer_innen, wie eingangs beschrieben, unablässig dazu anspornt, jede einmal erreichte Tagesleistung künftig neuerlich zu überbieten, generiert es mit seinem automatisch erstellten Leistungsfeedback permanent Botschaften, die sich gar nicht anders verstehen lassen, denn als Aufforderungen zur fortgesetzten Selbstoptimierung. Gleichwohl reicht keine noch so überzeugende Interpretation von Selbstoptimierungsversprechen in der Werbung und deren Einarbeitung in gängige Kapitalismusanalysen hin, um in generalisierender Absicht von einem „kybernetischen Kapitalismus“ zu sprechen. Zudem stellt sich die Frage, ob die von Schaupp analysierten Prozesse mit dem Begriff der „Kontrolle“ überhaupt richtig beschrieben sind, oder ob es in der Mehrzahl der beschriebenen Fälle nicht doch in erster Linie um die Setzung von Anreizen geht, also um Verfahren, die angemessener als nudging zu beschreiben wären? Schaupp selbst liefert ja das beste Bespiel dafür, wie leicht es tatsächlich sein kann, sich der Kontrolle durch eine Selbstvermessungs-App zu entziehen. Eine Ansammlung kybernetischer Schaltkreise macht noch kein stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit.
Zudem versäumt es Schaupp zu fragen, ob bei den Nutzer_innen der Selbstvermessungstechnologien womöglich andere Motive als das Streben nach marktkonformer Optimierung im Spiel sein könnten. Schließlich bieten die beschriebenen Technologien statusunsicheren Subjekten im Postfordismus doch ebenfalls leicht zugängliche Gratifikationssysteme und damit womöglich Chancen zur Steigerung des Selbstwertgefühls: Wenn Beruf und Familie als Arenen der Statusgewinnung unsicher werden, bieten Selbst-Tuning-Apps eventuell geeignete technische Substitute für ausbleibende Formen sozialer Wertschätzung. Entsprechende Nutzungsformen deuteten dann freilich eher auf eine selbstbestimmte Erweiterung eigener Erlebensmöglichkeiten als auf ein sklavisches Verhältnis zum Markt hin.
Dass Schaupp eine für die Gegenwartsdiagnostik attraktive Begriffsprägung an der Angel hat, steht ebenso außer Frage wie seine Fähigkeit zur genauen soziologischen Beobachtung und Beschreibung. Damit aus der klugen und erhellenden Einzelstudie eine tiefenscharfe Gesellschaftsanalyse wird, die zudem noch eine neue Form des Kapitalismus auf den Begriff bringt, bräuchte es freilich noch sehr viel mehr an empirischer und theoretischer Arbeit. Spezifische Güter im ungeheuer reichen Warenangebot der jüngeren Technologien auf die sie charakterisierenden Besonderheiten hin zu beschreiben, reicht dazu nicht aus. Einstweilen ist „kybernetischer Kapitalismus“ nur eine suggestive Metapher – und der Titel eines lesenswerten Buches. Es bleibt zu hoffen, dass Schaupp zur Erhärtung seiner weitergefassten Kybernetisierungsthese nachlegt.
[1] Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main 2007.
Philipp Staab
soziopolis, 24.4.2017
Die permanente digitale Selbstüberwachung
Simon Schaupp entlarvt, warum wir selbst schuld sind an der Stärke des neoliberalen Systems
Gleich im ersten Kapitel beschreibt der Soziologe Simon Schaupp, wie er gegen seinen Willen zum Self-Tracker wurde. Er hatte mit seinem neuen Smartphone an einer Demonstration teilgenommen und das neue Gerät meldet sich mit der Botschaft: »Glückwünsch Simon, Sie haben heute mehr als 1000 Schritte gemacht. Versuchen Sie doch morgen 1500.« Die vorinstallierte App hatte nicht nur die Demonstrationsschritte und die Route, sondern auch die Laufgeschwindigkeit und den Kalorienverbrauch während der Demonstration aufgezeichnet.
Während Schaupp unbeabsichtigt ein detailliertes Bewegungsprotokoll aufzeichnen ließ, wächst weltweit die Zahl der Menschen, die täglich ganz freiwillig ihr gesamtes Leben – von der Arbeit über das Joggen bis zum Schlaf – minutiös dokumentieren, sich überwachen lassen und die Daten dann auch noch über soziale Netzwerke in alle Welt verbreiten.
Der kritische Autor stellte sich die Frage nach den gesellschaftlichen Ursachen dieses Phänomens: »Welche politischen und ökonomischen Strukturen machen es notwendig, sich permanent selbst zu überwachen und zu optimieren?« Schaupp warnt eindringlich, dass Self-Tracking aktuell eine enorme Rolle bei der Selbstzurichtung und Konditionierung des Subjekts für die Zumutungen des Kapitalismus spielt. Gerade diese schon alltägliche und massenhaft verbreitete Praxis bewirkt und sichert, dass der Neoliberalismus so stark ist wie nie zuvor und selbst die Krisen der vergangenen Jahre scheinbar schadlos überstanden hat.
»Im Self-Tracking verschmelzen Polizei und Verdächtiger zu einer Person zusammen, die sich selbst mit allen zur Verfügung stehenden technischen Mitteln ausspioniert. Jeder versäumte Jogginggrund, jede überzählige Kalorie, jede verträumte Minute Arbeitszeit wird registriert und angemahnt, um nicht vor sich selbst in den Verdacht zu geraten, das Kapitalverbrechen der Leistungsgesellschaft zu begehen: Nicht das Maximum aus sich herauszuholen«, fasst Schaupp die ökonomischen Zusammenhänge prägnant zusammen.
Der Wissenschaftler zeigt anhand der Werbung für die unterschiedlichen Self-Tracking-Methoden, wie die letztlich fatale Selbstkonditionierung funktioniert. Es ist bezeichnend, dass mit Bergsteigern und Soldaten zwei Gruppen, die immer wieder auch Tote und Schwerverletzte zu verzeichnen haben, Vorbilder für das Self-Tracking sind.
Die Botschaft ist klar: Schonung von Gesundheit und Leben ist im Ellenbogen-Kapitalismus der »Leistungsträger« nur etwas für Loser, Schwächlinge und Versager. Self-Tracking hat laut dem Verfasser auch schon längst Einzug in die Politik gehalten und wird von dieser explizit gewünscht. So hat das britische Gesundheitsministerium Ärzte aufgefordert, ihren Patienten Self-Tracking-Anwendungen zu verschreiben, »damit diese in die Lage versetzt werden, ihre Gesundheit effektiver zu überwachen und so mehr Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen«. Krankenkassen belohnen eifrige Self-Tracker mit Prämien. Wer nicht mitmacht, zahlt höhere Beiträge. Auch die Europäische Kommission setzt große Hoffnungen darauf, mit Self-Tracking immense Einsparungen im europäischen Gesundheitsbudget zu erzielen.
Im letzten Kapitel stellt sich Schaupp die Frage, ob in einer nicht von der Kapitalverwertung bestimmten Gesellschaft die zuvor von ihm beklagten Methoden in emanzipatorischem Sinne verwendet werden könnten. Er gibt darauf keine Antwort. Sie zu finden, überlässt er den Lesern. Nach der Lektüre des Buches drängt sich jedoch noch eine andere Frage auf, die Schaupp nicht stellt: Ist es nicht höchste Zeit, dass sich die Menschen offensiver den Self-Tracking-Methoden verweigern, dem Markt und dem Staat definitiv erklären, sich nicht mehr ständig weiter optimieren zu wollen, nicht mehr immer neue Rekorde und Höchstwerte aus sich herausholen zu lassen?
Peter Nowak
erschienen in: neues deutschland, 25.11.2016
Self-Tracking und kybernetischer Kapitalismus
„Bekämpfe alles in Dir, was Deinen Erfolg im Kapitalismus behindert“
Gleich im ersten Kapitel beschreibt der Soziologe Simon Schaupp eine bezeichnende Episode, wie er gegen seinen Willen zum Self-Tracker wurde. Er hatte mit seinem neuen Smartphone an einer Demonstration teilgenommen und das neue Gerät verkündete auf dem Bildschirm: „Glückwünsch Simon, Sie haben heute mehr als 1.000 Schritte gemacht. Versuchen Sie doch morgen 1.500.“ Die vorinstallierte App hatte nicht nur die Demonstrationsschritte und die Route genau aufgezeichnet, auch konnte man die Laufgeschwindigkeit feststellen – und obendrein erfuhr Schaupp noch, wie viele Kalorien er für die Demonstration verbraucht hatte. Solch ein perfektes Demonstrationsprotokoll dürfte der Polizei und den unterschiedlichen Verfassungsämtern ungeahnte Überwachungsmöglichkeiten bieten.
Trotzdem erfreut sich Self-Tracking ungebrochener Beliebtheit. Nicht Datenschutz und Datenminimierung, sondern die ungebremste Offenlegung ganz privater Daten sind Kennzeichen einer Bewegung, die ihr Leben von der Arbeit über das Joggen bis zum Schlaf von digitalen Geräten minutiös aufzeichnen und überwachen lässt und die Daten dann noch via Facebook weiterverbreitet.
Simon Schaupp hat in seinem kürzlich im Verlag Graswurzelrevolution erschienenem Buch „Digitale Selbstüberwachung. Self Tracking im kybernetischen Kapitalismus“ dieses Phänomen eingeordnet: in die Bemühungen nämlich, den Kampf gegen alles, was die reibungslose Anpassung an die kapitalistischen Erfordernisse und Zumutungen behindert, ins eigene Individuum zu verlagern.
Den Feind in Dir bekämpfen
„Denn im Self-Tracking verschmelzen Polizei und Verdächtiger zu einer Person zusammen, die sich selbst mit allen zur Verfügung stehenden technischen Mitteln ausspioniert. Jeder versäumte Jogginggrund, jede überzählige Kalorie, jede verträumte Minute Arbeitszeit wird registriert und angemahnt, um nicht vor sich selbst in den Verdacht zu geraten, das Kapitalverbrechen der Leistungsgesellschaft zu begehen: Nicht das Maximum aus sich herauszuholen.“
Schaupp zeigt in dem Buch anhand der Werbung für die unterschiedlichen Self-Tracking-Methoden, wie diese Selbstkonditionierung funktioniert. So findet man auf der Homepage des Self-Tracking-Anbieters Runtastic solche Selbstbezichtigungen:
Gegen mich selbst anzutreten und mein Bestes zu geben macht Spaß und ist dank der Rekorde-Funktion auch ganz easy! Es fühlt sich toll an, meine eigenen Bestleistungen immer wieder zu unterbieten und meine neuesten Rekorde auf Runtastic.com zu bewundern.
Runtastic-User
Jede Woche warte ich gespannt auf meinen Fitnessbericht. Grüne Zahlen & Pfeile motivieren mich immer wieder aufs Neue! Ich will mich ja schließlich jede Woche verbessern!
Runtastic-User
„Entdecke die Geheimnisse des Superhelden“, fordert eine andere Werbeseite für potentielle Selbstoptimierer, die immer und überall die Gewinner sein wollen. Auch Diätprogramme arbeiten nach dem Prinzip, wonach mit Disziplin und mit eisernem Willen alles zu schaffen sei. Da ist es nur konsequent, dass ein Zeitsoldat das Abnehmen zu einer Frage der Disziplin erklärt. Auf anderen Self-Tracking-Werbeanzeigen finden sich Bergsteiger, die mit Erfolg und vielen Strapazen einen Gipfel erklommen haben.
Es ist bezeichnend, dass mit Bergsteigern und Soldaten zwei Gruppen Role-Models für das Self-Tracking sind, die immer wieder auch Tote und Schwerverletzte zu verzeichnen haben. Die Botschaft ist klar: Beim Rattenrennen im kapitalistischen Alltag ist Schonung von Gesundheit und Leben etwas für Loser und Versager. Und sie sind in der Werbewelt der Self-Tracker wohl auch das Schlimmste, was man sich denken kann.
Die Landnahme des kybernetischen Kapitalismus
Sehr überzeugend hat Schaupp den Begriff des kybernetischen Kapitalismus als Bezeichnung der aktuellen Regulationsphase eingeführt, der, anders als bekannte Begriffe wie Postfordismus, deutlich macht, dass weiterhin die kapitalistische Verwertung dominiert. Die These von Schaupp lautet, dass das Self-Tracking „Teil einer kapitalistischen Landnahme ist, im Zuge derer sich Unternehmen die Produkte unbezahlter Arbeit in Form von Daten aneignen und als Waren verkaufen“.
Der Soziologe interpretiert den kybernetischen Kapitalismus als Reaktion auf die systemischen Notstände des Postfordismus, wie den Zwang zur ständigen Rationalisierung und der Ausweitung der Warenproduktion. Hier liefert Schaupp einen materialistischen Erklärungsansatz für den Tracking-Boom. Wenn der kapitalistische Imperativ „Du bist nichts, Deine Arbeitskraft ist alles“ verinnerlicht ist, können die ideologischen Staatsapparate, die seit Beginn des Kapitalismus mit Ideologie und Repression dafür gesorgt haben, dass sich die Subjekte der Kapitallogik beugen, etwas in den Hintergrund treten. Verschwinden werden sie aber nicht.
Ruhe und Ordnung
Die Situation ist vergleichbar mit einer Großdemonstration, bei der die eigenen Ordner für Ruhe und Ordnung sorgen. Dann bleibt die Polizei manchmal in den Seitenstraßen und ist im ersten Augenblick nicht sichtbar präsent. Da aber auch da immer die Möglichkeit besteht, dass die störrischen Elemente die Oberhand gewinnen, ist sie jederzeit einsatzbereit. Nicht anders ist der Umgang mit der individuellen Polizei. Wenn es jemand nicht mehr so angenehm empfindet, immer und überall kapitalgerecht zu agieren, gibt es vielfältige Druckmittel von außen.
Viele Self-Tracking-Technologien werden schon längst von diversen Firmen zur Totalüberwachung der Beschäftigten eingesetzt. „RescueTime ist eine Aufklärungsanwendung für Firmen, die Manager informiert hält über ihre wertvollste Ressource“, heißt auf der Webseite der Zeitmanagement-Software.
Die Überwachung wird dann als Kultur der Arbeitsplatztransparenz schöngeredet. Tatsächlich handelt es sich um eine einseitige Form der Transparenz. Der Kapitalbesitzer bekommt den Zugriff auch auf die letzten Geheimnisse der Lohnabhängigen. In den fordistischen Arbeitsverhältnissen gab es immer noch einige Nischen, wo sich die Beschäftigten zumindest für kurze Zeit dem Diktat der Maschinen entziehen konnten. Das fällt im Zeitalter der neuen Technologien immer schwerer.
Längst haben Politik und Wirtschaft Druckmittel in Stellung gebracht, falls die Freiwilligkeit nicht mehr gewährleistet ist. Schon hat das Gesundheitsministerium in Großbritannien Ärzte aufgefordert, sie sollten ihren Patienten Self-Tracking-Anwendungen verschreiben, „damit diese in die Lage versetzt werden, ihre Gesundheit effektiver zu überwachen und so mehr Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen“.
Schon längst haben die Krankenkassen begonnen, besonders eifrige Self-Tracker mit Prämien zu belohnen. Wer nicht mitmacht, zahlt mehr. Auch die Europäische Kommission setzt angesichts von prognostizierten 3,4 Milliarden Menschen, die 2017 ein Smartphone benutzen, große Hoffnungen darauf, dass mit Self-Tracking immense Einsparungen im europäischen Gesundheitsbudget erzielt werden können.
Hier wird schon deutlich, dass in der nächsten Zeit Self-Tracking-Methoden Teil der Politik werden können. Wer sich dem verweigert, muss zumindest mit höheren Krankenkassenprämien rechnen. Es könnte allerdings durchaus auch staatliche Sanktionen für Tracking-Verweigerer geben.
In der Öffentlichkeit werden sie schon jetzt als Menschen klassifiziert, die mit ihrer Lebensweise unverantwortlich umgehen und die sozialen Systeme unverhältnismäßig belasten. Unter dem Begriff Quantified Self hat der Publizist Sebastian Friedrich die unterschiedlichen Tracking-Methoden in sein kürzlich erschienenes Lexikon der Leistungsgesellschaft aufgenommen.
Es steht dort neben Einträgen wie „Rennrad“ oder „Marathonlauf“, die in kurzen Kapiteln als Teil der neoliberalen Alltagspraxis vorgestellt werden. Die Stärke des Büchleins besteht darin, Alltagsbeschäftigungen aufzunehmen, die sich auch im kritischen Milieu reger Zustimmung erfreuen und die oft gar nicht mit dem Neoliberalismus in Verbindung gebracht werden.
Dabei zeigt Friedrich überzeugend, wie der erste Marathonlauf in New York wenige hundert Interessierte anlockte, bevor er zu jenen Massenaufläufen wurde, die heute weltweit ganze Stadtbereiche lahmlegen. Mittlerweile beteiligen sich daran ganze Firmenbelegschaften, die so ihre Leistungs- und Leidensfähigkeit unter Beweis stellen. Eine Verweigerung würde sich wohl äußerst negativ für die Karriere auswirken. Das ist auch ein zentraler Begriff im Lexikon der Leistungsgesellschaft.
Kann Kybernetik im emanzipatorischen Sinne genutzt werden?
Im letzten Kapitel seines Buches stellt Schaupp die Frage, ob in einer Gesellschaft, die nicht von der Kapitalverwertung bestimmt ist, Self-Tracking-Methoden im emanzipatorischen Sinne verwendet werden könnten. Doch eine Antwort gibt er darauf nicht.
Dabei hätte er vielleicht einen Hinweis darauf geben können. Der von ihm mehrfach zitierte Stafford Beer, ein wichtiger Theoretiker der Kybernetik, war auch in Chile unter der Regierung der sozialistischen Regierung Allende an einem Projekt beteiligt, das eine wirtschaftliche Planung mit Hilfe kybernetischer Methoden erproben sollte.
Dadurch sollte eine Planung mit den Belegschaften und großer Teile der Bevölkerung gewährleistet werden. Der rechte Putsch gegen die Unidad-Popular-Regierung beendete diesen Versuch, Kybernetik in emanzipatorischem Sinne zu nutzen. Durch den Roman von Sascha Rehs „Gegen die Zeit“, in dem dieses Projekt im Mittelpunkt steht, wurde es auch hierzulande wieder bekannt.
Es ist schade, dass Schaupp darauf nicht zumindest kurz hinweist, weil in seinem theoretischen Teil Stafford Beer schließlich eine wichtige Rolle spielt.
Self-Tracking-Verweigerung als Teil einer antikapitalistischen Praxis?
Er stellt nur klar, dass Self-Tracking in den aktuellen Machtverhältnissen eine wichtige Rolle bei der Selbstzurichtung und Konditionierung des Subjekts für die Zumutungen des Kapitalismus spielt. Gerade diese Alltagspraxen der Leistungsgesellschaft sind eine Antwort auf die Frage, warum der Neoliberalismus so stark ist und selbst die Krisen der letzten Jahre scheinbar schadlos überstanden hat.
Schon lange wird die Phrase vom Neoliberalismus in den Köpfen strapaziert. Der Self-Tracking-Boom ebenso wie die Marathonwelle zeigen deutlich, was damit gemeint ist. Dann stellt sich auch die Frage, ob es nicht Zeit für eine Bewegung ist, die sich diesen Self-Tracking-Methoden bewusst verweigert.
Wenn Menschen offen erklären, sich nicht ständig optimieren zu wollen, nicht den Anspruch zu haben, immer mehr Rekorde und Höchstwerte aus sich herausholen zu wollen, dann würde sicher nicht gleich der kybernetische Kapitalismus in eine Krise geraten.
Aber man darf auch nicht vergessen, dass konservative Theoretiker die wachsende Alternativbewegung der 1970er Jahre für die Krise des Fordismus mitverantwortlich machten. So könnte auch eine No-Tracking-Bewegung zumindest die Vorstellung ankratzen, dass heute alle ganz freiwillig und mit großer Freude für den Sport, das Unternehmen und die Nation Opfer bringen.
Peter Nowak
erschienen auf: telepolis, 19. November 2016