Einleitung
„Wie der Mensch die Gerechtigkeit in der Gleichheit sucht, so sucht die Gesellschaft Ordnung in der Anarchie. Die Anarchie, die Abwesenheit jedes Herrschers, jedes Souveräns, das ist die Regierungsform, der wir uns täglich mehr nähern.“
Pierre-Joseph Proudhon: Was ist das Eigentum?, 1840
Von allen „utopischen“ Sozialexperimenten in der jüngeren Geschichte ist die Kibbuzbewegung Israels zugleich ein Archetypus und eine einzigartige Ausnahme. Aus einer reizlosen Ansammlung von Lehmhütten am Ufer des Flusses Jordan nahm die nahe liegende Idee einer kommunitären Gesellschaft ohne Ausbeutung und Herrschaft in Palästina schnell Gestalt an und erblühte zu einem landesweiten Netzwerk egalitärer Gemeinschaften. Durch gute (und unglücklicherweise auch schlechte) Zeiten hindurch konnten diese Kommunen nicht nur ihre Existenz aufrechterhalten, sondern dauerten in unterschiedlichen Formen über fast ein Jahrhundert hinweg fort.
Im Unterschied zu anderen „utopischen“ Projekten, von denen die meisten nur eine historisch kurze Zeitspanne bestanden oder von der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaft mit Argwohn und Misstrauen betrachtet, bisweilen gar verfemt wurden, spielten die Kibbuzim eine zentrale und entscheidende Rolle beim Gründungsprozess einer Nation und der Neuorientierung einer gesamten Bevölkerungsgruppe. Seit den frühesten Tagen ihrer Existenz erfüllten die Kibbuzim eine Vielzahl von Anforderungen, derer die jüdische Renaissance bedurfte: Sie trugen dazu bei, Israels Infrastruktur aufzubauen und bildeten die Grundlagen einer Nationalökonomie; sie übernahmen die Verantwortlichkeit für die massenhafte Aufnahme vieler Tausender von Immigrant*innen; sie schufen eine landesweite Gewerkschaft, der mehr als drei Viertel der gesamten Arbeiterschaft des Landes angehörte; und sie leisteten einen landwirtschaftlichen und industriellen Beitrag für das Land, der noch immer den Anteil der Bevölkerung, der in ihnen lebt, bei Weitem übersteigt.
In keinem anderen Staat haben Kommunen solch eine zentrale Rolle im nationalen Leben gespielt. Doch trotz einer Vielzahl an wissenschaftlichen Studien über die bekannteste aller Kommunebewegungen haben nur wenige von ihnen eine passende Kategorisierung für deren einzigartige Organisationsform gefunden. Meist einigte man sich auf ambivalente Allerwelts-Begriffe wie „Kommunismus“ oder „Sozialismus im Kleinen“. Das System jedoch, das den Kibbuz-Gemeinden über solch lange Zeit hinweg Dienste erwies, ist in Wirklichkeit ebenso weit entfernt vom staatsorientierten Sozialismus wie vom Markt-Kapitalismus. Während nur wenige Beobachter*innen aus dem vorherrschenden Medienbetrieb zugestanden haben, dass die Kibbuzim sogar „ein anarchistisches Element“ enthalten, müsste in viel stärkerem Maße darauf hingewiesen werden, dass die Kibbuzim die ideologischen Abkömmlinge der anarchistischen Tradition sind und nicht der staatssozialistischen Tradition.(1) Der Untersuchung dieser Aufgabe widmet sich dieses Buch.
Die Sozialutopie des Anarchismus
Seit dem Jahre 1840, als Proudhon den Ausdruck „Anarchie“ zum ersten Mal benutzte, um eine positive Sozialphilosophie zu bezeichnen, wurde der Begriff fortwährend entstellt, sodass seine Bedeutung fast vollständig verlorengegangen ist. Zumeist wird unter „Anarchismus“ eher eine Albtraum-Dystopie verstanden, anstatt die utopische Philosophie, die er tatsächlich ist. Im Ergebnis wurde dieser Sozialutopie daher nur selten die Aufmerksamkeit geschenkt, die sie als politische und ökonomische Theorie verdient hätte.
Weit entfernt von der Befürwortung des Chaos, mit der ihn viele identifizieren, ist der Anarchismus im Wesentlichen eine anti-autoritäre Form des Sozialismus. Er gründet auf der Überzeugung, dass hierarchische Politikformen sowohl unnötig als auch nicht wünschenswert sind, und schlägt vor, alle autoritären, zwanghaften und ausbeuterischen Institutionen in der Gesellschaft aufzulösen und sie durch alternative Institutionen freiwilliger, nicht über die Regierungsebene organisierter Zusammenarbeit zu ersetzen. Während der Staatssozialismus eine traditionell hierarchische Sozialordnung durch die Mittel zentralisierter, von oben nach unten verlaufender polit-ökonomischer Strukturen und Prozesse aufzwingen will, geht der Anarchismus von der Annahme aus, dass die Menschen dazu fähig sind, sich selbst zu regieren, ohne solche Institutionen und die dafür notwendigen Machtverhältnisse. Unter dem Slogan „Von unten nach oben regieren“ verstehen Anarchist*innen, dass sich die Gesellschaft durch selbständige lokale Gemeinden in ein selbstorganisiertes, direktdemokratisches und ökologisch nachhaltiges System transformieren kann. Es ist dann frei von der Ausbeutung und Ungleichheit, die das staatssozialistische Modell kennzeichneten, das für die frühere UdSSR und das heutige China kennzeichnend war und ist, um hierfür nur die bekanntesten Beispiele zu nennen.(2)
Peter Kropotkin
Anarchistische Ideen tauchten zuerst in den frühen Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts auf. Durch das gesamte weitere Jahrhundert hindurch fügten sie sich schnell zu einer kohärenten Strömung der Sozialphilosophie zusammen, mit deutlich ausgebildeten Zielvorstellungen. Sie entwickelten ein hohes Niveau, nicht nur hinsichtlich der Kritik des kapitalistischen Staats, sondern auch bei ihrer Konzeption für eine künftige, postkapitalistische Alternative. Dieses Buch konzentriert sich hauptsächlich auf die politische Hinterlassenschaft – in Form der israelischen Kibbuzbewegung – des russischstämmigen Philosophen Peter Kropotkin (1842–1921), einem der einflussreichsten anarchistischen Theoretiker des 19. Jahrhunderts, dessen Theorie des Anarcho-Kommunismus (bekannt auch als kommunistischer Anarchismus, als libertärer Sozialismus oder als kommunitärer Anarchismus) vielleicht den größten Beitrag für das nachfolgende anarchistische Gedankengut bildete.
Kropotkins Anarchismus gründete sich auf der Überzeugung, dass der menschliche Fortschritt eher durch gegenseitige Hilfe und Zusammenarbeit bedingt ist als durch den Wettbewerb untereinander. Er beschrieb die Utopie einer künftigen postkapitalistischen Gesellschaft, in welcher die ausbeuterischen Zwangsinstitutionen des zentralisierten kapitalistischen Staats durch ein frei föderiertes Netzwerk freiwilliger, landwirtschaftlich-industrieller Kommunen ersetzt würden, die auf demokratische Weise durch ihre Mitglieder, ohne hierarchisch-autoritäre Strukturen oder irgendeinen Rahmen gesetzlicher Sanktionen verwaltet würden.
Innerhalb dieser dezentralisierten Gemeinschaften würden die Menschen sowohl als Produzent*innen wie als Konsument*innen in Gleichheit leben, wobei die Verteilung der Güter und Ressourcen im Einklang mit dem kommunistischen Prinzip „Jedem nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ durchgeführt würde. Das Eigentum und die Produktionsmittel sollten in gemeinschaftlichen Besitz übergehen, das Lohnsystem würde abgeschafft und die kapitalistische Arbeitsteilung würde durch die Aufhebung von Hand- und Kopfarbeit mittels systematischer Rotation der Arbeitsaufgaben abgeschafft werden. Dieses Modell würde durch die Selbstverwaltung und direkte Demokratie die zentralisierten Entscheidungsstrukturen ersetzen können und, so glaubte Kropotkin, eine freie und klassenlose Gesellschaft absichern.
Gemäß Kropotkin ist das kapitalistische Wirtschaftsmodell nur dann wirksam und wünschenswert, wenn der persönliche Gewinn und der Mehrwert (d.h. das wirtschaftliche Wachstum, das durch die unbezahlte oder – in marxistischen Begrifflichkeiten ausgedrückt – „ausgebeutete“ Arbeitskraft geschaffen wird) zur Grundlage unserer wirtschaftlichen Aktivitäten genommen werden. Wenn dagegen die Bedürfnisse des Individuums als Grundlage genommen würden, könnten wir das Erreichen einer gesellschaftlichen Organisationsform des „Kommunismus“ nicht verfehlen, die es uns ermögliche, so sagte er, alle Bedürfnisse in umfassender und ökonomischer Weise zu befriedigen.
Kropotkin betrachtete die Arbeit als eine soziale Aktivität, die eher von einer kollektiven Zusammenarbeit als von den Handlungen einzelner, separater Personen abhängt. Kropotkin vertrat die Position, dass der Wohlstand, der durch diese Arbeit produziert werde, in gemeinschaftlichen Besitz übergehen und für das kollektive Wohl aller benutzt werden sollte. Weil sie durch die kollektiven Handlungen aller produziert worden seien, müssten Eigentum und Produktionsmittel sowie die Mittel zur Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse auch allen zur Verfügung stehen.
In Kropotkins Zukunftsgesellschaft sollten alle Formen von Eigentum – die Produktionsmittel eingeschlossen – gemeinschaftlich von allen Mitgliedern des Kollektivs in Besitz genommen werden. Und weil die Produktionsmittel Gemeinschaftsbesitz wären, würden auch die fabrizierten Produkte allen zur Verfügung stehen. Kropotkin glaubte, dass durch die Abschaffung des Privateigentums und den Übergang der Produktionsmittel in Gemeinschaftseigentum das Lohnsystem in keiner Form mehr aufrechterhalten werden könne. So weit wie möglich sollten alle Güter und Dienstleistungen kostenfrei angeboten werden, wobei die verfügbaren Güter im Überfluss vorhanden und grenzenlos zugänglich wären. Lediglich knappe Güter würden rationiert werden.(3)
Für Kropotkin war die Aufhebung von Hand- und Kopfarbeit entscheidend bei der Schaffung von gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen das Individuum nicht zur Arbeit verpflichtet würde, ob nun durch Zwang oder das Versprechen auf Bezahlung. Jenseits der sozialen Schichtung, die sich aus der Arbeitsteilung ergibt (und wo die gesellschaftliche Anerkennung der Arbeit den sozialen Status und das Niveau materieller Vergütung bestimmt), betrachtete Kropotkin den Gedanken, dass wir unser gesamtes Leben in einer einzigen, repetitiven Aktivität verbringen, „ein furchtbares Prinzip, das ebenso schädlich für die Gesellschaft wie abstumpfend für das Individuum ist.“(4) Indem der Trennung von Hand- und Kopfarbeit ein Ende gesetzt würde, so argumentierte er weiter, „wird die Arbeit nicht mehr als ein fluchwürdiges Los betrachtet werden: sie wird werden, was sie sein sollte, die freie Betätigung der menschlichen Fähigkeiten.“(5)
Obwohl sie eine sich selbst regierende Einheit bleiben solle, würde Kropotkins „freie Kommune“ innerhalb eines föderierten Netzwerks ähnlich dezentralisierter Organisationen existieren, in dem jede Kommune eine produktive Einheit innerhalb einer Ökonomie wäre, die auf einer Spezialisierung der Aufgaben basiert. Die vielen und unterschiedlichen Bedürfnisse in einer Gesellschaft würden eine Wechselbeziehung zwischen den Kommunen unvermeidlich machen, wodurch sie zu einer komplexen, fließenden und dezentralisierten Gesellschaft zusammenwachsen, in welcher die freiwilligen Assoziationen innerhalb und zwischen den Föderationen der Gemeinden die hierarchischen und zentralisierten Produktionszentren des kapitalistischen Staates ersetzen würden. Die Macht der Föderation würde auf ein absolutes Minimum reduziert und unter strenger Kontrolle der Delegierten jeder Gemeinde bleiben. Und die Ökonomie würde durch jenes verflochtene Netzwerk lokaler, regionaler und nationaler Gruppen sowie Föderationen koordiniert werden.
Das System ohne Regierung
Wie auch Marx glaubte Kropotkin, dass die Art und Weise, in der die Wirtschaftsaktivitäten organisiert sind, alle anderen Aspekte des sozialen Lebens bestimmen. So würde der „nicht-ökonomische Überbau“ einer Gemeinde – ihre sozialen, kulturellen und politischen Normen – den Charakter ihrer ökonomischen Basis widerspiegeln. Das jeweilige besondere Regierungssystem einer gegebenen Gesellschaft sei daher eine Ausdrucksform des ökonomischen Systems, das in dieser Gesellschaft existiere – und umgekehrt. In Kropotkins idealer Gesellschaft, in welcher der Gegensatz zwischen Unternehmer und Arbeiter*in ersetzt würde durch die freiwillige und genossenschaftliche Arbeit, gäbe es keinen Bedarf für irgendeine Regierung. „Das System ohne Kapitalismus“, so schrieb er, „bedingt das System ohne Regierung.“(6)
Das bedeutet nicht, dass eine anarchistische Gemeinde nicht auch Regeln haben würde, aber diese Regeln und Verhaltensnormen, welche die soziale Harmonie sicherten, würden von den zustimmenden Gruppierungen auf kollektive Weise beschlossen und freiwillig aufrechterhalten, ohne die Mechanismen zwangsweiser Autorität – Polizei, Gerichte, Strafsystem –, durch die sie üblicherweise durchgesetzt werden. Der soziale Zusammenhalt würde gewährleistet, indem die Menschen die Konkurrenz und die Gegensätze, die für die marktdominierten Gesellschaften typisch sind, durch Zusammenarbeit, Solidarität und gegenseitige Hilfe ersetzen.
Wenn einmal die Ungleichheiten, die dem staatlich-kapitalistischen Modell inhärent sind, der Vergangenheit angehörten, dann gelte das auch für die Notwendigkeit, diese Ungleichheiten auszugleichen – und damit würde auch das Verbrechen zu einem Relikt der Vergangenheit. Die Drohung gesetzmäßiger Sanktionen, die von irgendeiner Form von Regierungsautorität durchgesetzt würden, wäre demnach überflüssig geworden. Die ungeschriebenen gesellschaftlichen Normen würden dann das Bedürfnis nach sozialer Harmonie befriedigen. Die Erfüllung individueller Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft würde durch die eigenen sozialen Verhaltensweisen gesichert sowie „durch das Bedürfnis eines jeden nach Mitarbeit, Hilfe und Zuneigung“.(7)
Anarchismus und die Kibbuzbewegung
Kropotkins Einfluss auf die anarchistische Linke des 19. Jahrhunderts war so tiefgreifend, dass seine Theorie der gegenseitigen Hilfe und der dezentralisierten, genossenschaftlich wirtschaftenden Produktion grundlegend für die meisten der nachfolgenden Formen des kommunitären Anarchismus war.(8) In diesen Zusammenhang der Bekanntheit und Rezeptionsbreite seiner Theorien innerhalb der europäischen sozialistischen Zirkel seiner Zeit passt auch widerspruchslos die Tatsache, dass sich viele der einflussreichsten Denker bei der Grundlegung der Philosophie sowie des praktischen Charakters des frühen sozialistischen Zionismus der Kropotkinschen Ideen nicht nur bewusst waren, sondern sie auch als eine wichtige Quelle der Inspiration für die neue Gesellschaft betrachteten, die sie hofften, in Palästina aufbauen zu können.
Kropotkin hat selbst Fälle von Antisemitismus dokumentiert und sympathisierte stark mit den jüdischen Arbeiter*innen während der Jahre, in denen er in England lebte. Er sprach fließend Jiddisch, unterhielt sich mit jüdischen Arbeiter*innen, traf sich und korrespondierte mit vielen, die später zu prägenden Persönlichkeiten werden sollten, was die Pläne für genossenschaftliche Siedlungen in Palästina betraf, zum Beispiel Franz Oppenheimer, dem Architekten der allerersten palästinensisch-jüdischen Genossenschaft in Merhavia.(9)
Kropotkins Bücher gehörten zu den ersten, die ins Hebräische übersetzt und in Palästina vertrieben wurden. Und seine Artikel wurden in den Zeitungen vieler Gruppen und Organisationen wiederabgedruckt, die an der frühen jüdischen Arbeiterbewegung beteiligt waren. So meinte der Historiker und gleichzeitige Kibbuznik Avraham Yassour: „Der Gedanke, die Zukunft auf die Schaffung unabhängiger Kommunen zu bauen, war für viele Pioniere attraktiv. (…) [Kropotkins] Theorie, die hauptsächlich auf der absolut notwendigen Freiheit des Individuums und somit auf der absolut notwendigen Freiwilligkeit innerhalb von Nicht-Regierungs-Organisationen gründete, war durchaus passend für die Realität, die durch die Kibbuzbewegung am Entstehen war.“(10)
Die jungen Männer und Frauen, die in Palästina während der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ankamen, stießen auf keinerlei staatliche Strukturen, mit Ausnahme der kolonialen Einrichtungen des Osmanischen Reichs, später dann denen des Britischen Mandats. Sie fanden somit ein beispielloses Vakuum vor, das sie versuchten, mit einer Zusammenfassung verschiedener Ideen zu füllen. Innerhalb dieser ideologischen Gärung übte der Anarchismus einen weitaus dominanteren Einfluss aus, als weithin angenommen wird. Nach Angaben des Kibbuz-Historikers Yaacov Oved waren „anarchistische Einflüsse“ in der Gründergeneration der Kommunard*innen „vorherrschend“ und jede Strömung innerhalb der Kibbuzbewegung spürte die Wirkung von Kropotkins Anarchismus bis zu einem gewissen Grade.(11)
Gustav Landauer
Die Liste derjenigen, die innerhalb der jüdischen Arbeiterbewegung jener Zeit zu den Bewunderer*innen Kropotkins zählten, beinhaltet einige der bekanntesten Namen in der Geschichte des sozialistischen Zionismus. Derjenige, der vielleicht am bedeutsamsten darin war, dieses Milieu mit Kropotkins Ideen vertraut zu machen, war der deutsche anarchistische Intellektuelle Gustav Landauer (1870–1919). Durch Landauers enge Freundschaft mit dem jüdischen Theologen Martin Buber wurden seine Gedanken über die soziale Transformation prägend für das Denken Vieler aus den Jugendbewegungen, die in den frühen Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts nach Palästina kamen und dort Kibbuzim aufbauten, besonders aber für Hashomer Hatzair (Der junge Wächter), dessen Gemeinschaften sich später zur Kibbutz-Artzi-Föderation [Artzi: Hebr. Nachname mit Bedeutung: „Mein Land“; d.Ü.] zusammenschlossen.
Landauer wurde innerhalb der europäischen Linken während der Neunzigerjahre des 19. Jahrhunderts durch die radikale Studentengruppe der Berliner Jungen bekannt. Als Redakteur der Zeitung dieser Strömung ,Der Sozialist‘ wurde Landauer zu so etwas wie einem Aushängeschild für die jungen Revolutionär*innen aus der Mittelklasse des fin de siècle in Berlin und er machte sich schnell einen Namen weit darüber hinaus. Bereits zur Jahrhundertwende hatte Landauer einen europaweiten Ruf als Essayist, Vortragsredner, Dramatiker, Romanschriftsteller, Journalist, Theaterkritiker und politischer Theoretiker. Obwohl ihn seine Verankerung in der Mittelklasse und seine Gegnerschaft zum Klassenkampf oft in Streitereien mit der Mainstream-Arbeiterbewegung verwickelte, war sein Beitrag zur deutschen Kultur des fin de siècle so bedeutend, dass einige der angesehensten literarischen und philosophischen Persönlichkeiten Deutschlands zu seinen Bewunderer*innen zählten.
Landauer war beeinflusst durch die Ideen von Friedrich Nietzsche, Peter Kropotkin, Leo Tolstoi und Pierre-Joseph Proudhon, aber auch durch die deutschen Romantiker und die Ikonen der englischsprachigen Literatur, wie etwa Oscar Wilde, Walt Whitman und William Shakespeare. Landauers politische Auffassungen wandten sich entschieden gegen die materialistische Oberflächlichkeit des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts innerhalb der europäischen anarchistischen Linken. Seine pazifistische, nicht-doktrinäre Konzeption des Anarchismus wurde durch seine Vorstellung bestimmt, dass der Staat nicht eine abstrakte Einheit außerhalb der Reichweite menschlicher Wesen sei, also eine Einheit, die durch eine gewaltsame Revolution „zertrümmert“ werden könne, sondern dass er ein schwieriger, komplexer und lebendiger Organismus sei, der sich aus einer bunt gemischten Vielfalt direkter, lebendiger, zwischenmenschlicher Beziehungen unter Individuen zusammensetze. Daher rühren die bekannten Sätze Landauers aus dem Jahr 1910: „Staat ist ein Verhältnis, ist eine Beziehung zwischen den Menschen, ist eine Art, wie die Menschen sich zueinander verhalten; und man zerstört ihn, indem man andre Beziehungen eingeht, indem man sich anders zueinander verhält. (…) Wir sind der Staat – und sind es so lange, als wir nichts anderes sind, als wir die Institutionen nicht geschaffen haben, die eine wirkliche Gemeinschaft und Gesellschaft der Menschen sind.“(12)
Für Landauer war es die Korruption des menschlichen Geistes, welche die Menschen in wettbewerbsorientierten, antagonistisch zueinander stehenden Beziehungen gefangen hielt und damit die Ursache für das Fortbestehen von Kapitalismus und Staat war. Kapitalismus und Staat könnten dagegen nicht überleben, wenn die Menschen aus diesem künstlichen sozialen Konstrukt ausstiegen, sich durch den Gemeinschaftsgeist wieder verjüngten, der in vormodernen Zeiten die Gesellschaft in einem kohärenten geistigen Ganzen zusammenhielt, und dadurch zu neuen Verhaltensweisen im Umgang miteinander finden würden.
Die Revolution müsse daher als der Prozess einer groß angelegten Regeneration aufgefasst werden, einer gründlichen geistigen Überprüfung, die beim Individuum beginnt und sich auf das gesamte Gesellschaftsleben ausdehnt. Anstatt also die Institutionen des bürgerlichen Staatskapitalismus revolutionär umzustürzen, glaubte Landauer, dass die Individuen zum Zwecke der Überwindung des Kapitalismus und des Staates „zusammenwachsen zu einem Gebilde, zu einer Zusammengehörigkeit, zu einem Organismus mit unzähligen Organen und Gliederungen.“(13) Wenn das geschehe, dann könne „die Schaffung und Erneuerung echter organischer Struktur“ beginnen und es werde genau dieses organische Wachstum sein, das dann zur rechten Zeit „den Staat [‚zerstört‘], indem es ihn verdrängt.“(14) Durch die Verbündung von Individuen zu Familien, von Familien zu Gemeinden und von Gemeinden zu Vereinigungen werde eine umfassende alternative Infrastruktur mitten im Herzen des Staates entstehen und schließlich über die bestehende Ordnung hinauswachsen und sie durch einen voluntaristischen, frei verfassten „Bund von Bünden“ ersetzen.
Landauer argumentierte, dass die anarchistische Bewegung ihre Energie deshalb auf die Neustrukturierung der Gesellschaft von unten, auf die konstruktive Selbst-Emanzipation durch die Schaffung von friedfertigen, selbstorganisierten und unabhängigen Genossenschaftsprojekten konzentrieren solle, welche die Keime einer nicht-entfremdeten Zukunft sein würden. Letztlich würden in dieser Zukunftsvision lose verbundene Allianzen und Bündnisse mit landwirtschaftlich-industriellen Gemeinschaften aufblühen, die sich frei zu einem „Bund von Bünden“ verknüpfen würden. Innerhalb dieser Kommunen würden die handwerklichen Produktionsformen ebenso wie die ländlichen Gemeinschaftstraditionen vormoderner Gesellschaften wieder erstehen, aber mit einer kleingewerblichen Industrie verbunden und dadurch erst die organische Einheit von Landwirtschaft, Industrie und Handwerk sowie zwischen Hand- und Kopfarbeit wieder hergestellt.
Mit deutlichem Anklang an Kropotkin beschrieb Landauer solch eine Gemeinschaft als „[d]as sozialistische Dorf, mit Werkstätten und Dorffabriken, mit Wiesen und Äckern und Gärten, mit Großvieh und Kleinvieh und Federvieh – ihr Großstadtproletarier, gewöhnt euch an den Gedanken, so fremd und seltsam er euch im Anfang auch anmuten mag, daß das der einzige Anfang eines Wirklichkeitssozialismus ist, der übriggeblieben ist.(15)
Der Kibbuz
Weil Landauer glaubte, dass die individuelle Selbstverwirklichung als Schlüssel zum menschlichen Fortschritt diene und er gleichzeitig überzeugt davon war, dass dies zu jeder Zeit möglich war, existierte für ihn Utopia viel eher in einer immerwährenden Gegenwart, anstatt in einer zukünftigen Phase der menschlichen Entwicklung. Dieser Gedanke erwies sich für die Generation jüdischer Jugendlicher als äußerst anziehend, die dann die Kibbuzbewegung bilden sollten. So ist es kein Zufall, dass ein großer Teil der Sozialtheorie Landauers, die selbst wiederum tief im Gedankengut Kropotkins verwurzelt war, schließlich in den Kibbuzim in die Praxis umgesetzt wurde.
Der Kibbuz ist eine auf Freiwilligkeit basierende, sich selbst regierende Gemeinschaft, die durch ihre Mitglieder demokratisch verwaltet wird, wobei sie weder über juristische Sanktionsmöglichkeiten noch irgendeinen anderen Rahmen von Zwangsautorität verfügt, um eine Anpassung an ihre kollektiv gefällten Verhaltensnormen zu erreichen. Die Quelle der politischen Autorität in der Gemeinschaft ist die Vollversammlung aller Mitglieder (die asefa), in der jedes Mitglied gleiches Stimmrecht im Hinblick auf alle Angelegenheiten des Kibbuz-Lebens hat und Entscheidungen durch Abstimmungen per Mehrheitsvotum gefällt werden. Noch vor kurzem hat im Kibbuz kein Privateigentum existiert und alles Eigentum, das der Produktionsmittel mit eingeschlossen, war in gemeinschaftlichem Besitz. Die Produktion wurde kollektiv ausgeübt und ein individuelles Einkommen hat es nicht gegeben.
Das Prinzip der Rotation aller Aufgaben garantierte, dass es keine soziale Differenz zwischen Hand- und Kopfarbeit gab und so eine partizipative Ökonomie aufgebaut werden konnte. Ein Beobachter formulierte es so: „Die strukturellen Vereinbarungen der Gemeinschaft bestehen ausschließlich zum Wohle der sozialen Mitgliedschaft, der gegenseitigen Hilfe, der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, der Zerstreuung von Macht, den Netzwerken zum Austausch von Informationen sowie der sichtbaren und nichtausbeuterischen Arbeit.“(16)
Güter und Dienstleistungen innerhalb der Kommune werden auf der Basis der marxistischen Formel „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ zur Verfügung gestellt.
Als unabhängige, soziale und ökonomische Einheit ist der Kibbuz das, was Martin Buber eine „Vollgenossenschaft“ nannte. Dies bedeutet, dass im Gegensatz zu traditionellen Genossenschaften – d.h. Organisationen, in denen Menschen aufgrund eines bestimmten spezifischen Zwecks zusammenkamen – der Kibbuz das gesamte Leben der Gemeinschaft umfasst. Als solcher wäre der Kibbuz wohl eher als gemeinschaftsbezogene Gesellschaft zu beschreiben, als eine Gemeinde, die auf starken primären Beziehungen, Normen und einer Sozialkontrolle gründet, in welcher die Individuen im Rahmen einer „alle umfassenden, gegenseitigen sozialen Angleichung“ aufeinander bezogen sind.(17) Aufgrund dessen gründete der Kibbuz auf einer Verschmelzung von Produktion und Konsumption, welche die direkte Miteinbeziehung der Gemeinschaft und ihre Verantwortung für jeden Aspekt des Lebens erfordert, was sowohl die politische als auch die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aktivität betrifft.
Die Mitgliedschaft in den Siedlungen reicht heute von 50 bis zu 2000 Menschen pro Gemeinschaft; die durchschnittliche Einwohnergröße pro Einheit liegt zwischen 400 und 500.(18) Zwar ist jeder Kibbuz eine autonome Einheit und dessen Vollversammlung übt die Souveränität und Autonomie über seine inneren Angelegenheiten sowie die Verantwortung für seine eigene soziale, politische und ökonomische Entwicklung und seine Entscheidungsfindung aus, doch gleichzeitig existiert er als Teil einer föderierten Struktur ganz ähnlicher Kommunen. Die 269 Siedlungen, die derzeit [2009; d.Ü.] bestehen, sind in eine föderative Struktur mit einem Sekretariat in Tel Aviv eingebunden.(19) Wenn eine Entscheidung des Sekretariats von der Vollversammlung eines einzelnen Kibbuz nicht gebilligt wird, hat das Sekretariat wenig bis überhaupt keine Zwangsmittel, um diese Entscheidung zu ändern.
Die Kibbuzim und der Zionismus
In seinem Nachwort zur englischsprachigen Ausgabe von 1974 von Kropotkins Buch Landwirtschaft, Industrie und Handwerk erwähnt der britische Anarchist Colin Ward den Kibbuz als eines der wenigen Beispiele in der Geschichte, in denen Kropotkins Sozialtheorie einen wirkungsvollen praktischen Ausdruck gefunden habe. Dieser Feststellung folgt jedoch ein Vorbehalt: „Wenn wir die jüdischen Gemeinschaftssiedlungen als praktische Umsetzung von Kropotkins idealer Kommune bezeichnen“, so schreibt er weiter, „dann müssen wir sie ohne Bezug zur Funktion betrachten, die sie in den letzten Jahrzehnten im Dienste des israelischen Nationalismus und Imperialismus eingenommen haben.“(20)
Einige werden sich deshalb gegen die Anführung der Kibbuzim als beispielhaft verwahren. Die Verbindungen der Kibbuzbewegung nach 1948 zum Staat Israel – einem Land, dessen Name innerhalb der gegenwärtigen globalen Linken zu einem Synonym für Apartheid und zeitgenössischen Kolonialismus geworden ist – inklusive jener Kibbuz-Mitglieder, welche in die israelischen Sicherheitskräfte oder die israelischen Streitkräfte [IDF; Israel Defense Force; d.Ü.] oder auch in höhere Polizeiränge eingetreten sind, sind sicherlich auch dafür verantwortlich, warum die Kibbuzim im Allgemeinen von der anarchistischen Bewegung nicht als Partner in ihren Kämpfen wahrgenommen werden. Viele meinen, die schlichte Existenz der Kibbuzim basiere auf der zwangsweisen Vertreibung und Unterdrückung der ansässigen arabischen Bevölkerung der Region, und sie würden jedes progressive Ideal von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit, das die Kibbuzim für sich beanspruchen, als wertlos betrachten angesichts der massiven Ungleichheit, auf welcher die praktische Umsetzung dieser Ideale im Laufe der Zeit basierte.
Per definitionem kann keine Kommune, die offiziell mit irgendeinem Staatswesen liiert ist, als ein anarchistisches Projekt betrachtet werden. Gleichwohl bedeutet dies nicht, dass wir nicht von den politischen Grundsätzen, die innerhalb dieses Kommunelebens verwirklicht wurden, lernen und uns mit ihnen identifizieren könnten. Ein Artikel in der Londoner anarchistischen Zeitung Freedom gab im Jahre 1962 zu bedenken: „[Der Kibbuz] ist eines der besten Beispiele der Demokratie und gewiss eines der bestehenden Projekte, das dem praktizierten Anarchismus am nächsten kommt. Jede lieb gewonnene Theorie des Anarchismus, seien es die Dezentralisierung, der Minderheitenschutz, das ‚Gesetz‘ ohne Regierung, Freiheit anstatt offizieller Genehmigung, die Delegierung der Repräsentation, sind dort täglich praktizierter Bestandteil des Lebens. Im Mikrokosmos kann beobachtet werden, wie eine wahrhaft freie Gesellschaft aussehen wird.(21)
Die gesamte Geschichte hindurch wurden alle selbstorganisierten Projekte in unterschiedliche Formen von Netzwerken der Macht eingefangen, wodurch ihr Fortbestand äußerst kompliziert geworden ist. Dabei bildet der Kibbuz sicherlich keine Ausnahme.
Anmerkungen
(1): Michael Löwy: Redemption and Utopia. Jewish Liberation Thought in Central Europe, The Athlone Press, London 1992, S. 65 ; dt. Ausgabe: Michael Löwy: Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken – eine Wahlverwandtschaft, Karin Kramer Verlag, Berlin 1997.
(2): Vgl. Graham Purchase: Anarchist Society & ist Practical Realisation, See Sharp Press, San Francisco 1990, S. 4.
(3): Jon Bekken: „Peter Kropotkin’s Anarchist Communism“ (http://flag.blackened.net/liberty/spunk/Spunk65.txt), 20. Februar 2005.
(4): Peter Kropotkin, zit. nach: Jon Bekken, ebenda. A.d.Ü.: Hier zitiert nach dt. Übersetzung in: Peter Kropotkin: Die Eroberung des Brotes (1892), Edition Anares und Trotzdem Verlag, Bern/Grafenau 1989, S. 146.
(5): Peter Kropotkin: Die Eroberung des Brotes, a.a.O., S. 115.
(6): Peter Kropotkin: „Anarchist Communism“, in: Roger N. Baldwin (ed.): Anarchism: A Collection of Revolutionary Writings, Dover Publications Inc., New York 2002, S. 52.
(7): Peter Kropotkin, zit. nach: Paul Eltzbacher: Der Anarchismus, Guttentag, Berlin 1900, S. 134.
(8): Im Gegensatz zur individualistischen Strömung des anarchistischen Denkens, welche die individuelle Eigenständigkeit betont und sich gegen die zwangsweise Unterwerfung des Individuums unter jede Form äußerer Autorität wendet, Formen sozialer Gemeinschaften mit inbegriffen.
(9): Avraham Yassour: „Prince Kropotkin and the Kibbutz Movement“, in: Avraham Yassour (Hg.): In a Kibbutz Commune (A Collection of Papers), University of Haifa, Haifa o.J., S. 31.
(10): Ebenda, S. 31, a.a.O.
(11): Yaacov Oved: „Anarchism in the Kibbutz Movement“, in: The Anarchist Communitarian Network, siehe: http://www.anarchistcommunitarian.net/articles/kibbutz/kibbtrend.shtml, 16. Januar 2005.
(12): Gustav Landauer: „Schwache Staatsmänner, schwächeres Volk“, in: Der Sozialist, 15. Juni 1910, Berlin 1910, hier nach Gustav Landauer: Antipolitik. Ausgewählte Schriften, Bd. 3.1. hrsg. von Siegbert Wolf, Verlag Edition AV, Lich 2010, S. 234. A.d.Ü. Horrox zit. hier Landauer nach: Martin Buber: Paths in Utopia, 1996, S. 46, dt. Original, das in Nuancen von der englischen Ausgabe textlich variiert, weil Buber die englische Ausgabe durchgesehen hat: Pfade in Utopia, Verlag Lambert/Schneider, Heidelberg 1950, S. 81, dort jedoch nur erster Teil des Zitats.
(13): Gustav Landauer: „Dreißig Sozialistische Thesen“, in: Die Zukunft, Berlin, 12. Januar 1907, hier nach Gustav Landauer: Antipolitik. Ausgewählte Schriften, Bd. 3.1. hrsg. von Siegbert Wolf, Verlag Editions AV, Lich 2010, S. 115.
(14): Martin Buber: Pfade in Utopia, a.a.O., S. 84.
(15): Gustav Landauer: „Die Siedlung“, in: Der Sozialist, 15. Juli 1909, Berlin 1909. A.d.Ü.: Siehe ebenfalls: Martin Buber: Pfade in Utopia, a.a.O., S. 96.
(16): Joseph Blasi: The Communal Experience of the Kibbutz, Transaction Inc., New Brunswick, New Jersey 1986, S. 179.
(17): Barzel, zit. nach: Christopher Warhurst: Between Market, State and Kibbutz: The Management and Transformation of Socialist Industry, Mansell, London 1999, S. 7.
(18): Amir Helman: „Use and Division of Income in the Kibbutz“, in: Yehudit Agasi, Yoel Darom (Hg.): Alternative Way of Life: The First International Conference on Communal Living (Communes and Kibbutzim), Norwood Editions, Norwood 1984, S. 46.
(19): Dieses Buch beschränkt sich auf die Diskussion der Erfahrungen folgender Vereinigungen der Kibbuzim: der TKM (Die Kibbuzbewegung), einer Verschmelzung der beiden größten Föderationen TAKAM (Vereinigte Kibbuzbewegung) und Kibbuz Artzi, die zusammen 94 Prozent der Gesamtbevölkerung in den Kibbuzim des Landes auf sich vereinen. Die verbleibenden 6 Prozent umfassen die orthodox-religiöse Kibbuzbewegung (die Dati-Föderation). Diese unterscheidet sich sowohl in ihrer Struktur als auch in ihrer Praxis von den Hauptkörperschaften der Bewegung. Dati ist aus nahe liegenden Gründen ideologisch vielschichtiger zu bewerten, was ihre Beziehungen zum Anarchismus anbetrifft. Während die Kibbuzniks aller Föderationen (mit sehr wenigen Ausnahmen) jüdischen Ursprungs sind, so berufen sie sich in der Mehrheit doch auf ein kulturelles oder nationales Judentum und nicht auf ein religiös fundiertes Judentum. Bei den insgesamt 17 Dati-Kibbuzim sowie den beiden Kibbuzim der Poalei Agudat Israel (der Pagi-Bewegung), den ultra-orthodoxen Kibbuzim, ist das natürlich anders. Die Dati-Föderation entstand aus der Misrachi-Tradition des religiösen Zionismus (osteuropäischer Herkunft), besonders der HaPoel HaMizrachi-Strömung der Arbeiterbewegung [1922 in Jerusalem gegründet; Slogan: Torah und Arbeit; d.Ü.]. In der Folgezeit der israelischen Unabhängigkeitserklärung bildete sie eine gemäßigte Fraktion in der Nationalreligiösen Partei (1956 gegründet). Trotzdem standen einige ihrer Elemente, besonders in ihrer Jugendbewegung Bnei Akiva (Kinder Akiwas) [bezieht sich auf Rabbi Akiva, einem Begründer des rabbinischen Judentums; d.Ü.] unter dem Einfluss der rechtsextremen, ultranationalistischen Bewegung Gush Emunim (Block der Getreuen). Obgleich die Dati-Föderation in diesem Buch nicht behandelt wird, muss hier gleichwohl festgehalten werden, dass auch deren Kibbuzim nicht völlig ohne Verbindungslinien zum anarchistischen Denken sind – wenngleich sie verschlungener sind als bei den anderen Föderationen. Die Memoiren des Anarchisten Augustin Souchy, der Mitglied von Landauers Sozialistischem Bund vor dem Ersten Weltkrieg gewesen war, beinhalten einige Seiten über seinen Besuch im Kibbuz Yavneh im Jahre 1951 und zeigen, wie erfreut er war, als er bemerkte, dass Mitglieder dieses Dati-Kibbuz durch Landauers Ideen beeinflusst und inspiriert worden waren; vgl. Michael Tyldesley: No Heavenly Delusion: A Comparative Study of Three Communal Movements, Liverpool University Press, Liverpool 2003, S. 131. A.d.Ü.: Vgl. zu Souchys Besuch im Kibbuz Yavneh: Augustin Souchy: Vorsicht Anarchist! Ein Leben für die Freiheit. Politische Erinnerungen, Trotzdem Verlag, Reutlingen 1982, S. 190f.
(20): Colin Ward: „Editor’s Postscript“ in: Peter Kropotkin: Fields, Factories and Workshops Tomorrow (1898), Freedom Press, London 1974, S. 202; dt. Ausgabe: Peter Kropotkin: Landwirtschaft, Industrie und Handwerk, Karin Kramer Verlag, Berlin 1976.
(21): S.F.: „Reflections on Utopia“, in: Freedom, London, 24. März 1962.
Rezensionen
aus: ND vom 21.3.2022
Ein kleines Eden im Diesseits
James Horrox berichtet über Anarchismus in der Kibbuzim-Bewegung
Nur wenige Jahre vor seinem Tod veröffentlichte der deutsche Anarchosyndikalist Augustin Souchy eine euphorische Schrift unter dem Titel »Reise durch die Kibbuzim« (1984). Enthusiastisch beschreibt er darin seine Einsichten und Erfahrungen, die er bei Reisen durch diverse Kibbuzim gesammelt hat. Sein Bericht endet pathetisch und mit problematischem Einschlag wie folgt: »Vor fast 2000 Jahren brachten die Juden der Menschheit das Christentum, wobei sie leider den Garten Eden ins Jenseits verpflanzten. Heute bringen die Kibbuzim wenigstens ein kleines Eden ins Diesseits zurück.« Fast 40 Jahre später ist nun die deutsche Übersetzung der 2008 verfassten Studie »Gelebte Revolution« des britischen Politikwissenschaftlers und Autors James Horrox erschienen.
Die Kibbuzim-Bewegung wurde zwar wiederholt in die Nähe des Anarchismus gerückt – gerade in den neueren Gesamtdarstellungen zum Anarchismus (Peter Marshall, »Demanding the Impossible«) oder in Studien zum modernen Anarchismus (Uri Gordon, »Hier und Jetzt«) -, aber bis auf die bereits zitierte Schrift von Souchy steht Horrox Studie allein auf weiter Flur.
Ausgehend von ein paar grundlegenden Bemerkungen zum Anarchismus und zum jüdischen Sozialismus, namentlich den Ideen von A. D. Gordon (1858-1919), einem frühen Kibbuznik und führenden Vertreter der Bewegung Hapoel Hatzair (Der junge Arbeiter), werden von Horrox die drei ersten Alija (Wellen der Migration nach Palästina), das heißt der Zeitraum zwischen 1882 und 1924, in den ersten Kapiteln fokussiert. Im Zuge der ersten Alija kam es zur Gründung von Kvutzot (landwirtschaftliche Kollektivsiedlung), während im Rahmen der zweiten Welle sich die Kibbuzim als eigenständige Siedlungsform entwickelten.
Gerade bei den Protagonist*innen der zweiten Welle, in der unter anderem der bis heute existierende Kibbuz Degania (Kornblume) entstand, ist der Einfluss frühsozialistischer Denker, Leo Tolstois und der Theorie Peter Kropotkins besonders präsent; während in der zweiten und dritten – nicht zuletzt über den jüdischen Philosophen Martin Buber vermittelt – der Gemeinschaftsgedanke von Gustav Landauer stärker Fuß gefasst hat. Innerhalb der dritten Welle wurde dann aber auch der Einfluss eines von Marx beeinflussten Sozialismus stärker, der sich Mitte der 1920er Jahre breitmachte. Horrox bietet aber auch einen kurzen Ausblick auf die späteren Jahre und Entwicklungen, die den anarchistischen Impuls zurückgedrängt haben.
Anhand des in jenen knapp 15 Jahren zwischen der Gründung von Degania und dem Ende der dritten Alija gelebten Sozialismusmodells in den Kibbuzim stellt Horrox deren Grundlagen dar, die sich vereinzelt bis heute in den aktuellen Siedlungen wiederfinden, um im vierten Kapitel auch die Frage nach einer neuen Kibbuzim-Bewegung zu stellen. Bei der Darstellung der Funktionsweise setzt er sich zum Beispiel kritisch mit dem Arbeitsethos auseinander – allerdings ohne die zum Teil in der ersten Generation der Kibbuzniks immer noch existierende geschlechtsspezifische Arbeitsverteilung zu problematisieren – und thematisiert die pädagogischen Ansätze.
Daran anknüpfend beleuchtet er das Verhältnis der anarchistischen Bewegung in Israel zur Kibbuzim-Bewegung, wobei er hier vermehrt mit O-Tönen arbeitet. Dabei muss er feststellen: »Mit den Erfahrungen der frühen Kommunard*innen können viele der heutigen israelischen Anarchist*innen nicht mehr viel anfangen.«
Diese fundierte Darstellung der anarchistischen Tradition innerhalb der Kibbuzim-Bewegung von Horrox bietet einen sehr guten Einstieg in die Geschichte und die frühe Entwicklung jener einzigartigen Siedlungsbewegung, die im Gegensatz zu den meist kurzlebigen frühsozialistischen Kommuneprojekten der Adepten Cabets, Saint-Simons und Fouriers auf eine über 100-jährige Geschichte zurückblicken kann. Weiterhin füllt Horrox eine Forschungslücke in der ansonsten sehr reichhaltigen Literatur über diese Bewegung, indem er gerade das häufig in der Sekundärliteratur aufgebrachte Postulat einer Nähe zwischen dem anarchistischen Denken und der frühen Kibbuzim-Bewegung, wie es unter anderem von Noam Chomsky vertreten wird, faktenreich untermauert.
Ergänzt wird Horrox’ Studie durch mehrere Anhänge – sowohl durch einen Nachdruck des Briefwechsels von Nahum Goldman mit Gustav Landauer als auch durch Uri Gordons Vorwort zur ersten amerikanischen Ausgabe.
aus: der Freitag vom 3.2.2022
Zionismus: Der Traum vom Gemeinwesen ohne Staat
Zwei Bücher, die sich mit dem Zionismus als linksradikalem und vor allem auch anarchistischem Projekt befassen, machen deutlich: Die Kolonialismus-Debatte greift hier viel zu kurz
Gegenwärtig, in einer Zeit, in der legitime Kritik an israelischem Regierungshandeln hier und israelbezogener Antisemitismus dort beinahe ununterscheidbar geworden sind, ist es unerlässlich, daran zu erinnern, dass der Zionismus eben auch eine progressive Bewegung war; eine Bewegung, die nicht wenige linke, ja geradezu linksradikale Strömungen aufwies.
Ein Topos der gegenwärtigen Zionismuskritik ist der Vorwurf des Kolonialismus. Zu wenig unterscheidet diese Kritik zwischen Kolonialismus und Kolonisation – ein Umstand, der zumal die ersten jüdischen Siedlungen in Palästina an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert betrifft. Ging es doch diesen jungen Leuten, die als „Zweite Aliyah“ zwischen 1904 und 1914 das von judenfeindlichen Pogromen heimgesuchte Zarenreich verließen, gewiss nicht darum, erwirtschaftete Reichtümer nach Russland zu reimportieren. Der Zionismus – unbestreitbar eine Kolonisationsbewegung – war schon alleine deshalb kein Kolonialismus, weil er kein Mutterland aufzuweisen hatte.
Zudem, und darauf macht eine bisher zu wenig beachtete Neuerscheinung aufmerksam, war der frühe Zionismus – jedenfalls in und aus Russland – eine nicht nur linksradikale, sondern mehr noch eine anarchistische Bewegung. Eine anarchistische Bewegung, der es zwar nicht darauf ankam, eine gewaltsame Revolution herbeizuführen, wohl aber darauf, ein staatsfreies, auf kommunistischer Grundlage beruhendes Gemeinwesen zu schaffen: einen Verbund von Genossenschaften und kleineren Siedlungen, deren Einwohner und Einwohnerinnen kein Privateigentum kannten und genau deshalb solidarisch wirtschafteten.
Entsprechend weist der Historiker James Horrox in seiner Studie „Gelebte Revolution“ überzeugend nach, in welchem Ausmaß die frühe Kibbuzbewegung eben nicht von Marx, Engels oder Lenin geprägt war, sondern von zwei Theoretikern, die heute kaum noch bekannt sind: von Peter Kropotkin und Gustav Landauer.
Peter Kropotkin (1862-1921) publizierte 1902 sein bahnbrechendes Werk „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“. Gustav Landauer, 1870 geboren und 1919 von Mitgliedern eines rechtsradikalen Freikorps ermordet, trat, Proudhon und Bakunin verpflichtet, 1893 auf dem Internationalen Sozialistischen Arbeiterkongress der II. Internationale in Zürich für einen „anarchistischen Sozialismus“ ein. Als Folge dieses Auftritts wurde seine Gruppierung ob ihrer grundsätzlichen Ablehnung des Staates aus der II. Internationale ausgeschlossen.
Noch im März 1919, kurz vor seinem gewaltsamen Tode, korrespondierte Landauer mit dem Zionisten und späteren Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Nahum Goldmann, der damals mit dem Sozial- und Religionsphilosophen Martin Buber eine Konferenz in München einberufen wollte. In seinem Schreiben an Landauer gab Goldmann zu Protokoll, dass es dem Zionismus nicht um eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel – man war doch nicht marxistisch – gehe: „Uns allen schwebt so etwas wie eine genossenschaftlich organisierte Fabrik vor, an der die Arbeiter ebenso wie der Unternehmer beteiligt sind … .“ Wenige Tage später antwortete Landauer: „Man braucht wahrhaftig kein Marxist zu sein, um die Profitwirtschaft völlig auszuschließen (…) Hierher gehört vielmehr die Frage des äquivalenten Tausches, der zinslosen Geldwirtschaft und des gegenseitigen Kredits.“
Indes war die zunehmend in unterschiedlichste ideologische Gruppen aufgespaltene Kibbuzbewegung – diesen Umstand unterschlägt Horrox nicht – den eigenen Prinzipien zum Trotz in die Gründung eines Staatswesens eingebunden; eines jüdischen Staatswesens, das unvermeidlich in Konflikt mit der ansässigen arabischen Bevölkerung Palästinas geraten musste. War es doch der Kibbuzbewegung im Ganzen nicht gelungen, unter der arabischen Bevölkerung gleichgesonnene Mitstreiter und Mitstreiterinnen zu gewinnen – wenngleich mindestens die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Polen gegründete Bewegung „Hashomer Hatzair“ (übersetzt: Der junge Wächter) das versuchte.
Auf jeden Fall differenzierte sich die Kibbuzbewegung aus, schuf eigene Organisationen und ordnete sich unterschiedlichen Parteien der entstehenden nationalen jüdischen Gemeinschaft in Palästina, des „Jischuw“, zu. Bei alledem war das Interesse vieler Mitglieder der Kibbuzim am politischen Weltgeschehen zumal in den 1930er Jahren ungebrochen; so schreibt Horrox: „Während des spanischen Bürgerkrieges gab es ein großes Interesse innerhalb der Kibbuzbewegung an den Aktivitäten der anarchistischen Milizen in Spanien.“ Viele Anarchisten und Anarchistinnen aus der Kibbuzbewegung seien in den dreißiger Jahren nach Spanien gereist, um sich den Milizen der anarchistischen Bewegung anzuschließen.
Damit schließt sich ein Kreis und wird eine Brücke zu einer der bemerkenswertesten Neuerscheinungen dieses Frühjahrs geschlagen: zu Michael Uhls „Betty Rosenfeld. Zwischen Davidstern und roter Fahne“. Erzählt wird die Geschichte dreier Schwestern, die in Stuttgart zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer assimilierten, bürgerlichen, jüdischen Familie aufwuchsen: Elisabeth, Charlotte und Ilse: drei Mädchen, drei junge Frauen, die – ohne dramatische Radikalisierungsschübe – von der Jugendorganisation des „Centralvereins Deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, den „Kameraden“, Ende der 20er Jahre Schritt für Schritt in den Umkreis kommunistischer Organisationen gelangten.
Das antisemitische Regime des nationalsozialistischen Deutschland legte es jungen jüdischen Menschen nahe, zu emigrieren – in nicht wenigen Fällen nach Palästina. So auch Elisabeth Rosenfeld: Als die 1907 in Stuttgart geborene, dort zur Krankenschwester ausgebildete junge Frau 1935 nach Palästina ging, um dort in Kfar Yedidja, einem von deutschen Zionisten gegründeten Kibbuz zu arbeiten, war sie längst – wenn auch im weitesten Sinne – kommunistisch eingestellt. Und zwar so sehr, dass sie nach Beginn des Spanischen Bürgerkriegs den Entschluss fasste, sich dort den internationalen Brigaden anzuschließen.
So fuhr Elisabeth Rosenfeld 1937 von Haifa mit einem Schiff nach Frankreich, von wo sie nach Spanien gelangte, um dort bis zum Ende des Bürgerkriegs 1939 als medizinische Helferin zu wirken. Nach Francos Sieg floh Betty Rosenfeld nach Frankreich, wo sie 1942 vom Vichy-Regime in Gurs inhaftiert wurde. Über Drancy wurde sie nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Aus James Horrox alles andere als unkritischer Geschichte der Kibbuzbewegung sowie der anrührenden Lebensgeschichte Betty Rosenfelds lässt sich lernen, dass die Zionismus/Kolonialismus-Debatte bei weitem zu undifferenziert geführt wird und daher tatsächlich zu „israelbezogenem Antisemitismus“ führen kann.
Die Bücher:
Michael Uhl: Betty Rosenfeld. Zwischen Davidstern und roter Fahne. Biographie. Schmetterling, Stuttgart 2022. 672 S., 39,80 Euro.
James Horrox: Gelebte Revolution. Anarchismus in der Kibbuzbewegung. Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2021. 259 S., 24,80 Euro.
Frankfurter Rundschau, 18.02.2022
aus: tagebuch.at
Kibbuzim und Revolution
von Andreas Pavlic
Bereits 2009 erschien auf Englisch das Buch A Living Revolution über das Wechselverhältnis von Kibbuzbewegung und Anarchismus. Sein Autor, James Horrox, hatte in den 1990er Jahren selbst in einem Kibbuz gelebt. Nun hat der Verlag Graswurzelrevolution diese wichtige Studie über ein vergessenes Kapitel jüdischer und anarchistischer Geschichte einem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht. Einteilen lässt sich das Buch in drei Themenbereiche: die Entstehungsgeschichte der Kibbuzim in Palästina und deren historische Entwicklung; die Strukturen und Prinzipien dieser Gemeinschaften; die aktuellen Auseinandersetzungen um die Kibbuzbewegung und Fragen nach ihren emanzipatorischen Potenzialen.
Am Beginn standen, wie so oft in der jüdischen Geschichte, Verfolgung und Vertreibung. 1881 kam es im zaristischen Russland zu einer Welle blutiger Pogrome, die eine Fluchtbewegung unter anderem in die osmanische Provinz Palästina zur Folge hatte. In dieser Zeit verbreiteten sich in Europa nicht nur zionistische Ideen, sondern auch sozialistische oder religiös motivierte Siedlungs- und Kommunenversuche. Beides wurde in jüdischen Organisationen und Verbänden viel diskutiert. Den ersten Kibbuz, Degania (Kornblume), gründeten 1910 junge Immigranten aus Belarus. Sie lehnten die bisherigen Siedlungen und Höfe ab, in denen es »jüdische Aufseher, arabische Landarbeiter und Wachen, die aus Beduinen bestanden«, gab. Im Gegensatz dazu schwebte ihnen eine »eine kooperative Gemeinschaft ohne Ausbeuter und Ausgebeutete« vor. Diese bildeten sich in der Folge zwar ausschließlich aus Jüdinnen und Juden, die aber mit der arabischen Bevölkerung der Umgebung kooperierten. Ein wichtiger Ideengeber der ersten Kibbuzim war der russische Anarchist Peter Kropotkin. In seiner Theorie verband er kommunistische Wirtschaftsformen mit anarchistischen Gesellschaftsvorstellungen – also Gemeineigentum der Produktionsmittel, Aufhebung des Lohnsystems und der Trennung von Hand und Kopfarbeit sowie föderativen Zusammenschluss freier Kommunen. Ein weiterer Ideengeber war Gustav Landauer, der bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu Siedlungsgründungen aufgerufen hatte und dessen Ideen in den 1910er und 1920er Jahren über Martin Buber eine gewisse Verbreitung in Palästina fanden.
James Horrox’ Anliegen ist es, zu betonen, dass es in dieser frühen Phase nicht um eine Staatsgründung ging, sondern um ein anderes Gesellschaftsmodell: »Der gemeinsame Ansatz vieler in Palästina ankommender Gruppen in den zwanziger Jahren war der Versuch, den Jischuw in ein staatenloses Gemeinwesen autonomer Gemeinschaften zu transformieren, das nur wenige nicht kollektive Alternativen beinhalten sollte, wenn überhaupt.«
Dieser Wille zur Transformation zeigt sich auch in dem Versuch, das Kollektiv grundlegend zu denken – von der Entscheidungsfindung, die meist im Speisesaal erfolgte, über die Abschaffung des Privateigentums und des Lohnsystems bis hin zur Kindeserziehung. Als Über-Ich fungierten soziale Anerkennung und sozialer Druck. Während die Kibbuzim im Laufe der Zeit an Attraktivität verloren, finden sich im heutigen Israel wieder neue Versuche der Selbstorganisation (wie jene aus der jüdisch-äthiopischen Minderheit heraus). Dieser Blick von der Vergangenheit in die Gegenwart der Kibbuzim inspiriert – und Inspiration ist ein Rohstoff für eine andere Zukunft.
Hier eine weitere Besprechung des Buches: