Die hier zusammengetragenen Beispiele aus den Jahren 1942 bis 1944 zeigen, wie es mutigen, gut organisierten Menschen in Nazideutschland, im kollaborierenden Bulgarien sowie in den nationalsozialistisch besetzten Ländern Dänemark und Frankreich gelang, jüdische Verfolgte vor der Deportation und Ermordung durch die Nationalsozialisten zu retten. Kann ziviler Widerstand gegen eine brutal vorgehende Besatzungsmacht das Leben der angegriffenen Bevölkerungsgruppe oder Gemeinschaft sichern? Welche Bedingungen und Mechanismen müssen hier zusammenfinden und gemeinsam wirken?
Wie ziviler Widerstand jüdische NS-Verfolgte vor der Deportation bewahrte
87 S. | 12,90 Euro | ISBN 978-3-939045-53-3
Was kann ziviler Widerstand gegen den enthemmten Vernichtungswillen und die militärische Übermacht einer faschistischen Diktatur ausrichten? Die hier zusammengetragenen Beispiele aus den Jahren 1942 bis 1944 zeigen, wie es mutigen, gut organisierten Menschen in Nazideutschland, im kollaborierenden Bulgarien sowie in den nationalsozialistisch besetzten Ländern Dänemark und Frankreich gelang, jüdische Verfolgte vor der Deportation und Ermordung durch die Nationalsozialisten zu retten.
Mit Blick auf die brutale Repression aktueller Regime und ihre neuen Kriege stellt diese Untersuchung die Frage: Kann ziviler Widerstand gegen eine brutal vorgehende Besatzungsmacht das Leben der angegriffenen Bevölkerungsgruppe oder Gemeinschaft sichern? Welche Bedingungen und Mechanismen müssen hier zusammenfinden und gemeinsam wirken?
Inhalt
Einleitung von Lou Marin/Barbara Pfeifer
I. Fallbeispiel Bulgarien 1943 von Lou Marin
Erfolgreicher ziviler Widerstand gegen die national-sozialistische Übermacht und für das Überleben bulgarischer Juden und Jüdinnen
II. Singen statt sterben von Barbara Pfeifer
Oder: Warum 1943 die meisten dänischen Jüd*innen gerettet wurden
III. Um die Erinnerung kämpfen von William Wright
Der Widerstand der Frauen in der Rosenstraße 1943
IV. Camus und die Gewaltlosigkeit von Lou Marin
„Die Pest“ und die Rettung der Juden in Chambon-sur-Lignon während der Nazi-Besatzung – entscheidende Weggabelung für Camus Konzeption der gewaltfreien Revolte
Aus der Einleitung
Der zivile Widerstand in den von Nazis besetzten Gebieten während des Zweiten Weltkriegs 1939–1945 ist vor dem Hintergrund der bedrohlichen, kriegerischen und reaktionären Tendenzen der aktuellen Weltlage seit dem Angriffskrieg der russischen Armee vom 24. Februar 2022 auf die Ukraine für die weltweite anarchistische und antimilitaristische Bewegung von neuem, besonderen Interesse. Dieses Buch stellt vier, inzwischen durch die Historiker*innen und Philosph*innen zum Thema ziviler Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Europa relativ weitgehend erforschte und gut dokumentierte Beispiele erfolgreicher „Judenrettung“ dar und untersucht ihre Wirkungsmechanismen. Intention dieser Sammlung ist es, durch den Blick auf historische Beispiele den Mut zu entfachen, nicht aufzugeben und trotz brutaler Repression und aktueller Kriege die Möglichkeit offenzuhalten, mittels zivilem Widerstand wenn nicht die Besatzungsmacht zu besiegen, so doch das Überleben der angegriffen Bevölkerungsgruppe oder Gemeinschaft überhaupt erst wieder zu sichern und zu ermöglichen. Außerdem soll diese Studie den Aktivist*innen zu neuer gesellschaftlicher Legitimation verhelfen, die hier und heute etwa mit Rettungsschiffen im Mittelmeer Menschen aus Kriegsgebieten und Zonen der Klimazerstörung im globalen Süden helfen. Geflüchteten, die ihr Leben durch Flucht aufs Spiel setzen, um zu versuchen, in den nördlichen Industriegesellschaften wie den USA oder Europa Fuß zu fassen und sich eine neue Existenz aufzubauen. Dieses Buch soll jenen Mut machen, die Hilfe oder Aufnahme für diese Geflüchteten, ebenso wie jene aus der Ukraine oder aus dem Krieg im Nahen Osten, organisieren und dabei mit den neuen rassistischen Gesetzen der EU oder der USA gegen ihre Aufnahme sowie mit einer Politik systematischer Abschiebungen konfrontiert sind.
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In seiner bedeutenden Studie zum zivilen Widerstand in Europa gegen die nationalsozialistische Besatzung hat der französische, aus der dortigen gewaltfrei/antimilitaristischen Bewegung kommende Historiker Jacques Semelin „Fälle solchen Widerstandes (…) in Frankreich, Belgien, Luxemburg, in den Niederlanden, Dänemark, Norwegen, aber auch in Polen, der Tschechoslowakei und in Bulgarien“ untersucht. Dabei ging es nicht nur um die „Judenrettung“, sondern um den Widerstand unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen, der Ärzt*innen in den Niederlanden etwa, oder der Lehrer*innen in Norwegen. Bei den genannten Beispielen in Dänemark und Bulgarien meint Semelin jedoch auch die „Judenrettung“, für Frankreich befasst er sich mit den umfangreicheren Aktionen durch die französische Résistance, wie etwa der Verweigerung des Zwangsarbeitsdienstes für die deutsche Kriegsindustrie. Der Widerstand der Berliner Frauen in der Rosenstraße findet hier deswegen Aufnahme, weil einer der bedeutendsten historischen Forscher*innen zu dem Thema, Dr. Gernot Jochheim, direkt aus dem publizistischen und theoretischen Umfeld der gewaltfrei-anarchistischen Bewegung stammt und damit ein Publizist der direkten gewaltfreien Aktion Pionierforschung zum Widerstand der Rosenstraße-Frauen geleistet hat.
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Die Logiken des zivilen Widerstands führten in den hier vorgestellten vier Beispielen zum Erfolg des Überlebens bzw. der Rettung eines beträchtlichen bzw. im Falle Bulgariens oder Dänemarks sogar des größten Teils der jüdischen Gemeinschaft, wenngleich den Betroffenen weitere Verfolgungsmaßnahmen wie Enteignung oder Zwangsarbeit nicht überall erspart blieben.
Die Grundlagen und Muster des Erfolgs waren in diesen vier Beispielen jedoch unterschiedlich: In Bulgarien, wo mit den ca. 50.000 geretteten Verfolgten zahlenmäßig fast die gesamte jüdische Gemeinschaft – zumindest in Alt-Bulgarien – gerettet werden konnte, gelang es dem zivilen Widerstand, die Eliten zu spalten, ausgelöst durch den Gewissensakt Einzelner bisher im institutionellen System Verankerter. Sie gehörten der nationalen Elite an und brachen nun aus dem herrschenden Konsens aus, wodurch dann das aufgestaute Protestpotenzial einer weitgehend nicht antisemitisch eingestellten Gesellschaft außerhalb des institutionellen Systems mobilisiert werden konnte. Eine entscheidende Rolle spielte weiterhin die orthodoxe Kirche in Bulgarien, die sich nicht nur für eine andere Glaubensgemeinschaft – die jüdische – einsetzte, sondern deren wichtigste Kirchenvertreter (die Metropoliten) direkt ihr Leben mit aufs Spiel setzten.
Im Falle Dänemarks, so beschreibt es Autorin und Mitherausgeberin Barbara Pfeifer, lag das Geheimnis des Erfolgs in der dänischen Art des sozialen Zusammenhalts und Gemeinschaftsgefühls.
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Im Falle der Berliner Rosenstraße waren es wiederum die Entscheidungen über den Privilegienverlust und den Abstieg in der rassistischen Hierarchie des Nationalsozialismus, welche die Frauen der Rosenstraße trafen. Die emotionale Bindung, ja Liebe zu ihren jüdischen Ehemännern war noch größer als die angebliche Liebe zur deutschen Nation oder zur angeblich überlegenen „arischen Rasse“, der die Frauen der Rosenstraße angehörten. Hier war es also der Ausbruch aus einer sozial und rassistisch privilegierten Stellung in der vorherrschenden Gesellschaft, die zum Erfolg des zivilen Widerstands führte. Und diese emotionale Bindung an die Familie wurde dann auch durch männliche Familienmitglieder, die als Soldaten auf Fronturlaub waren und sich an den Demonstrationen in der Rosenstraße beteiligten, nachvollzogen, die durch diese sozial-emotionale Bindung ebenfalls bereit waren, ihre Karriere und ihre Existenz aufs Spiel zu setzen.
Im Falle der französischen „Judenrettung“ in Chambon-sur-Lignon hatte der Erfolg mit den Möglichkeiten des Versteckens zu tun, die Semelin oben als schwere Zugänglichkeit und Abgeschiedenheit der Gemeinschaft, die Juden/Jüdinnen versteckte, beschrieben hatte. Hinzu kam die politische Sozialisation des organisierenden Pastorenpaars André und Magda Trocmé, die in den 1920er-Jahren mit der gandhianischen Bewegung Indiens in Kontakt gestanden hatten. Sie selbst wussten bereits von der Wirksamkeit einer gewaltfreien Massenbewegung im antikolonialen Kampf und stützten sich nun bei ihrem Vorgehen auf diesen Erfahrungshintergrund.
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Aber ist das nicht insgesamt utopisch? Wischt nicht die Tatsache, dass die alliierten Armeen den Zweiten Weltkrieg gegen die nationalsozialistische Ambition der Weltherrschaft gewonnen haben, den Wert der Rettungsaktionen beiseite? Oder andersherum: Wurde nicht erst durch den bewaffneten Widerstand und durch den Krieg der alliierten Armeen die vollständige Vernichtung des Judentums in Europa verhindert und damit eine immense, unvorstellbare Anzahl weiterer Millionen von Toten verhindert? Das kann sein. Doch die militärische Antwort der Alliierten war nicht auf unmittelbare Rettung aus und verhinderte damit die real ermordeten 6 Millionen Juden/Jüdinnen nicht – und zwar deshalb, weil die alliierte Kriegsführung, bedingt durch ihre militärische Logik des Kampfes, die nur den endgültigen militärischen Sieg im Blick hatte, trotz sehr vieler Warnungen über die nationalsozialistische Vernichtungsindustrie nicht unmittelbar eingriff, etwa durch die Bombardierung von Auschwitz und weiterer Vernichtungslager der Nazis.
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Albert Camus zweiter Artikel der Serie „Weder Opfer noch Henker“ trug den programmatischen Titel: „Menschen retten!“ – in der Gegenwart! –, anstatt sie in der Gegenwart um einer besseren, aber fernen Zukunft willen zu opfern.
„Meine Überzeugung ist es, dass wir vernünftigerweise nicht hoffen können, alles zu retten, dass wir uns aber vornehmen können, zumindest Menschen zu retten, damit eine Zukunft noch möglich ist.“
Besprechungen
Aus der Wiener Zeitschrift „Augustin“
aus: nd – Literaturbeilage, 15. Oktober 2024
Wer auch nur einen Menschen rettet …
Barbara Pfeifer und Lou Marin erinnern an Beispiele gewaltfreien Widerstands in der NS-Zeit
Es war eine der spektakulärsten und erst spät gewürdigten Aktionen der Rettung von Juden vor mörderischen deutschen Antisemiten. Das Foto auf dem Buchcover verweist bereits darauf: die Rettung der dänischen Juden in fast letzter Minute in Fischerbooten über die hohe See nach Schweden. Anfang 1943 leben an die 8.000 Juden und Jüdinnen in dem kleinen skandinavischen Land noch fast unbehelligt. Zu den alteingesessenen Familien sind Flüchtlinge aus Polen und Deutschland hinzugekommen. „Sie gehen ihrer Arbeit nach, einige von ihnen auch in die Synagoge, und häufig wissen die Nachbar*innen nicht, dass sie jüdischer Herkunft sind – es ist einfach nicht wichtig“, schreibt Barbara Pfeifer. Doch dann ändert sich die Lage dramatisch.
Das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in Berlin ordnet an, dass alle „Volljuden“ und „Halbjuden“ in die Vernichtungslager ins deutsch okkupierte Polen zu deportieren seien. „In der jüdischen Gemeinde bricht nun das Chaos aus.“ Obgleich es auch in Dänemark Faschisten gibt, kommt es zu einzigartigen Solidaritätsbekundungen. Am Sonntag, dem 3. Oktober 1943, wird in allen Kirchen des Landes ein Hirtenbrief des Bischofs Hans Fuglsang-Damgaard verlesen. Ein Journalist der konservativen Zeitung „Politikken“ berichtet über dessen Inhalt: „Man dürfe nicht vergessen, dass Christus aus dem Land der Juden stammte und die Grundlage des Christentums das Alte Testament sei. Man müsse Gott und nicht den Menschen gehorchen. Außerdem verletze die Verfolgung von Juden das dänische Rechtsempfinden. (…) Es war ein historischer Moment.“
In der Folge setzten sich einfache Menschen für die Bedrängten ein, ihr eigenes Leben riskierend. Insgesamt konnten 7.742 Juden und Jüdinnen, von denen 1.376 nicht die dänische Staatsangehörigkeit besaßen, über die Ostsee vor den Häschern in Sicherheit gebracht werden. Dänemark ist das einzige Land der Welt, dessen Widerstand gegen die Nazis in der zentralen israelischen Gedenkstätte Yad Vashem geehrt wird. Von anderen Staaten sind dort ausschließlich Einzelpersonen als „Gerechte unter den Völkern“ gewürdigt.
Barbara Pfeifer verschweigt nicht, dass sich die dänischen Fischer bezahlen ließen, was die mitmenschliche Tat als solche nicht diskreditiert. Ein Oskar Schindler hat letztlich von der Zwangsarbeit der von ihm geretteten Juden und Jüdinnen profitiert, die ihm natürlich unendlich dankbar waren. In vielen Fällen waren die dänischen Fischer, insbesondere bei völlig mittellosen Menschen, bereit, die Überfahrt kostenlos zu bewerkstelligen. Die Zahl der dänischen Juden, die dem Völkermord der Nazis zum Opfer fielen, nimmt sich im Vergleich zu anderen Staaten gering aus: Etwa 50 wurden in Konzentrationslagern ermordet, noch einmal so viel starben auf andere Weise, unter anderem durch Suizid in verzweifelter Lage.
Die Rettung der dänischen Juden ist ein Beispiel zivilen Widerstandes gegen Barbarei. Vier Fälle stellen Barbara Pfeifer und Lou Marin in dem von ihnen herausgegebenen Band vor. Hierzulande wenig bis gar nicht bekannt dürfte die Rettung der bulgarischen Juden sein. Lou Marin setzt sich zunächst auseinander mit der „völlig überhöhten und unzutreffenden Erzählung von Bulgarien als ,Land ohne Antisemitismus‘“ und „dem ebenso falschen Mythos von der ,kollektiven Rettung der bulgarischen Juden‘“, die sowohl im sozialistischen Bulgarien als auch von der bürgerlichen Republik nach 1989 gepflegt wurden. Diesem Irrtum unterlag sogar Hannah Arendt.
Das schwarze Jahr ist auch hier 1943. Das autoritär-faschistische Bulgarien unter Zar Boris III. hatte ein „Gesetz zum Schutze der Nation“ ähnlich den Nürnberger Gesetzen verabschiedet, „das die jüdische Bevölkerung bis hin zu Enteignungen entrechtete und zum Tragen des Judensterns verpflichtete“. Im März 1943 sollte im Rahmen der nazistischen „Endlösung“ die gesamte jüdische Bevölkerung zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert werden. Was auch hier in buchstäblich letzter Minute verhindert wurde. Und so kam es, „dass nach 1945 genauso viele Juden und Jüdinnen in Bulgarien lebten wie 1939“. Wie gelang dies? Auch hier trat erst mal ein Einzelner in Erscheinung. Dimitar Peschew, Vizepräsident des bulgarischen Parlaments, verfasste am 17. März 1943 eine Erklärung, die er von 42Abgeordneten unterzeichnen ließ. „Die Erklärung verurteilte die antijüdische Politik freundlich, aber deutlich.“
Dazu gesellte sich der Protest hoher Würdenträger der orthodoxen Kirche. Antisemitische Verfolgung und Drangsalierung prangerten insbesondere Stepan, Metropolit von Sofia, sowie Kyrill, Metropolit von Plovdiv, an. Schoah-Überlebender Angel Wagenstein betont aber auch: „Unbedingt hinzurechnen muss man den umfassenden Widerstand und die praktische Solidarität der aktivsten Schichten der Bevölkerung, insbesondere der intellektuellen Elite, die Vereinigungen der Schriftsteller, der Ärzte, der Juristen. In diesem Kontext wurde in perfekter Weise die große Protestkundgebung in Sofia vom 14. Mai 1943 abgehalten, ein Ereignis, das den Zaren und seine Regierung zutiefst beeindruckt hat.“ Die Deportationen wurden aufgehoben.
Bekannt und in jüngster Zeit vielfach gewürdigt ist der unerschrockene Protest der Frauen in der Berliner Rosenstraße gegen die geplante Deportation ihrer jüdischen Männer. An sie erinnert in diesem Buch ein Aufsatz von William Wright. Am 27. Februar 1943 hatten SS und Gestapo begonnen, jüdische Männer, die in „Mischehen“ lebten, zu verhaften, vornehmlich an ihrem Zwangsarbeitsplatz in Betrieben, deshalb „Fabrikaktion“ genannt. Schon am Abend dieses Tages versammelten sich die ersten Frauen vor dem Gebäude der ehemaligen Behörde für Wohlfahrt und Jugendfürsorge der Jüdischen Gemeinde nahe dem Alexanderplatz, das als ein Sammellager diente. In den nächsten Tagen wuchs die Zahl der protestierenden Frauen rasant. „Die Nazis brachen die Deportationen ab, gaben dem unbewaffneten Widerstand nach, um einen befürchteten Flächenbrand und eine Ausweitung des Widerstands zu vermeiden.“ Etwa 1.700 Juden und Jüdinnen konnten so vor der Deportation nach Auschwitz gerettet werden.
Abschließend berichtet Lou Marin über die französische, hugenottisch geprägte Gemeinde Chambon-sur-Lignon, deren 5.000 Einwohner unter Leitung der Pastoren André Trocmé und Édouard Theis an die 5.000 Juden retteten. Albert Camus schrieb später darüber, dass auch er Pariser Juden und Jüdinnen ins Rettungsnetz von Chambon brachte. Der Schriftsteller, der kurz vor dem Einmarsch der Wehrmacht in Paris 1940 nach Lyon geflüchtet war, strickte selbst mit Freunden ein Fluchtnetz, von Marseille über Algier und Oran nach Casablanca. In seinem Roman „Die Pest“, begonnen nach der Schlacht um Stalingrad 1943, doch erst vier Jahre später erschienen, sind die großen Themen Kollaboration und Widerstand grandios bearbeitet.
Lou Marin diskutiert auch die heftigen Diskussionen zwischen Camus, dem vehementen Verneiner jeglicher Gewalt, und Jean-Paul Sartre, der Gewalt in bestimmten Situationen als legitim ansah, als ein Recht der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker gar pries. Des Letzteren Ausspruch „Man bleibt entweder terrorisiert oder wird selbst terroristisch“ nennt der Autor und Verleger „schrecklich“, gerade auch in Hinblick auf die islamistischen Terroranschläge in jüngster Zeit sowie insbesondere des Massakers der Hamas am 7. Oktober 2023. „Für Camus waren solche Äußerungen purer Nihilismus“, schreibt der ausgewiesene Camus-Experte Lou Marin und zitiert sein Idol: „Wenn ein einziger Mensch tatsächlich getötet wird, verliert der Revoltierende auf gewisse Weise das Recht, von der Gemeinschaft der Menschen zu sprechen, aus der er indes seine Rechtfertigung ableitete.“
Ein kleiner, aber gewichtiger Band von Lou Marin und Barbara Pfeifer. Er macht in einer gewalttätigen, hasserfüllten und kriegerischen Gegenwart auf erfolgreiche gewaltfreie Aktionen zivilen Ungehorsams aufmerksam. Es lohnt das Wagnis, mögen die Menschenverachter und Mörder noch so übermächtig erscheinen. Denn, wie eine (auf der Medaille für Gerechte unter den Völkern eingeprägte) alte jüdische Weisheit weiß: „Wer auch nur ein Leben rettet, rettet die ganze Welt.“
Karlen Vesper
aus: Contraste, September 2024, Nr. 480
Etwas tun im Hier und Jetzt
Als ich die Einleitung von „Menschen retten!“ las, fühlte ich mich gleich verstanden. Denn mit Blick auf die aktuelle Weltlage, vor allem auf die sich zuspitzenden militärischen Konflikte und den Aufstieg der Rechten, melden sich bei mir oft Gefühle der Ohnmacht und der Resignation. Dieser schmale Band möchte dem etwas entgegenhalten. Vier historische Beispiele zivilen Widerstands sollen den Lesenden Mut machen, nicht aufzugeben. Das Buch ist im Verlag Graswurzelrevolution erschienen und führt vier Beiträge zusammen, die bereits in der gleichnamigen Zeitung abgedruckt wurden. Sie alle erzählen von zivilem Widerstand, der jüdische NS-Verfolgte vor der Deportation bewahrte. In der Einleitung stellen die Herausgeber*innen Lou Marin und Barbara Pfeifer nicht nur einen aktuellen Bezug her, sondern ordnen die vier Fallstudien auch mit ihren unterschiedlichen Merkmalen ein: Welche Faktoren haben jeweils zum Erfolg geführt? Welche Akteur*innen waren involviert? Es lohnt sich auf jeden Fall, die Einleitung nach den vier Kapiteln noch einmal zu lesen. Lou Marin berichtet vom erfolgreichen zivilen Widerstand in Bulgarien, der 1943 das Überleben von rund 50.000 Verfolgten sicherte. Barbara Pfeifer schildert die besondere Situation im besetzten Dänemark, wo ebenfalls ein Großteil der dort lebenden Jüd*innen gerettet werden konnte. Ein Beispiel aus Deutschland ist der Widerstand der Frauen in der Rosenstraße, die 1943 mit friedlichem Protest die Entlassung ihrer jüdischen Ehemänner erreichten. Das letzte Kapitel dreht sich um widerständige Strukturen im besetzten Frankreich, die Jüd*innen bei der Flucht, beim Verstecken oder mit gefälschten Papieren unterstützten. Im Zentrum dieses Berichts steht Albert Camus, der in diese Strukturen eingebunden war und auf diesen Erfahrungen seine Konzeption der gewaltfreien Revolte aufbaute. Spannend sind die (zum Teil philosophischen) Fragen, die sich aus den unterschiedlichen Logiken von bewaffnetem und zivilem Widerstand ergeben und in der Einleitung vorgestellt werden: „Der unbewaffnete zivile Ungehorsam folgt einer unmittelbaren Logik des ,Hier und Jetzt‘. Er war nicht auf den unmittelbar erwarteten militärischen Sieg ausgerichtet […]. Der zivile Widerstand folgte der Logik der unmittelbaren Rettung von Menschenleben […].“ Irritierend sind die hin und wieder auftauchenden Spitzen in den Beiträgen, vor allem gegen die sogenannten „Antideutschen“. Ob inhaltlich begründet oder nicht, sie wirken an dieser Stelle deplatziert. Nichts desto trotz versammelt dieser Band wichtige und inspirierende Beispiele, wie es gelingt, auch unter schwierigsten Bedingungen den eigenen Werten treu zu bleiben und danach zu handeln. Darüber hinaus gibt das Buch Denkanstöße zu den eigenen Strategien und Zielen.
Regine Beyß
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