Inhalt
Spaniens anhaltender Deutungskampf um Vergangenheit und Gegenwart
Vergangenheitsaufarbeitung in der Transition
Historiographie und erste gesetzgeberische Schritte
Regionalisierung und Formveränderung der Erinnerungsarbeit
Vom „historischen“ zum „demokratischen“ Erinnerungsgesetz von 2022
Schlussbetrachtung: Gedenkkulturen im Widerstreit
Ausblick: Mythen und die Zukunft der Erinnerungsarbeit
Literatur
Leseprobe
Spaniens anhaltender Deutungskampf um Vergangenheit und Gegenwart
Die Aufarbeitung von Kriegs- und Diktaturverbrechen kann sehr unterschiedlich erfolgen; sie ist aber in praktisch keinem der von dieser Problematik betroffenen Länder einfach. Der Wunsch, dass die in einem Krieg oder einer Diktatur verübten Untaten geahndet und Täter zur Rechenschaft gezogen werden, ist in den meisten Gesellschaften ein weitverbreitetes Verlangen. Allerdings ist der auf die Diktatur folgende Rechtsstaat zumeist nicht in der Lage, die hohen gesellschaftlichen Erwartungen von Gerechtigkeit zu erfüllen, da er sich an einen selbstauferlegten Normen- und Regelkatalog halten muss, der ihm Grenzen setzt (vgl. Ganzenmüller 2017, S. 11–21).
Postdiktatorische Transformationsgesellschaften sind mit der Frage der (straf-)rechtlichen Ahndung von Verbrechen ganz unterschiedlich umgegangen. Natürlich steht dem Rechtsstaat bei der Ahndung von Diktaturverbrechen das Strafrecht als Instrument zur Verfügung. Zugleich aber stellen sich den Gerichten zahlreiche strukturelle Hindernisse in den Weg: Mit Hilfe des Strafrechts lässt sich nur individuelle Schuld feststellen, was im Fall von Diktaturverbrechen häufig sehr schwierig ist – man denke nur an die schwierige Beweisführung bei ungenügender Aktenlage, an die Gefahr der Verjährung, an die nur bruchstückhafte Rekonstruierbarkeit einzelner Verbrechen, an die Elitenkontinuität gerade im Justizapparat, an das Rückwirkungsverbot etc. Staaten und Gesellschaften, die ein autoritäres oder diktatorisches Regime überwunden haben, sehen sich der großen Herausforderung gegenüber, den Übergang von Gewalt- und Willkürherrschaft zu rechtsstaatlicher Demokratie so zu organisieren, dass anhaltende und fortwirkende Folgen von schwerstem Unrecht überwunden werden können. Deren Opfer fordern mit Recht Aufklärung der begangenen Verbrechen seitens der Regierung und Behörden, die strafrechtliche Verurteilung der dafür Verantwortlichen, materielle und immaterielle Entschädigung und Garantien dafür, dass es keinen Rückfall in die Barbarei geben könne. Dieser Opferperspektive steht häufig eine gesamtgesellschaftliche Perspektive gegenüber, die eher auf Befriedung und Versöhnung zielt und dabei durchaus in Konflikt mit den berechtigten Anliegen der Opfer geraten kann (vgl. Hoeres / Knabe 2023).
Um mögliche Unvereinbarkeiten von Recht und Gerechtigkeit zu überwinden, bietet sich ein alternatives Verständnis von Gerechtigkeit an, das nicht auf Bestrafung abhebt, sondern auf eine Wiederherstellung des sozialen Friedens in der postdiktatorischen Gesellschaft. Diesen Ansatz verfolgen zumeist Wahrheitskommissionen, die zum Beispiel in Afrika und Lateinamerika als Instrumente der transitional justice eingesetzt worden sind. In anderen Fällen kam es zu umfassenden Amnestien, die vorübergehend einen scheinbaren Ausgleich schaffen, in den meisten Fällen aber von einem Großteil der Bevölkerung als ungerecht empfunden werden, da sie zu weitverbreiteter Straflosigkeit führen; außerdem können sie den Prozess der Demokratisierung diskreditieren (zur Transitional Justice im Rahmen der spanischen Erinnerungspolitik vgl. Tamarit Sumalla 2013).
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Spanien ist in mehrerlei Hinsicht ein besonderer Fall. Ganz offensichtlich ist das Ziel der Vergangenheitsaufarbeitung – eine Befriedung der Gesellschaft herbeizuführen – nicht gelungen, denn zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Bändchens ist die politisch-ideologische Auseinandersetzung um die Kriegs- und Diktaturaufarbeitung noch in vollem Gange, spaltet die Gesellschaft und gibt Anlass zur pessimistischen Vermutung, dass die tiefen Deutungsdifferenzen bezüglich der Vergangenheit noch lange andauern und die spanische Gesellschaft weiterhin spalten werden. Was die strafrechtliche Ahndung schwerer Menschenrechtsverletzungen und die Durchführung von Gerichtsverfahren gegen administrativ oder politisch Verantwortliche für Diktatur und Repression betrifft, muss einleitend gleich darauf hingewiesen werden, dass es eine strafrechtliche Aufarbeitung der franquistischen Verbrechen im Bürgerkrieg und während der Diktatur nicht gegeben hat. Das bedeutet aber nicht, dass es keinerlei Auseinandersetzung mit der franquistischen Gewaltvergangenheit gegeben hat. Ganz im Gegenteil: Die Aufarbeitung der Franco-Verbrechen hat zwar erst spät begonnen, griff dann aber umso schneller und tiefgreifender um sich und ist noch lange nicht beendet. Eine systematische Erinnerungspolitik, die sich auf die Opfer von Bürgerkrieg und repressiver Diktatur konzentrierte, setzte in Spanien erst sehr spät ein. Erinnerungspolitik als solche gab es im Land aber schon sehr früh, praktisch seit dem Bürgerkrieg; sie bezog sich aber ausschließlich auf die „für Gott und Spanien Gefallenen“ (Caídos por Dios y por España) und diente dem Mythos einer „nationalen Gemeinschaft“ des angeblich „wahren Spanien“. Die Erinnerung an das republikanische Spanien und an die zur Verteidigung der Demokratie Gefallenen wurde bewusst verdrängt, ja: unterlag der damnatio historiae. Die in Monumenten, Gedenktagen, religiös-politischen Feierlichkeiten und Denkmälern zum Ausdruck kommende, vom franquistischen Regime betriebene Erinnerungspolitik war exkludierend, sie bezog sich ausschließlich auf die Gefallenen des „nationalen“ Lagers, das heißt der putschistischen Seite. Die offiziell massiv praktizierte Gedächtnispolitik diente nur den ideologischen Zielen der franquistischen Diktatur (zur Erinnerungskultur des Franquismus vgl. Arco Blanco 2022). Diese bis 1975 betriebene Erinnerungspolitik findet im Folgenden nur marginal Berücksichtigung; der Schwerpunkt der Betrachtung liegt auf der nach Francos Tod betriebenen Vergangenheitsaufarbeitung.
Der Autor
Walther L. Bernecker war Dekan der WiSo-Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und hatte dort bis 2014 den Lehrstuhl für Auslandswissenschaft (Romanischsprachige Kulturen) inne. Seine Forschungsschwerpunkte sind die spanische, portugiesische und lateinamerikanische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts – insbesondere der Spanische Bürgerkrieg und der Franquismus sowie Spaniens Übergang von der Diktatur zur Demokratie. In unserem Verlag sind bereits erschienen: „Anarchismus und Bürgerkrieg. Zur Geschichte der Sozialen Revolution in Spanien 1936–1939“ und zusammen mit Sören Brinkmann „Kampf der Erinnerungen. Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936–2010“.