Rüdiger Haude, Thomas Wagner

Herrschaftsfreie Institutionen

Texte zur Stabilisierung staatsloser, egalitärer Gesellschaften

18,90 

Ausgezeichnet als Buch des Jahres 2019 der Bibliothek der Freien

Haude und Wagner rufen in Erinnerung, dass es in der Geschichte und bis heute nicht-staatlich organisierte Gesellschaften in allen Erdteilen gibt, die egalitär sind. Sie existieren oft über mehrere Jahrzehnte hinweg und bilden ihre eigenen stabilisierenden, herrschaftsfreien Institutionen aus. Über diese Institutionen informiert das Buch anhand von praktischen Beispielen wie besonderer Haus- und Dorf-Architektur, ihrer Reproduktionsformen oder auch Alltagspraxen in Form von nivellierenden Spielen.

Beschreibung

Rüdiger Haude, Thomas Wagner
Herrschaftsfreie Institutionen
Texte zur Stabilisierung staatsloser, egalitärer Gesellschaften

248 Seiten, 12 Abb., 18,90 Euro
ISBN 978-3-939045-37-3

Sind stabile herrschaftsfreie Gesellschaften denkbar? Haben staatslose Gesellschaften Jahrzehnte und länger überdauert und existieren sie noch immer?

In den Sozialwissenschaften herrscht die Tendenz vor, »Regulierten Anarchien« entweder keinen politischen Stellenwert beizumessen oder ihnen doch eine verborgene Herrschaftlichkeit zu unterstellen. Mit beiden (ethnologischen bzw. historischen) Argumenten läßt sich die angebliche Unmöglichkeit von Herrschaftsabbau heute behaupten.

Die Beiträge dieses hier in zweiter, durchgesehener Auflage vorliegenden Bandes setzen sich kritisch mit dieser Auffassung auseinander und zeigen an Beispielen wie Verwandtschaftsstruktur, Architektur und Spiel sowie dem altisraelitischen Glaubenssystem: Gerade »primitive« Gesellschaften besaßen eine erstaunliche institutionelle Phantasie, um Herrschaftsfreiheit und egalitäre Verhältnisse dauerhaft sicherzustellen.

Die beiden Verfasser Rüdiger Haude und Thomas Wagner sind Kulturwissenschaftler. »Die Aufsätze von Haude und Wagner sind ein bedeutender Beitrag zur Weiterentwicklung der vorliegenden Anarchie-Theorien« (aus dem Vorwort von Christian Sigrist).

Inhaltsverzeichnis

Zur zweiten Auflage

Vorwort von Christian Sigrist

Einleitung

Kapitel 1

Rüdiger Haude/Thomas Wagner
Herrschaftsfrohe Diskurse
Strategien und Tendenzen sozialwissenschaftlicher Anarchieverdrängung

  1. Institutionalismus oder Anti-Institutionalismus
  2. Herrschaftsfixierung in der Politischen Philosophie
  3. Herrschaftsfreiheit: ein Thema der frühen Sozialwissenschaft
  4. Liberale Tautologien und Widersprüche
  5. Ethnologische Ungereimtheiten
  6. „Herrschaft ohne Politik“
  7. Institutionenanalytische Defizite bei sozialwissenschaftlichen Evolutionisten
  8. Schluss

Kapitel 2

Rüdiger Haude/Thomas Wagner
Von der Utopie zur Wissenschaft
Politische Grundbegriffe im Hinblick auf herrschaftslose Gesellschaften

  1. Zwang
  2. Macht
  3. Herrschaft
  4. Autorität, Prestige, Führung
  5. Herrschaftsfreie Gesellschaft / Anarchie
  6. Egalitäre Gesellschaft
  7. Schluss

Kapitel 3

Rüdiger Haude
Anarchie und Chaos
Fraktale Gesellschaften

  1. Soziologie und Fraktale
  2. Begriffsvorschlag: Fraktale Gesellschaften
  3. Die Dynamik fraktaler Gesellschaften
  4. Skaleninvarianz
  5. Fraktale Genealogie als Fiktion
  6. Schluss

Kapitel 4

Thomas Wagner
An-Architektur
Politische Aspekte der Siedlungsformen „primitiver“ Gesellschaften

  1. Zur theoretischen Marginalsierung „primitiver“ Architektur
  2. Kennzeichen egalitären Bauens
  3. Anthropomorphe Symbolik
  4. Grundmodelle staatsfeindlichen Bauens
    • Die Kreissiedlung
    • Die gestreute Gehöftsiedlung
    • Das irokesische Langhaus als egalitäres Wohnmodell und föderative Leitidee
    • Gemeinschafts- und Versammlungshäuser
    • Das Männerhaus: Männerherrschaft oder Geschlechtersymmetrie?
  5. Architektonischer Wandel durch Herrschaftsüberlagerung
  6. Einige Thesen zur Theorie egalitärer Architektur

Kapitel 5

Thomas Wagner
„Anarchistische Gleichmacher“
Institutionelle Aspekte des Spiels in egalitären Gesellschaften

  1. Zur Institutionalität des Spiels
  2. Spiele und Egalität
  3. Zur Kategorisierung des Spiels
  4. Spiele in egalitären Gesellschaften
  5. Zusammenfassung

Kapitel 6

Thomas Wagner
Casino Egalité
Glücksspiele und Wetten in herrschaftsfreien Gesellschaften

  1. Vorspiel
  2. Zufallsentscheidungen
  3. Traditionelle „Gleichmacher“
  4. Karten- und Würfelspiele in Australien und Papua Neuguinea
  5. Das Glücksspiel als Integrationsmechanismus
  6. Nachspiel: Das Glücksspiel als egalisierende Institution

Kapitel 7

Rüdiger Haude
Das richterzeitliche Israel
Eine anarchistische Hochkultur

  1. Entwicklung des antistaatlichen Paradigmas
  2. Ideologien der israelitischen Staatsfeinde
  3. Exkurs: Geschlechterverhältnis
  4. Entstehung des Staats und fortwährender Kampf gegen ihn
  5. War die Regulierte Anarchie Israels eine „primitive“ Gesellschaft?

Literaturverzeichnis „Zur zweiten Auflage“

Literaturverzeichnis „Herrschaftsfreie Institutionen“

Personenverzeichnis

Verzeichnis der Ethnien und geographischen Begriffe

Zur zweiten Auflage

Die Erstveröffentlichung des vorliegenden Buchs im Jahre 1999 stieß auf eine erfreuliche Resonanz, die sich nicht nur in den Rezensionen äußerte (Bernd Drücke 1999 in Graswurzelrevolution, Reinhart Kößler 2000 in Peripherie, Egon Günther 2000 in Die Aktion, Michael Dreyer 2000 in der Zeitschrift für Politikwissenschaft, 2006 wiederveröffentlicht im Portal für Politikwissenschaft, sowie Justus Cobet u.a. 2001 in Sociologia internationalis). Eine besonders ermutigende Rückmeldung stellte die Preisverleihung durch den wissenschaftlichen Beirat der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e.V. dar. Im Jahr 2000 erhielten wir den von Guenter Reiman gestifteten Wissenschaftlichen Förderpreis 1. Stufe für das Jahr 1999. In der Begründung heißt es: „Durch die theoretischen, vor allem begrifflichen Vorschläge der Autoren wird es möglich, die Utopie herrschaftsloser Gesellschaften wieder als Sachthema des soziologischen und gesellschaftlichen Diskurses aufzugreifen.“ Genau das war unsere Intention gewesen. Die Herrschaftsfreien Institutionen zogen auch ihre Spuren in den sozialwissenschaftlichen Diskursen, teilweise auf unerwartetem Terrain. So diente eine der frühen Erwähnungen des Buches in einer Monografie über Wohnungsmarkt und soziale Ungleichheit innovationstheoretischen Überlegungen (Keim 1999: 102). Einen Transfer der Einsichten dieses Buchs auf andere Untersuchungsbereiche nahm auch Philippe Kellermann (2007) vor, der das hier vorgetragene Konzept einer „unmittelbaren Theokratie“ auf die politische Theologie Thomas Müntzers übertrug.

Die verästelte Wirkungsgeschichte unseres Buches in der Fachliteratur kann hier nicht umfassend aufgearbeitet werden; aber einige Rezeptionsschritte sollen doch erwähnt werden. In einer monographischen Auseinandersetzung mit Max Webers Herrschaftssoziologie weist Stefan Breuer (2011: 13) in einer Nebenbemerkung auf „den Differenzierungsvorschlag von Haude und Wagner“ hinsichtlich der Begriffe Zwang, Macht und Herrschaft hin – allerdings ohne diesen im weiteren Verlauf seiner Argumentation zu diskutieren. Ähnlich knapp sind die Ausführungen, die Andrea Maurer (2004: 118) unserem Buch in ihrer Einführung in die Herrschaftssoziologie widmet. „Moderne herrschaftsfreie Institutionen wie das Spiel haben Haude und Wagner untersucht“, heißt dort lapidar in einer Fußnote. Auch der Ethnologe Hermann Amborn (2016: 245), der jüngst selbst ein spannendes Buch zum Thema der Rechtsfindung in herrschaftsfreien Gesellschaften vorgelegt hat, das in vielen Punkten zu gleichen oder ganz ähnlichen Schlüssen kommt wie wir, verweist nur in einer Fußnote auf unsere Studie. Gründlicher hat sich Peter von Oertzen mit unserem Buch auseinandergesetzt und dabei den auch bei der Preisverleihung der Rosa-Luxemburg-Stiftung betonten Gegenwartsbezug unserer Arbeiten im Blick gehabt. Der sozialdemokratische Politikwissenschaftler übernahm unsere Definitionen von Macht, Herrschaft und herrschaftsfreier Gesellschaft in einem Aufsatz, der sich mit der Utopie der herrschaftslosen Gesellschaft befasst (vgl. von Oertzen 2003, S. 14-16).

Darin kommt er zu dem Schluss, „dass in anthropologischer Hinsicht Herrschaftsfreiheit und Klassenlosigkeit nicht prinzipiell unmöglich sind, und dass die Erkenntnisse der Sozialanthropologie oder Ethnosoziologie im Prinzip auch auf hoch differenzierte Zivilisationen angewendet werden können. Damit“, so schränkt der ehemalige niedersächsische Kultusminister und Leiter der SPD-Parteischule allerdings ein, „ist freilich noch nichts darüber ausgesagt, ob die Möglichkeit von so etwas wie Herrschafts- und Klassenlosigkeit in einer modernisierten und industriellen (oder auch schon nachindustriellen) kapitalistischen Gesellschaft plausibel gemacht werden kann“ (ebd.: S. 20). Rezipiert wurde unser Buch auch in der Entwicklungssoziologie. Reinhard Kößler (1998) (1) kommt zu dem Schluss, bei den von uns beschriebenen „Vorkehrungen zur Vermeidung von Ungleichheit und zur Verhinderung politischer Herrschaft“ (ebd: 57) handele es sich „um den bewussten, institutionell bewehrten Verzicht auf ‚nachholende Entwicklung‘, womöglich radikalisiert in Fällen der bewussten Rücknahme evolutionärer Schritte wie vor allem der Ausbildung von Zentralinstanzen. Dies ebenso wie die bewusste, womöglich selektive Übernahme einer als überlegen oder vorteilhaft erfahrenen, anderswo bereits vollzogenen Entwicklung, positive ‚nachholende Entwicklung‘ also, führt ein entscheidendes Moment der Reflexivität in das Evolutionsgeschehen ein“ (ebd.: 57f.).

Soziologische Evolutionskonzepte, wie sie von Talcott Parons, Niklas Luhmann, Klaus Eder und Jürgen Habermas entwickelt oder in eigene theoretische Überlegungen eingebaut wurden, gäben auf diese Form der Reflexivität nur wenig. Vielmehr bauten sie auf einlinige Konstruktionen, „die im wesentlichen eine Höherentwicklung der Gattung, die Ausweitung kommunikativer Kompetenzen und die Differenzierung gesellschaftlicher Institutionen thematisieren“ (ebd.: 58).

Kößler bemängelt, dass „diese Ansätze gerade Akephalie ausdrücklich nur als Primitivität notieren“ (ebd.). In der Geschichtswissenschaft sind die Herrschaftsfreien Institutionen u.a. durch die Aachener Habilitationsschrift von Werner Tschacher (2010: 24f) herrschaftssoziologisch ausgewertet worden. Die Einsicht, dass Herrschaft kein alternativloser gesellschaftlicher Zustand ist, hat damit auch in der Mediävistik Einzug gehalten. Dass unsere Lehrer – Karl-Siegbert Rehberg und Christian Sigrist – Gedanken aus den Herrschaftsfreien Institutionen aufgriffen, freut uns besonders. Rehberg (1998: 398) hat unsere Einsicht, dass institutionelle Geltungsakkumulationen gerade auch der Herrschaftsblockierung dienen können, in seine institutionenanalytische Argumentation aufgenommen. Sigrist hat sich nicht zuletzt in Vorträgen (so 2002 bei einem Kolloquium in Leipzig über „Segmentäre und zentralisierte Gesellschaften“) konstruktiv auf den Ansatz einer Analyse segmentärer Gesellschaften als „fraktale“ bezogen. Eine für wissenschaftliche Arbeiten ungewöhnliche Rezeption erfuhr der in den Herrschaftsfreien Institutionen enthaltene Aufsatz „Casino Egalité“. Auf dem Theaterfestival Foreign Affairs, das 2013 im Haus der Berliner Festspiele stattfand, fiel eine dort verteilte Kopie des Textes der Regisseurin, Performerin und Musikerin Tanja Krone in die Hände, die das Stück wissenschaftlicher Prosa in Kooperation mit dem Stuttgarter Theater Rampe in ein Stück Performance-Theater verwandelte: The European House of Gambling. Das Bretterbuden-Spektakel macht die Beobachtung, dass Glücksspiele und Wetten in herrschaftsfreien Gesellschaften als wichtiger Hebel des sozialen Ausgleichs fungieren, zum Ausgangspunkt einer Spielshow, die das Publikum auf vielfältige Weise in das Geschehen mit einbezieht. Erprobt wird, inwiefern das Glücksspiel ein geeignetes Mittel ist, um innerhalb einer temporären und zufälligen Gemeinschaft Solidarität und Risikobereitschaft zu erfahren. Eine temporäre Wettkampfarena gastierte im Sommer 2017 auf Marktplätzen in Stuttgart und Mannheim. (2) Thomas Wagner hatte das Vergnügen, als wissenschaftlicher Experte bei Proben und im Rahmen von Gastauftritten mitwirken zu dürfen.

Die erste Auflage der Herrschaftsfreien Institutionen ist nun schon seit mehreren Jahren vergriffen. Nicht selten mussten wir die Frage nach der Verfügbarkeit des Buches mit einem bedauernden Achselzucken quittieren. Wir haben uns deshalb entschieden, den Band in einer zweiten Auflage wieder zu veröffentlichen. Dem Verlag Graswurzelrevolution sind wir für die Bereitschaft, diesen Plan verlegerisch zu begleiten, dankbar.

Die Wiederveröffentlichung des Textes von 1999, in dem nur offensichtliche Setzfehler stillschweigend korrigiert wurden, ist gewissermaßen ein Kompromiss, denn die Debatte um herrschaftsfreie Gesellschaften ist in der Zwischenzeit nicht stehen geblieben. Wichtige neue Monografien wie die rechtsethnologische Studie von Hermann Amborn (2016) oder die Arbeiten von David Graeber (2008) zur madegassischen, und James C. Scott (2009) zur Ethnologie südostasiatischer Hochland-Regionen müssten heute eigentlich in die Analysen integriert

werden. Andererseits lässt sich konstatieren, dass diese Arbeiten die von uns 1999 vorgetragenen Thesen im Wesentlichen bestätigen – was umso schwerer wiegt, als jene Autoren weitgehend unabhängig voneinander und von uns zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangen (so wie wir es 1999 schon hinsichtlich der Theorieansätze von Pierre Clastres und Christian Sigrist konstatieren konnten).

Auch wir selbst haben die im Rahmen der Herrschaftsfreien Institutionen entfalteten Überlegungen in der Zwischenzeit in unterschiedlichste Richtungen fortgeführt. Thomas Wagner schloss mit seiner 2004 unter dem Titel Irokesen und Demokratie als Buch veröffentlichten Dissertation (Wagner 2004) direkt an diese an. Gemeinsam erarbeiteten wir das umfängliche Stichwort „Herrschaftsfreie Gesellschaft“ für Band 6/I des Historisch-Kritischen Wörterbuchs des Marxismus (Haude/Wagner 2004). Unsere darüber hinaus in individueller Autorschaft entstandenen Aufsätze zum Themenfeld sind so zahlreich, dass an dieser Stelle nicht eigens auf sie eingegangen werden kann – und dass die Integration ihrer Ergebnisse in eine Neuauflage der Herrschaftsfreien Institutionen sehr zeitaufwändig geworden wäre. Damit die teils entlegen publizierten Arbeiten von interessierten Leserinnen und Lesern aufgespürt werden können, haben wir sie in einem eigenen Literaturverzeichnis aufgeführt. Nun hoffen wir, dass das aktuelle Streben nach herrschaftsfreien Institutionen durch unseren wieder verfügbaren Beitrag neue Impulse erfahren möge.

Rüdiger Haude und Thomas Wagner,
Aachen und Berlin im Oktober 2017

Editorische Notiz:
Weil es sich hier um einen Nachdruck des Manuskripts aus dem Jahr 1999 handelt, wurde auf eine nachträgliche Feminisierung des Gesamttextes verzichtet.

Anmerkungen

(1) Kößlers 1998 veröffentlichten Überlegungen liegt die Manuskriptfassung unseres erst 1999 veröffentlichten Buchs zugrunde.

(2) Bei Redaktionsschluss waren weitere Stationen in Berlin und Belgrad geplant.

Einleitung

In der Frühphase der spanischen Conquista in Mittelamerika referierte der „Bakkalaureus“ Fernandez de Encisa die Antwort zweier „Kaziken“ auf seine obligatorische Verlesung des Requerimiento, jenes Papiers, mit dem die Spanier den „Eingeborenen“ ihren Herrschaftsanspruch erklärten und deren Unterwerfung einforderten: „[Auf meine Ausführungen], daß es nicht mehr als einen Gott gebe und daß er über Himmel und Erde regiere und der Herr aller sei, sagten sie, das erscheine ihnen richtig und müsse wohl so sein; was aber den Papst betraf, daß er an Stelle Gottes Herr des ganzen Universums sei und den König von Kastilien mit diesen Ländern hier belehnt habe, dazu meinten sie, der Papst müsse besoffen gewesen sein, als er dies tat; denn er verteilte, was ihm nicht gehörte, und der König, der das Lehen erbeten und angenommen habe, müsse ein Narr sein, denn er fordere etwas, was anderen gehöre; er solle nur hierher

kommen, um es in Besitz zu nehmen: dann würden sie seinen Kopf auf einen Pfahl stecken“ (Zitiert nach Engl/Engl 1991: 64).

Der absurden Anmaßung des Abkömmlings europäischer Zivilisation antworten die Barbaren mit kausalen Deduktionen von logischer Stringenz. Ihr fröhliches Selbstbewusstsein verkennt freilich, dass die frühen Conquistadoren zwar nicht unbedingt Meister im Felde der Herrschaftslegitimation waren, dieses Defizit jedoch durch die Brachialität ihres Terrors mehr als aufzuwiegen verstanden. So wie Fernandez de Enciso an die Evidenz des von ihm vorgetragenen Requerimientos geglaubt haben mag, so hat man es auch heute – nicht zuletzt in sozialwissenschaftlichen Diskursen – oft mit Scheinevidenzen zu tun, wenn es um die Frage der Möglichkeit herrschaftsfreien Zusammenlebens geht: Herrschafts-Ontologisierung sitzt tief – Jahrtausende tief (vgl. vor allem Kap. 1). Was wir in diesem Buch unternehmen, ist der Versuch, sozusagen die Rolle der beiden „Kaziken“ zu übernehmen und einige eingeschliffene „Selbstverständlichkeiten“ infrage zu stellen. Von „barbarischen“, „wilden“ bzw. „primitiven“ Völkern können wir dabei nicht nur einen vom Ballast jahrtausendelanger abendländischer politischer Philosophie unbeschwerten (und, wie wir im einleitenden Zitat gesehen haben: realitätstüchtigeren) Blick auf Fragen des Machtumgangs lernen, sondern auch eine faszinierende Kreativität institutioneller Lösungen des Problems ablesen, herrschaftsfreie Gesellschaften zu stabilisieren. Wenn wir uns in den Kapiteln 3-7 einigen dieser Lösungsmechanismen zuwenden, so soll dies nicht nur ein exotisches Unterfangen sein; es geht uns vielmehr um die Anregung von Phantasie im Hinblick auf die Frage, wie in unseren gegenwärtigen Gesellschaften der Abbau von Herrschaft ermöglicht werden kann. Dabei handelt es sich schon deshalb nicht um ein plattes „Zurück-zur-Natur“-Programm, weil wir eben durchgängig kulturelle Phänomene in den Blick nehmen. Und überdies ist kein „Zurück“ in dem Sinne intendiert, dass nun irgendeine institutionelle Struktur eins zu eins auf nachindustrielle Gesellschaften applizierbar wäre. Aber das Mindeste, was zu leisten ist, ist der empirische Nachweis der anthropologischen Möglichkeit herrschaftsfreien Zusammenlebens. Inwiefern einzelne Mechanismen aus „primitiven“ Gesellschaften Lösungen in modernen, hochkomplexen Gesellschaften anregen können, mag sich am Ende unseres Unternehmens klarer zeigen, von dessen Anfangsphase dieses Buch Rechenschaft ablegt. Wenn wir die Suche nach institutionellen Lösungen für das Ziel einer Minimierung von Herrschaft in unserer eigenen Gesellschaft unterstützen wollen, dann wäre es jedenfalls töricht, den reichhaltigen Fundus bereits durchgespielter Lösungen mit dem bloßen Hinweis auf deren „Primitivität“ vom Tisch zu wischen. Mit Gewissheit können wir vielmehr einiges über die Bedingungen lernen, die erfüllt sein müssen, um die zur Herrschaft tendierende Macht institutionell zu bändigen. Es ist auch nicht ausgemacht, ob nicht einzelne Mechanismen etwa im Eigentumsrecht – der Pfeiltausch der wildbeutenden San (vgl. Luig 1995: 107); die systematische Deflation durch das israelitische Jubeljahr – unsere Phantasie auch konkret anregen dürften. Die fraktale politische Struktur typischer segmentärer Gesellschaften z.B. (Kap. 3) wäre, losgelöst vom verwandtschaftlichen Generierungsprinzip, durchaus erwägenswert für moderne politische Lösungen des Herrschaftsverhinderungsproblems. Aber primär geht es uns darum zu zeigen, dass es überhaupt lohnt, sich diesem Problem zu stellen und damit dem allseits grassierenden Fatalismus zu entgehen. Auch insoweit ist es motivierend festzustellen, dass der „Geist“ jener zwei panamaischen Kaziken offenbar auch nach jahrhundertelanger herrschaftlicher Überformung noch gegebenenfalls aktualisierbar ist. Denn manche antikolonialistischen Befreiungsbewegungen der jüngeren Vergangenheit zeigten, dass traditionelle Formen radikaler Demokratie mit modernen Emanzipationsbewegungen fruchtbare Verbindungen eingehen können. So macht seit 1994 mit der zapatistischen EZLN im mexikanischen Chiapas eine indigene Demokratiebewegung auf sich aufmerksam, die gerade auch durch ihr explizites Anknüpfen an radikaldemokratische Formen indianischer Dorfgemeinden mehr zum Aufbrechen der bürokratisch gestützten Klassenstrukturen beiträgt als die seit einem Dreivierteljahrhundert regierende „Partei der institutionalisierten Revolution“. Angesichts dieser sozialen Realitäten ist es schwer erträglich, immer wieder zu erfahren, welche anthropologischen Schludrigkeiten sich sozialwissenschaftliche Autoren erlauben, die eigentlich eine emanzipatorische Zielsetzung verfolgen. Wenn man etwa, wie Horkheimer und Adorno (1981: 98) vom „Schlagen und Beißen beim Geschlechtsakt der australischen Wilden“ schreibt, welches „noch“ in der sublimiertesten Zärtlichkeit durchscheine, dann ist es freilich verständlich, dass man am Streben nach menschlicher Autonomie desperat wird. Nur ist eine solche Unterstellung bezüglich der Australier eben kaum empiriehaltig, ebenso wenig wie Freuds hobbistische „Urhorde“, an die sie wahrscheinlich anknüpft. Die „Primitiven“ mögen (teilweise) „Barbaren“ im Sinne des Evolutionismus Morganscher Spielart gewesen sein; „Barbaren“ im Sinne der „Dialektik der Aufklärung“ waren sie kaum. Uns scheint eher, dass Pierre Clastres’ Projekt einer „kopernikanischen Wende“ den Versuch lohnt, wonach in der Anthropologie nicht mehr alle Kulturen um das moderne europäische Gesellschaftsmodell kreisen sollen wie die Himmelskörper um die Erde im vorkopernikanischen Weltbild; sondern es vielmehr an der Zeit sei, „eine andere Sonne zu suchen und sich in Bewegung zu setzen“ (Clastres 1976: 26).

Ein solcher Perspektivenwechsel ist mit der Gefahr verbunden, seinerseits projektiv einem pauschal verworfenen und abstrakt negierten Modell der eigenen Gesellschaftsform den „Edlen Wilden“ als „das fiktive Idealbild gewaltlos gelungenen Lebens“ (Fink-Eitel 1994: 9) entgegenzuhalten. Gerade die Fokussierung aber auf jene institutionellen Regulierungen, die egalitäre Verhältnisse stabilisieren helfen, zeigt deutlich, dass auch in solchen Anarchien mitunter einschneidende Zwangsmechanismen zur Geltung kommen. Die Einsicht in die von Sigrist beschriebenen Effekte des „Hexereikomplexes“ oder Clastres’ Schilderung von Tatauierungspraktiken, die der schmerzhaften Einschreibung von egalitären Normen dienen, kann so als Korrektiv wirken gegen die Gefahr falscher Idyllisierungen. Jedoch bedeutet gerade hinsichtlich derartiger Phänomene (Hexerei; Initiation) das Auftauchen des Staates alles andere als einen Fortschritt. Die Herrschaftszumutung ist nicht der nolens volens zu entrichtende Preis für Zivilisierung. Insofern nehmen wir den eventuellen Vorwurf eines umgekehrten Ethnozentrismus gelassen entgegen.

Gewiss ist es nicht so, dass wir mit diesem unserem Vorhaben regelrechte Pionierarbeit leisteten. Als Soziologen ohne ethnologische Felderfahrung sind wir in hohem Maße auf die Arbeiten von Ethnographen angewiesen, die wir einer sekundären Auswertung unterziehen. Und auch die theoretische Reflexion über herrschaftsfreie Vergesellschaftungsformen hat eine Tradition, an die wir anknüpfen. Für uns wichtig sind hier die Arbeiten von Pierre Clastres (vor allem die Staatsfeinde), insbesondere durch die strukturalistische Theorie des „ohnmächtigen“ Häuptlingstums der Indianer. Danach ist das Häuptlingstum bei den südamerikanischen Tiefland-Indianern so institutionalisiert, dass in jeder Kommunikationssphäre (nämlich hinsichtlich des Austauschs von Gütern, von Worten und von Heiratspartnern) dem Häuptling die Reziprozität verweigert wird – er muss großzügig sein; er hat unausgesetzt „unschuldige“ Reden zu halten; und er genießt das Privileg der Polygynie. Durch die Verweigerung des Tauschs in allen drei Sphären wird der „politische Bereich“, wie Clastres sagt, außerhalb der Gruppe institutionalisiert, von wo er keinen Einfluss auf die soziale Struktur nehmen kann (Clastres 1976: 43): daher die auffallende „Machtlosigkeit“ indianischer Häuptlinge. Zur Absicherung der herrschaftsfreien Gesellschaftsstruktur tragen u.a. – von Clastres eindringlich geschilderte – institutionalisierte Teilzwänge im ökonomischen Bereich und egalitäre Subjektformierung im Prozess der Sozialisation bei.

Als noch entscheidendere Anregung unserer Untersuchungen erwies sich die Theorie der Regulierten Anarchie, die Christian Sigrist erstmals 1967 als Auswertung der klassischen Studien von Evans- Pritchard, Fortes u.a. über afrikanische staatslose Ethnien vorlegte (Sigrist 1994). In diesen „segmentären Gesellschaften“ tritt die gesellschaftliche Integration durch genealogische Abstammungs-Erzählungen an die Stelle der Integration durch herrschaftliche Zentralinstanzen. Sigrist zeigt, dass die Existenz politischer Spezialisten (analog zu den Häuptlingen bei Clastres), die er „Instanzen“ nennt, durchaus mit dem Phänomen der Herrschaftsfreiheit kompatibel ist, sofern kein Erzwingungsstab die Durchsetzung von Befehlen bewirken kann. Als weitere „Determinanten“ der Herrschaftsfreiheit stellt er vor allem das ausgeprägte Gleichheitsbewusstsein der Gesellschaftsmitglieder sowie Mechanismen der institutionellen Bändigung von Ungleichheitspotentialen (im ökonomischen Bereich etwa: die Eigentumsstreuung durch den Ausschluss der Bevorzugung eines Erben) heraus.

Mit Sigrist verbindet uns seit einiger Zeit ein Gedankenaustausch, und wir sind ihm für mannigfaltige Anregungen, Kritik und Hilfestellung zu Dank verpflichtet.

Auf die Beschäftigung mit „Regulierten Anarchien“ stießen wir jedoch aus einer anderen Richtung: der Institutionentheorie. Von 1992 bis 1995 arbeiteten wir zusammen in dem von Karl-Siegbert Rehberg

geleiteten DFG-Projekt „Unverfügbarkeit und Reflexivität: Eine theoretische Analyse hochkultureller Formveränderungen von Institutionen“, worin eine Anwendung und Präzisierung von Rehbergs Ansatz einer „Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen“ (TAIM) intendiert war. Die TAIM legt besonderes Gewicht auf die Analyse der symbolischen Darstellung institutioneller „Ordnungen“, wie sie sich typischerweise in ihren „Leitideen“ verdichtet. Diese Dimension der „Symbolizität“ wie auch jene der institutionellen Machtstrukturen werden nicht als statisch aufgefasst, sondern vor allem in ihren Phasen der Genese, Transformation und Deinstitutionalisierung untersucht. Dabei zeigt sich, dass institutionelle Mechanismen (wie Geltungsakkumulation, Autonomisierung oder Transzendierungsprozesse) nicht nur dort sich vollziehen, wo im traditionellen Verständnis „Institutionen“ vorliegen (also etwa im Staat oder in einer Kirche), sondern in jeder Form menschlicher Interaktion zu beobachten sind. (6)

Die Beschäftigung mit frühen Staaten zeigte nun, dass diese Gesellschaftstypen durch Abgrenzungen ebenso wie durch Relikte auf die vorangegangenen Formen (7) verweisen – eben auf „vorstaatliche“ Gesellschaften, die ihrerseits eine Fülle institutioneller Lösungen zur Stabilisierung ihrer herrschaftsfreien Strukturen aufwiesen. Und hier erwies sich, dass die „Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen“ zur Untersuchung herrschaftsfreier Gesellschaften ein sehr brauchbares Instrumentarium bereithält, weil sie sich von vornherein

darum bemühte, einen Kurzschluss von Herrschaftsinstitutionen aufs Institutionelle schlechthin zu vermeiden. Aber sind herrschaftsfreie Institutionen denkbar? Knüpft man an die Erkenntnis der Philosophischen Anthropologie an, wonach die Menschen infolge ihrer Instinktentbundenheit notwendig auf die Orientierungsfunktionen von Institutionen angewiesen und daher

„von Natur aus … Kulturwesen“ (Gehlen) sind, so besteht die Gefahr, auch den institutionalistischen Schluss mitzuvollziehen, dass diese Institutionen notwendig Herrschaftsgebilde sein müssten. So hat Karl Markus Michel, als er 1969 die Institutionenkritik der APO resümierte, quasi schulterzuckend bemerkt, alle Entwürfe „repressionsfreier Institutionen“ enthielten Prämissen, die ihrerseits „Zwang“ implizierten (1969: 174). Aber diese Einsicht ist tautologisch. Zwang ist das Wesen von Institutionen – nicht jedoch Repression. Es mag nämlich auch institutionelle Zwänge geben, die gerade zum Verzicht auf Herrschaft zwingen. Eine kritische Institutionentheorie, die sich vom Institutionalismus à la Arnold Gehlen oder Carl Schmitt lösen will, muss empirische Institutionen also nicht nur nach ihren Entlastungsleistungen (Gehlen) befragen, sondern diese mit ihrer jeweiligen Belastung der Mitglieder und Insassen, der Adressaten- und Umfeldgruppen, kurz: mit ihrem Repressions- oder Herrschaftsgrad bilanzieren (Rehberg 1973: 116). Wenn die Repressionsdichte von Institutionen variabel ist, dann ist es eine zentrale Aufgabe kritischer Institutionentheorie, Hinweise auf Möglichkeiten einer Verringerung institutionalisierter Herrschaft zu geben. Den Grenzfall einer herrschaftsfreien Institution (in dem Sinne, dass dort die Institutionalisierung von Herrschaft institutionell verhindert wird) kann man dabei nur dann a priori ausschließen, wenn man die konservativen, „hobbistischen“ anthropologischen Annahmen des Institutionalismus teilt, der Mensch sei von Natur aus auf Herrschaft, auf die Einbindung in Befehl-Gehorsams-Strukturen angewiesen. Gegen derartige Annahmen hat in den letzten Jahrzehnten vor allem die Ethnologie viel empirische Evidenz angehäuft.

Die hier vorgestellten Texte können somit im Hinblick auf aktuelle Debatten auch zeigen, dass der Abbau von Herrschaft nicht als Entinstitutionalisierung missverstanden werden darf. Als ganz entscheidend für die Stabilisierung herrschaftsfreier Gesellschaften erwies sich immer wieder die symbolische Darstellung der egalitären Ordnung. Symbolizität als zentrale Dimension von Institutionen ist nun aber nicht auf vormoderne Gesellschaften beschränkt. Wer den Abbau von Herrschaft in gegenwärtigen sozialen Kontexten anstrebt, tut gut daran, Sensibilität für symbolische Darstellungen und Übung in symbolischen Kämpfen zu entwickeln. Auch hier geht es nicht darum, einen revolutionären Blueprint symbolischer Lösungen für herrschaftsfreie Gesellschaften zu fordern, geschweige denn anzubieten. Aber vielleicht lässt sich doch die Einsicht darin befördern, dass die Errichtung von Anarchien in erster Linie ein konstruktiver Akt ist; Sensibilität für die Prozesse, die sich auf dieser Ebene sozialen Wandels abspielen, kann unseres Erachtens keinesfalls schaden. Unsere hier versammelten Texte kreisen allesamt um die soeben angesprochenen Fragen; gleichwohl sind sie in dreifacher Hinsicht heterogen. Das betrifft erstens die thematische Ebene: Unseren Erörterungen um die Bestimmung der zentralen politischen Begriffe (Kap. 1 und 2) stehen exemplarische Analysen einzelner Symbolisierungsformen von Herrschaftsfreiheit gegenüber: spezifische Formen von Architektur (Kap. 4), Spiele (Kap. 5 und 6) sowie ein spezielles Glaubenssystem (Kap. 7). Kap. 3 bildet insofern einen Übergang zwischen beiden Bereichen, als es eine eigene Symbolisierungs- und Strukturierungsform, nämlich die genealogische Struktur „segmentärer“ Gesellschaften, einer begriffsstrategischen Revision zu unterziehen vorschlägt – mit dem Gedanken, sie als „fraktale“ Gesellschaften zu konzipieren. Zum Zweiten divergieren die Kapitel durch ihr unterschiedliches Alter. Kap. 7 ist im wesentlichen bereits Mitte 1995 fertiggestellt gewesen, während etwa Kap. 4 noch in der Phase der Aufbereitung für dieses Buch von uns diskutiert wurde. Die einzelnen Kapitel könnten

daher hinsichtlich einzelner Aspekte einen verschiedenen Diskussionsstand widerspiegeln (dies betrifft aber wohl kaum unsere zentralen Thesen). Insofern mag die Sammlung eher einen Einblick in unsere Forschungs-„Werkstatt“ liefern, als den Eindruck eines „runden“, homogenen Werks. Drittens schließlich sind die materialen Kap. 3 bis 7 heterogen im Hinblick auf die Gesellschaftstypen, auf welche Bezug genommen wird. Es kann ja nicht von einem Typus „herrschaftsfreier Gesellschaft“ gesprochen werden, sondern es sind wichtige Unterscheidungen zu beachten. Zentral wäre z.B. die Differenzierung nach dem ökonomischen Kriterium, ob eine Ethnie „vor“ oder „nach“ der neolithischen Revolution zu platzieren ist. Im ersten Fall sprechen wir von Wildbeutern; im zweiten von Gartenbauern sowie Hirten-Nomaden. Ein Unter-Typus der letztgenannten Kategorie wären die segmentären Gesellschaften; sie sind Gegenstand des Kap. 3. Die Ethnie unserer Fallstudie im Kap. 7 wird in der Literatur zurecht ebenfalls als segmentäre Gesellschaft geführt; dennoch argumentieren wir, dass hier ein eigener Typus vorliegt, indem das schriftkulturelle richterzeitliche Israel eben nicht als „primitiv“ kategorisiert werden kann, sondern eigentlich eine nachstaatliche Gesellschaft darstellt. In den Kap. 4 bis 6 schließlich ist der Ansatz typusübergreifend; hier werden Bau- respektive Spiel-Formen im Vergleich verschiedener herrschaftsfreier Gesellschaften analysiert. Die jeweilige – einzelne oder gemeinsame – Autorschaft haben wir über den Kapiteln vermerkt. Damit soll nicht davon abgelenkt werden, dass wir als Forscher-Duo jeden der hier abgedruckten Texte ausführlich diskutiert haben und dieser Zusammenarbeit nicht wenig verdanken. Kollegen, die hier vorgelegte Texte freundlicherweise vorab gelesen haben, äußerten sich irritiert darüber, dass wir, synonym mit dem Adjektiv „herrschaftsfrei“, gelegentlich den Begriff „anarchistisch“ verwenden. In der Ethnologie und insbesondere bei den an Christian Sigrist anknüpfenden Autoren wird stattdessen von „anarchischen“ Gesellschaften oder Strukturen gesprochen. Wir weichen davon ab, obwohl uns die Problematik bewusst ist, dass sich mit „ismus“ die Vorstellung einer „manifesten“ Ideologie verbindet. Eine solche unterstellen wir den primitiven herrschaftslosen Gesellschaften nicht. Aber es geht uns doch darum zu betonen, dass es sich um sociétés contre l‘État handelt, dass die Abwesenheit staatlicher Strukturen intentional ist und nicht irgendeinem Mangel geschuldet. Dies in Rechnung gestellt, wirft unseres Erachtens der Terminus „anarchisch“ mehr Schwierigkeiten auf als sein Konkurrent „anarchistisch“. Und außerdem hilft bei unserer Entscheidung die Erkenntnis, dass ja auch „der“ moderne Anarchismus kaum durch ausgefeilte ideologische Systeme aufgefallen ist, sondern vielmehr hauptsächlich durch den Wunsch vereint erscheint, Herrschaft von Menschen über Menschen abzuschaffen. Diesen Wunsch teilen wir und glauben, dass man auf dem Weg zu seiner Verwirklichung jedenfalls ein gewisses Stück vorankommen kann – wobei sowohl von den politischen Leitideen der „Wilden“ gelernt werden kann, als auch von der daraus resultierenden institutionellen Phantasie.

In diesem Buch umschiffen wir ein Problem, das für Theorien herrschaftsfreier Gesellschaften besonders heikel ist: die Frage der dort institutionalisierten Geschlechterverhältnisse.

Die von Sigrist als „Regulierte Anarchien“ beschriebenen afrikanischen Ethnien wiesen durchwegs eine patrilineare genealogische Struktur und eine privilegierte Stellung der Männer auf; und Clastres konzeptualisierte Frauen in seinen theoretischen Generalisierungen wesentlich als Tauschobjekte. Damit ist aber das letzte Wort zu dieser Frage nicht gesprochen, denn feministische Ethnologie hat inzwischen viel Evidenz für die Möglichkeit auch „geschlechtsegalitärer“ bzw. „geschlechtssymmetrischer“ Gesellschaften präsentiert. Wir selbst arbeiten zur Zeit an einer monographischen Veröffentlichung, in der wir unter anderem die auch innerfeministisch hier stark divergierenden Ansichten einer systematischen Sichtung und Bewertung unterziehen wollen. Insofern müssen wir die Leserinnen und Leser um etwas Geduld bitten. Geduld ist übrigens heuer nicht nur von der Leserschaft, sondern auch von Autoren gefordert. Wir haben seit 1995 versucht, verschiedene der Aufsätze, die diesem Buch zugrundeliegen, in sozialwissenschaftlichen Fachzeitschriften zu platzieren; aber es herrscht auf diesem Markt ein derartiges Gedränge, dass – ohne etablierten Namen und mit „anarchistischem Touch“ – dort schwer Fuß zu fassen ist. Um so dankbarer sind wir dem Nomos-Verlag, der diesen Band (in erster Auflage) verlegt, sodann der DFG, die ihn mit einem Druckkostenzuschuss fördert, und schließlich Prof. Rehberg, der das Publikationsvorhaben bereitwillig unterstützt hat, dass sie uns die Veröffentlichung auf diesem Wege ermöglicht haben. Nun möge der kastilische König kommen, um unsere Ansichten zu widerlegen: Dann werden wir seinen Kopf auf einen Pfahl stecken!

Rüdiger Haude und Thomas Wagner
Aachen und Dresden, im Oktober 1998

Anmerkungen

(6) Das trifft schon auf intime Nahbeziehungen wie Liebe und Freundschaft zu, wo sich regelmäßig Begrüßungsrituale, Privatsprachen, Begehungen von Jahrestagen, der Austausch von Emblemen (Ringen) usw. einstellen. – Vgl. zum Design der institutionellen Analyse Rehberg 1990; 1994.

(7) Damit soll keine evolutionistische Stufenfolge evoziert werden, denn mit dem Auftauchen staatlicher Gebilde sind herrschaftsfreie Gesellschaften nicht zum Verschwinden gebracht. Dass von einer Entwicklungs-„Einbahnstraße“ von herrschaftsfreien zu staatlichen Gesellschaften keine Rede sein kann, belegt exemplarisch die in Kap. 7 behandelte Fallstudie.

Rezensionen

Wenn Mensch den Menschen nicht mehr befiehlt

Rüdiger Haude und Thomas Wagner beschreiten herrschaftsfreie Räume

Noch immer setzen viele linken Autor*innen Anarchie mit Chaos und Gewalt gleich. Die Vorstellung von herrschaftsfreien Gesellschaften wird auch in großen Teilen der Sozialwissenschaft bestritten oder auf vormoderne Gesellschaften beschränkt. Für die Gegenwart jedenfalls wird diesen kein hoher politischer Stellenwert beigemessen. Die Kulturwissenschaftler Thomas Wagner und Rüdiger Haude haben bereits 1999 eine Rehabilitationsschrift für herrschaftslose Gesellschaften verfasst; sie fand in Fachzeitschriften einige Resonanz und ist seit Langem vergriffen. Nun ist sie aktualisiert wieder auf dem Markt.

Den Autoren geht es um eine neuerliche Anregung von Fantasie, wie heutzutage der Abbau von Herrschaft ermöglicht werden kann. In ihrer Einleitung räumen sie das gängige Missverständnis aus, dass Herrschaftslosigkeit auch ein Fehlen von Institutionen generell bedeutete. Im ersten Kapitel befassen sie sich mit den »Tendenzen und Strategien sozialwissenschaftlicher Anarchieverdrängung«. In einer auch für Laien verständlichen Sprache zeichnen sie die wissenschaftliche Diskussion nach, die einem Klischee im Alltagsbewusstsein folgt bzw. dieses befördert: Die Menschen könnten nicht miteinander und zusammen leben, ohne dass jemand ihnen sagt, »wo es langgeht«.

Haude und Wagner bieten einen rasanten Ritt durch eine über 2000-jährige Philosophiegeschichte, die mit Aristoteles und Platon beginnt und bei Marx nicht endet. Ausführlich gehen sie auf die Kontroverse zwischen dem liberalen Theoretiker und zeitweiligen FDP-Politiker Ralf Dahrendorf und dem Soziologen Christian Sigrist in den 60er Jahren ein. der 2015 verstorbene Sigrist trat nicht nur theoretisch für die herrschaftsfreie Gesellschaft ein. Er engagierte sich beispielsweise in den 70er Jahren gegen die Isolationshaft der RAF-Gefangenen, weshalb ihn seine Universität Münster maßregeln wollte, was durch eine Solidaritätskampagne verhindert werden konnte.

Frappierend ist Wagners Untersuchung von Glücksspielen, Wetten, Tänzen und Lebensweisen in prähistorischen Ethnien, wo er egalitäre Umgangsformen entdeckt. Haude verortet mit Verweis auf das Alte Testament das historische Israel im Kreis der herrschaftsfreien Gesellschaften. Er will belegen, dass Herrschaftslosigkeit auch in Hochkulturen möglich ist. Der Rückblick auf anarchistische Gesellschaften im Altertum kann aber nur bedingt Anregungen für heute geben. Die Frage, wie in einer hochtechnologisierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts eine herrschaftsfreie oder herrschaftsarme Gesellschaft aussehen könnte, ist in aktuellen Kämpfen zu beantworten. Zudem: Auch herrschaftslose Gesellschaften kannten Strafen und Zwang, und die Geschlechterverhältnisse waren durchaus nicht egalitär.

Dennoch: Hier liegt ein Buch vor, das zu lesen und zu diskutieren lohnt.

Peter Nowak
erschienen in: neues deutschland, 15. Oktober 2019

Weitere Texte zum Buch

Gestreute Macht

Herrschaftsfreie Gesellschaften sind möglich – und waren real.

Was du dir vorstellst, ist weltfremd und naiv!« Linke jeder Couleur sehen sich immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, ihre politischen Ziele resultierten einzig aus Wunschträumen, nicht realisierbar in der »echten« Welt. Insbesondere wer die Idee eines herrschaftsfreien Zusammenlebens vertritt, setzt sich schnell dem Verdacht aus, einer bloßen Illusion anzuhängen. Ohne Staat – so die weit verbreitete Annahme – herrsche notwendigerweise Chaos und individueller Terror. Schon Thomas Hobbes befürchtete vor dem Hintergrund blutiger konfessioneller Konflikte im 17. Jahrhundert, dass ohne eine institutionalisierte Herrschaft Krieg eines jeden gegen jeden drohe. »Machtfragen«, echote der Philosoph Helmut Plessner noch 300 Jahre später, »hat es immer gegeben, solange Menschen in einer Ordnung zusammenleben. Sie stellt sich nur als Über- und Unterordnung her.« Ähnlich apodiktisch fiel das Urteil des Soziologen Ralf Dahrendorf aus: »Gesellschaft heißt Herrschaft, und Herrschaft heißt Ungleichheit.«

Normen der Gleichheit

Und ist diese Einschätzung nicht tatsächlich schwer von der Hand zu weisen? Unter den gegenwärtigen Bedingungen eines globalisierten Kapitalismus, einer atomaren, biologischen und chemischen Hochrüstung, von Risikotechnologien, die einer verlässlichen und dauerhaften Kontrolle bedürfen, sowie verschärften Klassenkämpfen erscheint das Ziel einer herrschaftsfreien Gesellschaft im schlechten Sinne utopisch – zumindest in weite Ferne gerückt. Auch lässt sich darüber streiten, ob es in Reinform wirklich wünschbar ist. Damit ist jedoch weder eine Aussage über die prinzipielle Möglichkeit eines Lebens frei von Unterdrückung getroffen, noch sind die vorhandenen Spielräume für den Abbau repressiver Staatlichkeit ausgelotet. Nimmt man das reichhaltige empirische Material zum Thema in Augenschein, dann sind es nicht die scheinbar weltfremden »Utopisten«, sondern die vermeintlichen Machtrealisten, die in Beweisnot kommen müssten. Denn die ethnologische Forschung hat gezeigt, dass es sich bei herrschaftslosen Gesellschaften nicht um Wunschvorstellungen von Fantasten, sondern um real existierende politische Verbände handelt.

Das individuelle Streben nach politischer Macht war bei afrikanischen Gesellschaften wie den Nuer, den Tiv oder Tallensi zu Zeiten der europäischen Kolonialherrschaft so verpönt, dass sich in der Forschung die Bezeichnung »Gesellschaften gegen den Staat« (Fritz Kramer/Christian Sigrist) eingebürgert hat. Südamerikanische Tieflandgesellschaften wiederum kennen die Institution des machtlosen Häuptlings. Vielerorts – etwa bei den Minangkabau in Indonesien oder den Mosuo in Südchina – ist eine egalitäre Machtbalance zwischen den Geschlechtern fest institutionalisiert. Wir haben es dabei keinesfalls mit der Idylle eines »Keine-Macht-für-Niemand« zu tun. Eine Gesellschaft, in der jedes Individuum jederzeit buchstäblich tun könnte, was es wollte, lässt sich nicht denken. Auch in herrschaftslosen Gesellschaften gibt es Einschränkungen der individuellen Handlungsoptionen. So hat jemand, der einen Befehl zu erteilen versucht, keine Chance auf Gefolgschaft.

Dennoch ist die in jedem Gemeinwesen vorfindliche Macht nicht abgeschafft, sondern breit gestreut und egalitär verteilt. Jeder Einzelne ist dazu angehalten, die Entstehung von Ungleichheit aktiv zu verhindern. Dabei geht es nicht ausschließlich harmonisch zu. Die Einhaltung von Normen kann etwa durch Spott sozial erzwungen werden. Hartnäckigen Regelverletzern droht der Gruppenausschluss, im schlimmsten Fall die Tötung. So sieht das mündlich überlieferte »Große Friedensgesetz« des Irokesenbundes vor, dass Mitglieder des ausschließlich konsensuale Beschlüsse fassenden Häuptlingsrats erschlagen werden, wenn sie sich weigern, dem imperativen Mandat ihrer von älteren und erfahrenen Frauen geleiteten verwandtschaftlichen Bezugsgruppe zu folgen. Typischerweise richtet sich das soziale Leben in herrschaftslosen Gesellschaften nach Gleichheitsnormen, die in Erzählungen, Musik, Spielen, Körperschmuck und der Bauweise der Siedlungen auch symbolisch dargestellt werden. Von Individuen, die ökonomisch deutlich erfolgreicher sind als andere, wird erwartet, dass sie ihren gewonnenen Reichtum freigiebig verteilen. Geschieht dies nicht, droht die soziale Ächtung.

Wird man sich nicht einig, kann es auch zu gewaltsamen Fehden kommen. Sollen diese geschlichtet werden, treten spirituelle Experten auf. Deren Aufgabe ist es nicht, im Konfliktfall eine Entscheidung herbeizuführen, sondern in den Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien zu moderieren und auf eine gütliche Einigung hinzuwirken. Die auf einmütigen Konsens zielenden Entscheidungsverfahren sollen den Frieden gewaltfrei wahren beziehungsweise nach der Eskalation von Konflikten durch materiellen und emotionalen Ausgleich rituell wiederherstellen. Der dabei betriebene rhetorische und zeremonielle Aufwand hat koloniale Beobachter immer wieder beeindruckt. Typischerweise wird eine elaborierte deeskalierende Sprache verwendet, die das Gemeinsame betont und es vermeidet, das jeweilige Gegenüber in einem Konflikt frontal anzugreifen. Da niemand zur Befolgung von Beschlüssen gezwungen werden kann, gehen die beteiligten Gruppen bei Nichteinigung häufig getrennter Wege und schließen sich einem anderen sozialen Verband an. So kommt es immer wieder zu Abspaltungen und Neuzusammensetzungen der Gruppen.

Verzicht auf Herrschaft

Auf die Gewalt eines herrschaftlichen Erzwingungsstabs, der für die staatliche Rechtsdurchsetzung typisch ist, wird in jedem Fall verzichtet. »Ohne Soldaten, Gendarmen und Polizisten, ohne Adel, Könige, Statthalter, Präfekten oder Richter, ohne Gefängnisse, ohne Prozesse geht alles seinen geregelten Gang«, fasste Friedrich Engels die durch spätere Forschungen bestätigten Erkenntnisse der klassischen Irokesenstudien von Lewis Henry Morgan aus der Mitte des 19. Jahrhundert zusammen. Keinesfalls ist Herrschaftslosigkeit auf die Unfähigkeit vermeintlich »Primitiver« zurückzuführen, sich nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam hierarchisch zu organisieren. In vielen Fällen existieren sie seit langem in der Nähe von und im Austausch mit Staaten, wissen um Vor- und Nachteile herrschaftlicher Organisation und ziehen ein Leben in Freiheit und Gleichheit vor. Ihre Egalität beruht nicht auf einem Mangel, sondern ist der bewusste, institutionell bewehrte Verzicht auf Herrschaft.

Im Blick auf die Frage, wie das soziale Miteinander möglichst frei von Repressionen organisiert und wie die Entstehung von Herrschaft wirksam blockiert werden kann, lohnt sich der Blick auf die historische Realisierung herrschaftsfreier Institutionen. Und zwar auch dann, wenn die gefundenen Lösungen sich nicht eins zu eins übernehmen lassen. Die institutionelle Perspektive ermöglicht einen schärferen Blick auf die Kosten und den Nutzen beabsichtigter Veränderungen. Sie verspricht Auskunft über jene Chancen und Schwierigkeiten zu geben, mit denen sich Menschen immer dann auseinandersetzen müssen, wenn sie sich daran machen, Herrschaft abzubauen.

Thomas Wagner ist freier Publizist. Zum Thema seines Essays ist vergangenes Jahr erschienen: Rüdiger Haude/Thomas Wagner: Herrschaftsfreie Institutionen. Texte zur Stabilisierung staatsloser, egalitärer Gesellschaften. Verlag Graswurzelrevolution, 244 S., br., 17,90 €.

Erschienen in Neues Deutschland, 8.2.2020