Rezensionen
“Der “andere” Camus verdient Interesse und Sympathie.” >> Die Zeit
“Ursprung der Revolte wird zum festen Bestandteil der deutschsprachigen Sekundärliteratur werden.” >> Frankfurter Allgemeine Zeitung
“Marin präsentiert einen höchst aktuellen Camus.” >> Neues Deutschland
“Marins Verdienst ist es uns, den vergessenen libertären Camus vorzustellen. Dieses Buch bietet den LeserInnen eine Reihe von Möglichkeiten für eigene Anschlüsse zu der Frage nach ‘Gewalt, Freiheit und Moral’.” >> Schwarzer Faden
Die Zeit vom 11.3.1999, Nr. 11
Das Werk von Albert Camus, schreibt Lou Marin, sei hierzulande mehr ein Gerücht als eine Bekanntheit. Obwohl der Literaturnobelpreisträger von 1957 offiziell kanonisiert ist und einige seiner Schriften (Der Mensch in der Revolte, Der Mythos von Sisyphos) zu Schulpflichtlektüren avancierten, blieb von ihm lediglich der Eindruck eines vagen Existentialismus und allenfalls noch seiner politisch-moralischen Gegnerschaft zu Sartre und Beauvoir.
Daß Camus mehr war als einer der Väter des französischen Existentialismus, daß er sich als engagierter Verfechter libertärer Ideen hervortat, belegt Marins Studie anhand von im deutschsprachigen Raum weithin unbekannten Quellen, die Camus’ enge Verbindungen zum anarchistischen Milieu dokumentieren. Vor dem aktuellen Hintergrund der islamistischen und staatsoffiziellen Gewalt in Algerien – einer Terrorspirale ohne Ende – macht der Autor Camus’ prinzipiell gewaltkritische Haltung während des ersten Algerienkrieges plausibel, eine Haltung, die ihm vor allem in linken Kreisen den Ruf eines “Kolonialisten des guten Willens” eingetragen hat. Marins Buch ist der energische Versuch, nicht nur dieses Klischee des Schriftstellers und Philosophen, der vor allem durch den politischen Triumph Sartres und des Sartreanismus in den sechziger und siebziger Jahren ins Abseits geraten ist, mit Argumenten zu zerstören und das Bild eines “anderen” Camus zu lancieren, welches Interesse und Sympathie gleichermaßen verdient.
Hans-Martin Lohmann
Frankfurter Allgemeine Zeitung/Literaturbeilage vom 1.12.1998, Nr. 279
Mildernde Umstände
Der Ursprung der Revolte bei Camus
Von Jürg Altwegg
Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, war Albert Camus in Algerien und seine Heimat eine eng mit dem Mutterland verbundene Kolonie. Die Kommunistische Partei Frankreichs unterhielt im überseeischen Département eine Sektion, der Camus zwischen 1935 und 1937 angehört hatte. Er wurde ausgeschlossen, als die Genossen in Paris mit ihrem Einzug in die Volksfrontregierung des Sozialisten Léon Blum den Kampf gegen den Kolonialismus für nicht mehr prioritär erklärten. Ihren Gesinnungswandel begründeten sie mit den Geboten des Antifaschismus, zu dem sie sich bis zum Hitler-Stalin-Pakt bekannten. Camus arbeitete bei der Tageszeitung “Alger Républicain”. Das Blatt war parteilos, unterstützte aber weitgehend die soziale Politik der Volksfront. In seiner Biographie schreibt Herbert Lottmann, Camus und sein Redaktionskollege Pascal Pia hätten aus dem “Alger Républicain” und seinem Nachfolger “Le Soir républicain” im Laufe der Zeit ein “anarchistisches Organ” gemacht.
Mehr noch als im Deutschen wird der Begriff der Anarchie von den Franzosen nicht von vornherein als Name einer politischen Doktrin verstanden, sondern als geläufiges Synonym für Unordnung gebraucht. Doch Lottmann hat natürlich nicht nur die chaotischen Zustände in der Redaktion gemeint. Camus schrieb Gerichtsreportagen, in denen er die angeklagten Algerier gegen das Kolonialsystem in Schutz nahm. Er engagierte sich für die Berber der Kabylei. Literarische Rezensionen veröffentlichte er unter dem Pseudonym “Objecteur de conscience” – Kriegsverweigerer aus Gewissensgründen. Dieses Recht forderte die Zeitung auch in Kriegszeiten. Sie hatte das Abkommen von München kritisiert und stand, nach der Kriegserklärung Frankreichs im Anschluß an Hitlers Einmarsch in Polen, in ständigem Konflikt mit der Zensur. Im Januar 1940 wurde “Le Soir républicain” verboten.
Ein lupenrein anarchistisches Redaktionsprogramm kann dem Blatt nicht nachgewiesen werden. Lou Marin, der Camus’ Beziehung zum Anarchismus eine Studie über den “Ursprung der Revolte” widmet, die voreingenommener sein möchte, als sie es tatsächlich ist, bescheinigt ihr “anarchopazifistische Positionen”. Dafür gibt es Belege, die der Autor geschickt zusammenträgt. Es geht ihm darum, Albert Camus als Denker des Anarchismus zu profilieren. Zu dieser Absicht bekennt sich Lou Marin uneingeschränkt und mit entwaffnender Naivität: “Zu guter Letzt begrüße ich den begrabenen Freund und Genossen in Lourmarin”, beschließt er sein Vorwort: “Vive l’Anarchie!”
Seine Einleitung hat einen programmatischen Charakter. Bevor Albert Camus ins Paradies des Anarchismus aufgenommen werden kann, müssen zwei, drei Abweichungen erörtert werden. An erster Stelle sein Patriarchalismus. Für die “neue Frauenbewegung blieb Camus ein simpler Macho”. Marin, der sich die Orthographie der Feministinnen zu eigen macht und zu “man” immer auch “frau” sagt, will seinen Helden in der “Geschlechterfrage”, die er sträflich vernachlässigt hat, keineswegs verteidigen. Er diagnostiziert bei ihm vielmehr einen “gravierenden Mangel in der politischen und emanzipatorischen Philosophie und Praxis”, wobei mit letzterer sein Verhalten als Don Juan gemeint ist. In philosophischer Hinsicht besteht das Delikt des Patriarchalismus darin, daß er “zwischen weiblichem Intellekt und weiblicher Körperlichkeit trennt”. Der globale und “spezifische pieds-noirs-Sexismus”, den Simone de Beauvoir Camus unterstellte, wird nicht beschönigt. Lou Marin versucht, bestenfalls mildernde Umstände und eine Besinnung zum Besseren geltend zu machen: Immerhin war Camus einer der ersten aus der Pariser Boheme-Szene der Nachkriegszeit, der diesem Milieu, in welchem der Don-Juanismus allgemein sehr ausgeprägt war, angewidert den Rücken kehrte, sich aufs Land und später ins südfranzösische Dörfchen Lourmarin zurückzog, während de Beauvoir, die ausgewiesene Kritikerin, diesem Milieu gerade treu blieb”.
Ebenso kategorisch werde der mediterrane Macho hierzulande von der autoritären Linken” abgelehnt. Lou Marin macht darin eine “allgemeine Unkenntnis der politischen Positionen Camus’ in der BRD” aus, was natürlich etwas übertrieben ist, auch wenn es zutreffen mag, “daß TheoretikerInnen und AktivistInnen der Friedensbewegung oder der Anti-AKW-Bewegung eine Beschäftigung mit Camus nicht populär erschien”. Sie hätten von seiner “Verbindung des Atompazifismus mit radikalem Antimilitarismus wertvolle Anregungen” beziehen können. Die generelle Ignoranz und die “Vorurteile gegen Camus wegen dessen Positionen zum Algerienkrieg” verhinderten dies. “Fast notwendigerweise”, stellt Lou Marin fest, werde sein Buch über Camus “somit ein Anti-Sartre”. Den Bruch zwischen den beiden Denkern und Dichtern hält er für “ähnlich bedeutend wie der Streit zwischen Marx und Bakunin im neunzehnten Jahrhundert”. Geschickt bedient sich Lou Marin bei seinem Versuch, Camus zwischen verbiesterten Feministen und dogmatischen Linken als Anarchisten zu vereinnahmen, eines Tricks. Er gibt vor, den Deutschen Texte und eine Deutung zu enthüllen, die in Frankreich bekannt, ja weithin verbreitet seien.
Zu den wichtigsten Elementen seiner Beweisführung gehört die Frühzeit in Algerien. Camus pflegte Kontakte zu spanischen Anarchisten, die nach dem verlorenen Bürgerkrieg – Marin spricht von der spanischen Revolution – ins Exil gingen. Für Camus blieb dieses Milieu vor allem während der Angriffe durch Sartre und die orthodoxen Linken eine Art Heimat oder Familie. Daß er zu den Anarchisten eine intuitive – menschliche und intellektuelle Affinität verspürte, steht außer Zweifel.
Lou Marin kann sie mit einer Trouvaille illustrieren: Albert Camus’ Mitarbeit bei der in Zürich verlegten Zeitschrift “Témoins”. Die französischsprachige Publikation war von Jean Paul Samson, einem französischen Dichter und Deserteur gegründet worden. Zwischen 1953 und 1963 erschienen dreiunddreißig Nummern in einer Auflage, die Marin auf höchstens eintausend schätzt. Trotzdem sei das Blatt in den anarchistischen Kreisen Frankreichs sehr einflußreich gewesen. Gelegentlich wurden in Paris Zusammenkünfte organisiert, an denen Camus teilnahm und zu denen wohl auch der von der Polizei gesuchte Samson anreiste.
Er hatte für eine der ersten Nummern eine sehr wohlwollende und intelligente Besprechung von Camus’ philosophischem Hauptwerk “Der Mensch in der Revolte”, das bekanntlich den Bruch mit Sartre bewirkte, verfaßt. Camus fühlte sich verstanden und befreundete sich mit Samson. Im ersten Artikel, den er für “Témoins” schrieb, greift er die westlichen Intellektuellen und Kommunisten an, welche den Aufstand vom 17. Juni 1953 in Ostberlin kritisiert und die Repression gegen ihn gebilligt und begrüßt hatten. Er hatte im Westen kaum jemanden zum Bruch mit dem Marxismus bewogen – die ersten Ablösungen gab es nach 1956. Camus distanzierte sich auch vom Slansky-Prozeß und unterstrich seinen Antisemitismus; Sartre schwieg. In der DDR gebe es keine Meinungsfreiheit, stellte Camus fest, nur weil zufällig ein Niederländer Aufnahmen gemacht habe, könne der Aufstand nicht totgeschwiegen werden. Im Gegensatz zu den meisten linken Intellektuellen glaubte Camus nicht an die Veränderungsmöglichkeit der totalitären Regimes im Osten.
Auf den Einmarsch in Ungarn reagierte Camus mit einem Bekenntnis zu den westlich-pluralistischen Gesellschaften, in denen es um Freiheit und Menschenwürde besser bestellt sei. Solche Aussagen waren damals in französischen Intellektuellenkreisen ketzerisch und galten als reaktionär. Ebenfalls in “Témoins” dankte der ungarische Schriftsteller Miklos Molnar dem Kollegen für seine engagierte Unterstützung, hielt indes am Reformsozialismus als einziger Hoffnung fest.
Nach der Hinrichtung von Imre Nagy meldete sich Camus 1958 noch einmal in “Témoins” zu Wort: “Encore la Hongrie”. Er wunderte sich, daß trotzdem französische Kommunisten ins Parlament gewählt würden. Die ideologischen Verrenkungen und verbalen Wendungen, mit denen die Todesstrafe für “sogenannte maoistische oder titoistische” Abweichler gerechtfertigt würde, seien von besonderer dialektischer Art: bis die Dialektik sich zum Knoten des Strangs windet”.
Als “Ausdruck einer tiefen Verwandtschaft und Verbundenheit mit libertärer Kultur und der anarchistischen Bewegung” bewertet Lou Marin die gelegentliche Mitarbeit Camus’ bei der Züricher Kulturzeitschrift. Lou Marin ist beim Gesinnungsgenossen Teodosio Vertone auf das unbekannte Kapitel gestoßen. Im Anhang publiziert er dessen Text über die entsprechenden Debatten im frankophonen Raum, wo “Camus der libertären Denkrichtung zuzuordnen” sei.
Lou Marin analysiert Albert Camus’ Leben und Werk konsequent aus dieser Perspektive. Schwerpunkte sind die intensive journalistische Tätigkeit, Freundschaften und familiäre Beziehungen, die Kriegszeit und ihre Verarbeitung sowie die Auseinandersetzung mit Algerien. Die Philosophie und Ethik der Revolte, der Kampf gegen die Todesstrafe, die Ablehnung jeglicher Gewaltanwendung sowie die frühe Kritik des Totalitarismus sind plausible Anknüpfungspunkte. Gelegentliche Wiederholungen, kleine Fehler und Ungereimtheiten ändern nichts am Befund, daß Lou Marins “Ursprung der Revolte” wohl gegen die Intention des Verfassers zum festen Bestandteil der deutschsprachigen Sekundärliteratur über Camus werden wird.
Der Versuch zur Vereinnahmung indes scheitert. Problematisch wird die Argumentation für Lou Marin immer dann, wenn er auch die Rezeption Camus’ durch die Anarchisten, die in Frankreich keineswegs nur Gegner der Gewaltanwendung sind, zu berücksichtigen beginnt – und er ist redlich genug, die fundamentalen Widersprüche nicht zu verschweigen. “Gespalten und kontrovers” sei die enge Beziehung denn doch gewesen. Der Autor konstatiert einen “Sicherheitsabstand” und räumt ein, daß sich Camus “nirgendwo vollständig aufgehoben fühlte”. Diese Heimatlosigkeit auch im Kreise der Anarchisten macht Marins Studie bewußt. Sie gibt Camus, der ein bißchen zum faden Denker und harmlosen Moralisten der Gutmeinenden geworden war, jene erfrischende Radikalität zurück, die er verlor, seit ihm außer ein paar Feministinnen und dogmatischen Marxisten alle recht geben und ihn als Propheten des Antitotalitarismus wie eines rehabilitierten Humanismus feiern.
Neues Deutschland, 7.-12. Oktober 1998
Der Libertäre
Von Heiner Halberstadt
Als Romancier und Literatur-Nobelpreisträger (1957) dürfte Albert Camus wahrscheinlich jedem halbwegs kulturell und geistig gebildeten Deutschen bekannt sein. Und in manchen höheren Schulanstalten mag Camus’ Roman “Die Pest” als Pflichtlektüre anstehen. Der Journalist und Essayist Albert Camus dagegen und der Philosoph, “der er in traditionellem Sinn nicht sein wollte«, hat zwar vorübergehend am Rande der Studenten- und Aufbruchsbewegung Ende der 60er Jahre ein, wenn nur nur gewisses, Interesse bei den libertär bewegten Nachkriegs-Revolutionären gefunden; obgleich doch Camus ein hoch analytisch-reflektierender und engagierter Interpret des Spannungsfeldes zwischen Revolte und Revolution war. Aber vielleicht wurde gerade deshalb seinem Hauptwerk “Der Mensch in der Revolte” (1951) – anders als in Frankreich – hier wenig Beachtung zuteil.
Lou Marin kommt das Verdienst zu in »Ursprung der Revolte« einen höchst aktuellen Albert Camus zu präsentieren. Dessen kritische Reflexionen und Wertungen über Gewalt als Element im gesellschaftlichen Prozeß führen mitten in fortdauernde. Auseinandersetzungen um eine (not-wendige) Transformation der überkommenen und inzwischen global ausgeweiteten autoritär-kapitalistische Gesellschaft hinein, versuchen sich dem Gehalt einer bisher nur ungenau konzipierten nichtautoritären sozialistischen Weltgesellschaft zu nähren. Dabei bestreitet Camus dem Staat, gleich in welcher politischen Verfaßtheit, jeglichen Absolutheitsanspruch gegenüber dem Individuum und auch gegenüber dem Kollektiv. Von dieser Position aus bleibt u.a. Camus stets ein heftiger und konsequenter Gegner der Todesstrafe. Auch in ihrer Anwendung gegenüber Kollaborateuren nach der Befreiung Frankreichs im Januar 1945: während die KPF und auch Sartre und de Beauvoir in diesem Zusammenhang die Todesstrafe für angemessen sahen. Camus vermerkt dazu, daß “Befreiung sowohl die schönsten wie auch die schlimmsten Instinkte im Menschen freisetzen” kann.
Bereits in der französischen Kolonie Algerien – dort wurde Camus als Sohn eines Franzosen und einer spanischen Mutter geboren – beginnt er 1935 als Journalist für eine solidarische, von islamischer und französischer Kultur getragene soziale und politische Emanzipation zu arbeiten. Später wird er fundierter Kritiker der FLN, der algerischen Befreiungsfront. Er kann die immer nationalistischer und brutaler werdende Gegengewalt der FNL nicht akzeptieren. “Denn”, so Camus, “der Ursprung der Revolte ist die Menschwerdung der Unterdrückten; diese geht jedoch verloren, wenn sie selbst unmenschlich gegen andere wird”. Camus’ frühe Analyse des algerischen Befreiungskrieges eröffnet zugleich einen aufschlußreichen Zugang zur algerischen Gegenwart.
Breiten Raum gibt Marin der Darstellung des Bruchs von Camus mit Sartre und de Beauvoir, mit denen er persönlich eng liiert war. Die immer heftiger werdende Kontroverse zwischen diesen herausragenden politisch-literarischen Persönlichkeiten im Nachkriegs-Frankreich war u.a. in ihrem unterschiedlichen Verhältnis zur Sowjetunion, vor allem nach dem Slansky-Prozeß, begründet.
Marins Buch ist allen zu empfehlen, die sich mit grundsätzlichen Problemen gesellschaftlicher Veränderung auseinandersetzen.
Schwarzer Faden Nr. 67 – 1/1999
Albert Camus und der Anarchismus
Von Jürgen Mümken
In der deutschsprachigen Rezeption der Werke von Albert Camus (1913-1960) werden in der Regel die vielfältigen Beziehungen und Kontakte zur anarchistischen und anarchosyndikalistischen Bewegung unterschlagen. Lou Marin stellt uns in Ursprung der Revolte den vergessenen libertären Camus vor. Albert Camus, der sich selbst nicht als Anarchist bezeichnet hat, hat regelmäßig für anarchistische Zeitschriften und Zeitungen geschrieben, hat immer wieder positive Bezug auf die libertäre Bewegung – insbesondere in Spanien – genommen und er beteiligte sich an anarchistisch-antimilitaristischen Kampagnen. Im Mittelpunkt des Buches steht zum Einen die Gewaltkritik von Camus und seine Auseinandersetzung mit der Gewalt revolutionärer Bewegungen, zum Anderen geht es immer wieder um die Auseinandersetzung und den Bruch mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. So gesteht Lou Marin in der Einleitung auch ein: “Dieses Buch über den libertären Camus ist somit fast notwendigerweise ein Anti-Sartre” (S. 17).
Albert Camus, Sohn einer Spanierin und eines Elsässers, in Algerien geboren, kam schon in Algerien bei seiner journalistischen Arbeit in Kontakt mit anarchistischen Ideen, obwohl er von 1935 bis 1937 Mitglied der “Kommunistischen Partei Frankreichs” (KPF) war. 1936 war er an der Gründung der “Kommunistischen Partei Algeriens” beteiligt. Seine Aufgabe war es arabische Jugendliche für die KP zu gewinnen. Als Stalin 1936 die Einbindung der KPF in die Volksfrontregierung in Frankreich unterstützte, verlangte er aus bündnistaktischen Gründen eine Revidierung der antikolonialen Positionen der Kommunistischen Parteien in den französischen Kolonien. Camus, der auf seine antikoloniale Position nicht verzichten wollte, wurde 1937 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen.
In Algerien war Camus als Journalist tätig. Er näherte sich den libertären Ideen an und kämpfte sein Leben lang gegen die Todesstrafe. In seinen Betrachtungen zur Todesstrafe legt Camus dar, welches libertäre Verständnis seinem Kampf gegen die Todesstrafe zu Grunde liegt: “Die Hinrichtung eins Menschen untersagen, hieße öffentlich verkünden, daß die Gesellschaft und der Staat keine absoluten Werte sind und daß nichts sie dazu ermächtigt, die endgültige Gesetze zu erlassen und Nichtwiedergutzumachendes zu schaffen” (S. 70).
Neben Der algerische Camus gehört das Kapitel über Libertäre Pfade durch die Résistance zu den interessantesten in dem Buch von Marin. Hier wird der frühe Anarchopazifismus und die Auseinandersetzung mit Kollaboration und der Todesstrafe von Camus dargestellt. Während seiner journalistischen Tätigkeit in Algerien versuchte er die Zeitungen, bei denen er arbeitete, auf anarchopazifistischen Kurs zu bringen, was ihm teilweise auch gelang. Während der deutschen Besatzung in Frankreich schloß sich Camus zwar der Résistance an, beteiligte sich aber nicht an bewaffneten Aktionen. Er schrieb für die Zeitungen der Résistance und war gelegentlich auch Kurier. Trotz seiner gewaltkritischen Haltung schwieg er zu den bewaffneten Aktionen der Résistance. Obwohl er die Todesstrafe grundsätzlich ablehnte, schwieg er nicht nur zu den Hinrichtungen von VerräterInnen und KollaborateurInnen, sondern befürwortete sie insbesonders harten Fällen und dies sogar bis Januar 1945. Doch danach bezog er wieder seine ursprüngliche Position und kritisierte die Hinrichtungen und setzte sich für zum Tode verurteilte KollaborateurInnen ein, sogar für Marschall Pétain. Camus ging es nicht so sehr um Rache, er wollte das alle Nazi-KollaborateurInnen aus der Politik und aus der Kultur entfernt werden. Nach einer kurzen Phase der “wilden Säuberungen”, besann frau/mann sich in Frankreich auf die kollektive Verdrängung.
Seine antikoloniale, antinationale und gewaltkritische Haltung hat Camus immer wieder Kritik eingebracht und hat desöfteren zu Mißverständnissen geführt. Seine antinationale Haltung während des algerischen Befreiungskrieges wurde häufig als kolonial denunziert. Er kritisierte nicht nur die Gewalt der algerischen Befreiungsbewegung FLN, sondern auch deren panarabischen Nationalismus, der sich u.a. gegen die BerberInnen in der Kabylei richtete, da sie sich nicht Arabisieren lassen wollten. Der algerische Befreiungsnationalismus richtete sich aber auch gegen die Jüdinnen und Juden, die vor 500 Jahren aus Spanien nach Nordafrika geflüchtet waren und gegen spanischen AnarchosyndikalistInnen, die vor Franco nach Algerien flüchteten. Es gab keine Bestrebungen der FLN nach nicht-arabischen BündnispartnerInnen in Algerien zu suchen, um gemeinsam für eine freie Gesellschaft zu kämpfen. Camus wendete sich gegen den Nationalismus der FLN und sah die Lösung in einer algerisch-französischen Föderation, die allen dort lebenden Menschen gleiche Rechte einräumen sollte, ohne das eine Assimilation der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Algerien gefordert wurde. Angehörige islamischer Glaubensrichtungen konnten damals in Algerien nicht die französische Staatsangehörigkeit bekommen, obwohl Algerien als ein Teil von Frankreich betrachtet wurde.
Auch wenn wir heute sehen, daß der Befreiungsnationalismus der FLN fatale Folgen für das unabhängige Algerien hat(te), denke ich nicht wie Lou Marin, daß der Föderalismus ein wirklicher Ausweg in der damligen Zeit aus der Zwickmühle gewesen wäre. In den Analysen von Camus – soweit sie von Marin rezipiert wurden – fehlt jede Auseinandersetzung mit Rassismus und einer Binnenkolonialisierung innerhalb einer französisch-algerischen Föderation. Denn eine Föderation hätte das koloniale Verhältnis zwischen Algerien und Frankreich nicht aufgehoben, und die ökonomische Entwicklung wäre ausschließlich an die Interessen Frankreich gekoppelt geblieben. Sicherlich wird anläßlich der aktuellen Gewalt in Algerien, die gewaltkritische und antipanarabische Position Camus wieder interessant, und es ist nicht verwunderlich, daß in Algerien Intellektuelle Camus und seine Positionen zur “algerischen Frage” wiederentdecken.
Desweiteren macht es sich Marin mit der Bewertung des algerischen Unabhängigkeitkampfes zu leicht, dies wird besonders an dem Vergleich, den Marin mit Indien macht, deutlich. Marin unterscheidet zwischen den befreiungsnationalistischen Kampf in Algerien und den antikolonialen Kampf in Indien. Die heutige Gewalt in Algerien erklärt Marin mit der Gewalt im Befreiungskampf. Und wie erklärt sich dann die Gewalt in heutigen Indien, durch die Gewaltlosigkeit Ghandis? Marin differenziert wie viele andere AnarchistInnen nicht in Befreiungspraktiken und Freiheitspraktiken, diese können identisch sein, müssen es aber nicht. Gerade gewaltfreie AnarchistInnen gehen davon aus, daß die Mittel der Befreiung schon Bestandteil der zukünftigen Gesellschaft sein sollen/müssen. Dabei haben Algerien und Indien eins gemeinsam, nach der Unabhängigkeit bildete sich ein Nationalstaat heraus, der rassistisch, patriarchal, kapitalistisch und nationalistisch war und ist. Und dies ist die Ursache für die Gewalt in Algerien und Indien, und nicht die Art der Befreiung. Weder in Indien noch in Algerien kam es zur Freiheit nach der Befreiung, dieses Problem hatten auch die SandinistInnen in Nicaragua oder die erfolgreichen Befreiungsbewegungen in Angola, Simbabwe oder anderswo. Und ob die AnarchosyndikalistInnen in Spanien nach einem Sieg mehr Erfolg gehabt hätte, ist fraglich. Marin versucht dieses Problem auf die “Gewaltfrage” zu reduzieren, doch dadurch wird eine produktive Ausseinandersetzung über Praktiken der Befreiung und der Freiheit erschwert, wenn nicht sogar verhindert.
Dabei stellt sich eine weitere Frage, die nach der Beziehung von Freiheit und Moral bei Camus und Marin. Lou Marin schreibt in der Einleitung: “Wenn Gott tot ist und es keine vorgesellschaftliche oder in der Natur des Menschen liegende moralische Instanz für die Beurteilung menschlicher Handlungen mehr gibt kann Freiheit sowohl zum freimütigen Morden der Nazis als auch zum befreienden Aufbegehren gegen die Ungerechtigkeit und die Natürlichkeit des Todes führen, zur Revolte – das philosophische Thema Camus’ schlechthin” (S.10). Die absolute Freiheit soll bei Camus durch eine ahistorische Moral in ihre Grenzen verwiesen werden. Hier stellen sich zwei Fragen: Gibt es überhaupt eine ahistorische Moral, eine Moral, die nicht hinterfragbar, nicht diskutierbar, nicht veränderbar ist, und wenn ja, wo kommt sie her. Obwohl Camus Agnostiker ist, hat er davon gesprochen, “daß es ohne Gottesvorstellung keine rationale Begründung und auch keine Praxis der Gewaltfreiheit möglich ist. Trotzdem sei es ihm nicht möglich gewesen, sich mit der Gottesidee anzufreunden” (S. 199). Marin selbst tendiert dahin, “daß erst in der Revolte überhaupt ahistorische Werte – und dabei auch so etwas wie das Gewissen – gewonnen werden” (S. 234). Doch dann sind diese Werte eindeutig historisch, also nicht universell. Ebenfalls stellt sich die Frage, ob eine ahistorische Moral nicht Negation der Freiheit schlechthin bedeutet. Gustav Landauer schreibt in dem Artikel Etwas über Moral, der am 5. August 1893 im Sozialist erschien ist: “Moral ist also, was anfängt: Du sollst. (…) Es gibt kein unverbrüchliches ‘Du sollst’ für ein freien Menschen!”
Das Leben und Werk von Camus hätte sich für eine Auseinandersetzung mit “Gewalt, Freiheit und Moral” angeboten, doch dieses Thema hat Marin verschenkt. Auch etwas anderes bleibt uns Marin schuldig, das Verhältnis vom Ursprung der Revolte und die Transformation bestehender Gesellschaft. Das “Nein”-Sagen ist für Camus der Ursprung der Revolte, das nicht mehr ertragen, daß frau/mann selbst oder andere unterdrückt, erniedrigt, gequält oder ausgebeutet werden. Doch wie kommt Camus vom “Nein”-Sagen zur Transformation der Gesellschaft, muß nicht aus dem Ursprung der Revolte eine Revolution oder mehrere Revolutionen werden?
Marins Verdienst ist es uns, den vergessenen libertären Camus vorzustellen. Dieses Buch bietet den LeserInnen eine Reihe von Möglichkeiten für eigene Anschlüsse zu der Frage nach “Gewalt, Freiheit und Moral”. Es regt an, über die Fragen, die das Buch aufwirft, intensiv nachzudenken. Obwohl ich das Buch in dieser Rezension eher kritisiert habe, möchte ich das Buch von Lou Marin trotzdem empfehlen, und es produktiv für eine Auseinandersetzung zwischen “Freiheit” und “Moral” nutzen.