Beschreibung
Lebenslaute (Hg.)
Widerständige Musik an unmöglichen Orten
33 Jahre Lebenslaute
Mit DVD
249 Seiten, 180 Fotos (fast durchgängig farbig) + zahlreiche Dokumente
Format: 21 x 28 cm
25,00 Euro
ISBN 978-3-939045-39-7
Lebenslaute ist ein buntes Netzwerk von Musiker*innen. Ihre Konzertblockaden richten sich gegen staatliche Strukturen wie Militär und Verfassungsschutz, gegen die Atom-, Rüstungs-, Gentechnik- und Kohleindustrie, gegen Kriegsvorbereitungen, Naturzerstörung und Rassismus. „Widerständige Musik an unmöglichen Orten“ ist ein Lesebuch im alten Sinne: Nach dem Aufklappen bleibt der Blick irgendwo hängen und man fängt an zu lesen … Es ist ein Bewegungsbuch: Es dokumentiert und bewahrt die Erfahrungen einer Gewaltfreien Aktionsgruppe, die seit dreiunddreißig Jahren Zivilen Ungehorsam leistet. Es ist ein Geschichtsbuch: Die Geschichten von 1986 bis 2018 werden erzählt von langjährigen Aktivist*innen, neu Hinzugekommen, Profi- und Laienmusiker*innen, Unterstützer*innen und Wegbegleiter*innen unterschiedlichen Alters. Der Bild- und Dokumentationsband mit 180 fast durchgängig farbigen Fotos und zahlreichen Dokumenten reflektiert aber auch die Bedingungen, Notwendigkeiten und Konsequenzen dieser einzigartigen direkten Aktionen.
Lebenslaute ist ein buntes Netzwerk von Musiker*innen. Wir haben nie zu Ende diskutiert, in was für einer Welt wir leben wollen. Aber wir haben angefangen, unsere Lebendigkeit und unsere Musik in unsere politischen Aktionen zu integrieren. Wir vertrauen auf die Kraft der Musik und nehmen doch kein Blatt vor den Mund, wenn es um Kritik an Gewalt- und Herrschaftsstrukturen sowie um Schutz der Menschenrechte geht. Unsere Aktionen richten sich gegen herrschende staatliche Strukturen wie Militär und Verfassungsschutz, gegen die Durchsetzung von Kapitalinteressen der Atom-, Rüstungs-, Gentechnik- und Kohleindustrie, gegen Kriegsvorbereitungen, Naturzerstörung und Rassismus.
Unser Vertrauen in die gewaltreduzierende Kraft der Musik und in den allgemeinen Respekt gegenüber der Musikkultur verleiht uns den Mut zur Konfrontation. Die Aufführung eines klassischen Konzerts in schwarz-weißer Konzertkleidung bleibt eine solche, auch wenn sie gleichzeitig die Blockade der Zufahrt zu einer Rüstungsfabrik ist. Indem wir gleichzeitig Musiker*innen und Ruhestörer*innen sind, irritieren wir und öffnen Augen, Herzen und Ohren für unsere Inhalte.
(Aus dem Vorwort)
Inhaltsverzeichnis
Selbstdarstellung
Vorwort
Einleitung
Einstiegsdroge in den Ungehorsam – Wolfgang Hauptfleisch (2004)
Aachener Friedenspreis 2014: Rede von Lebenslaute
Aachener Friedenspreis 2014: Auszug aus der Laudatio
Konzertaktionen 1986 bis 2018
1986 Mutlangen: Erste Lebenslaute-Konzertblockade – Frieder Dehlinger
1987 Heilbronn: DEPOT-ZUkunftsMUSIK – Frieder Kapp
1988 Wackersdorf: Unterstützung aus der Region – Wolfgang Dehlinger
1989 Schlutup/Lübeck: Dem Wasser eine Stimme geben – Kirsten Hohn
1990 Hanau: Mit Mozart gegen Mox – Frauke Mangels
1991 Frankfurt/Main: Trauermusik an der Rhein-Main Airbase Frankfurt
1992 Gruorn: Albtraum Münsingen – Barbara Rodi, Jörg Weimer
1993 Gruorn: Wie eine Aktion verhindert wurde
1994 Gorleben: Musikalischer Einstieg in den atomaren Ausstieg – Lebenslaute, Regionalgruppe Wendland
1995 Wittstock: Lebenslaute statt Bombengetöse – Sabine Will, Andreas Will
1996 Hamburg: Verabschiedung des 25.000ten Flüchtlings (Satire) – Gisela Sauerland
1997 Ahaus
1998 Bielefeld: Seid Sand im Getriebe – Elisabeth Reinhardt
1999 Biblis: Abschiedssinfonie an die Atomenergie
2000 Wittstock: Lebenslaute in der Freien Heide – Sabine Will
2001 Frankfurt/Main: Musik gegen Grenzen – Bettina Weber
2002 Wittstock: Pink Point – Sabine Will
2003 Stuttgart: Lebenslaute statt Kriegskommandos – Bernd Geisler
2004 Wittstock: Bomben nein, wir gehen rein – Anna Will
2005 Bielefeld: Blockade der Zentralen Ausländerbehörde – Gerd Büntzly
2006 Badingen/Brandenburg: Lieber wild musiziert als genmanipuliert – Clara Tempel
2007 Wittstock: Von der Heide bis zum Strand. Bombodrom und G8-Treffen verhindern. Mein Weg zu Lebenslaute – Rhony Bajohr
2008 Lübeck: Töne und Klänge statt Grenzen und Zwänge – Sabine Albrecht
2009 Gorleben: A-Moll statt A-Müll – Andreas Will
Akku-Schrauber machen auch Musik – Christoph Ziemann
2010 Colbitz-Letzlinger Heide: Geigentöne statt Kriegsgedröhne – Gerd Büntzly
2011 Leipzig: Piano und Forte statt Kriegstransporte – Katinka Poensgen
2012 Oberndorf: Waffenhandwerk schafft nur Unheil – Ekkehard Hausen
2013 (Juni) Berlin: Aufspielen statt Abschieben – Music For Free Movement – Andreas Will
2013 (August) Büchel: Aufspielen statt Aufrüsten – Gela Böhne
2014 Eisenhüttenstadt: Musikpalast statt Abschiebeknast – Leonie Sontheimer
2015 Hambacher Forst: Andante an der Kante – Hedwig Sauer-Gürth
2016 Stuttgart: Schlussakkord dem Drohnenmord – Ekkehard Hausen
2017 Jagel: Von Bass bis Sopran – gemeinsam gegen Rüstungswahn – Christoph Büntzly
2018 Köln: Mit Suite und Kantate gegen den Staat im Staate – Tina Lipps
2018 Hambacher Forst: Eine „kleine“ Aktion, die erstaunlich groß wurde – Armin Olunczek
Reflexionen
3.1 Struktur
Vom Januartreffen zur Sommeraktion – Sabine Will
Regionale Aktionen, regionale Gruppen – Gerd Büntzly
3.2 Aktionskunst
Die Musik von Lebenslaute – Gerd Büntzly
Die Sprache der Symbole bei Lebenslaute – Gerd Büntzly
Bannerkunst – Hedwig Sauer-Gürth
3.3 Persönliche Erfahrungen
Erster Schritt zur Friedensarbeiterin – Ulrike Laubenthal
Geschlechterkonflikte und Frauenurlaube – Kirsten Hohn
Als Cellistin bei Lebenslaute – Christine Altmann
Kontakt mit der Polizei – Winfrid Eisenberg
3.4 Zusammenarbeit mit anderen Gruppen
Lebenslaute für eine FREIe HEIDe – Eckehard Häßler
Zusammenarbeit mit einer Flüchtlingsinitiative – Larissa Gulitz
Zu Gast bei der Basisgemeinde Wulfshagenerhütten – Lore Weber
Lebenslaute bucht man nicht – Detlef Mielke
3.5 Juristisches
Gewaltfreie Sitzblockaden sind keine Nötigung – Winfrid Eisenberg
Aktionen und ihre juristischen Folgen – Katja Tempel
3.6 Backstage
Kulinarische Weltverbesserung – Wam Kat
Bekomme ich jetzt noch eine Stirnlampe? – Heinz Wittmer
Als Freiwillige bei der Aktionsunterstützung – Annett Loewe
Ein ganz normaler AU-Tag – Andreas Will
Spielen für den Frieden – Conny Weigel
ZUGABe(n) gibt es nicht nur in der Musik – Katja Tempel
Anhang
Konzertprogramme 1986 bis 2018
Literaturverzeichnis
Danksagung
Kontaktadressen
Plakate, Flugblätter, Handbücher
Vorwort
Im Waldheim auf der Schwäbischen Alb hätte 1986 wohl niemand daran gedacht, dass es die Lebenslaute nach dreiunddreißig Jahren immer noch geben würde. Während 1986 hochkonzentriert ein Wochenende lang vor der Konzertaktion geplant, geprobt und diskutiert wurde, waren es 2018 sechs Tage. Schon damals gab es die Spannung zwischen hochwertiger Musik und guter Aktionsplanung: Dies Gesamtkunstwerk stellt uns jedes Jahr neu vor eine musikalische, soziale, intellektuelle und organisatorische Herausforderung. Vielleicht ist es die gemeinsame Suche nach der richtigen Mischung, die Lebenslaute in den letzten Jahrzehnten jung gehalten hat.
Als wir begannen, an der Konzeption für eine Dokumentation von „30 Jahre Lebenslaute“ zu arbeiten, war uns Fünfen aus dem Redaktionsteam nicht klar, dass drei Jahre vergehen würden, bis das gedruckte Buch vor uns liegen würde. So kam es zu „33 Jahre Lebenslaute“. Die ersten Ideen gingen in Richtung einer Broschüre mit 40 bis 50 Seiten. Uns wurde dann aber schnell klar, dass wir auf alle bundesweiten Aktionen zurückschauen wollen. Das würde mehr als 100 Seiten beanspruchen. Weitere Ideen wurden in das Projekt aufgenommen. Jetzt liegt das Buch in eurer Hand und es umfasst mehr als 200 Seiten.
Wir sind durch einen langen Prozess miteinander gegangen: Soll das Buch eine Dokumentation, eine Erinnerung oder eine Reflexion der Aktionen sein? Korrigieren wir Artikel mit „fehlerhaft“ erinnerten Aktionen? Soll es eine Innen- oder Außenansicht sein? Wie gehen wir mit Veränderungen der politischen Situation und Kultur im Verlauf der Jahrzehnte um? Wie gendern wir? Wir haben uns bemüht, dokumentarisch-authentisch zu sein, einen Rückblick zu wagen, in dem die subjektive Vielfalt der Menschen bei Lebenslaute und die Dokumentation der Geschichte von Lebenslaute gleichberechtigt abgebildet sind.
Zum Einstieg in die lange Geschichte der Lebenslaute findet ihr Texte der Lebenslaute-Community aus drei Jahrzehnten, die für unsere eigene (Presse-)Öffentlichkeitsarbeit verfasst wurden.
Im zweiten Kapitel dokumentieren und beschreiben wir die bundesweiten Aktionen. In fast jedem Jahr fand eine große Sommeraktion statt, in wenigen Jahren keine, in manchen sogar zwei. Teilweise haben wir die von den mehr als 30 Autor*innen verfassten Texte noch in einen politisch/sachlich/musikalischen Rahmen gestellt. In manchen Beiträgen bleiben Fragezeichen (nicht nur bei den Leser*innen, auch bei uns als Redaktionsteam). Wir haben einige Widersprüche bewusst stehen gelassen, sie nicht korrigiert. Denn Geschichte als His-Story ist in sich nie objektiv. Es entstand daraus Our-Story und wir hoffen, ihr lasst euch mit auf diese Reise in die Vergangenheit nehmen.
In einem dritten Teil beschreiben und reflektieren wir unsere Praxis und runden dieses Projekt mit einem Anhang ab, in dem unter anderem das komplette Musikprogramm aller Konzerte aufs Durchstöbern wartet.
Es ist kein Buch, welches von vorne nach hinten gelesen werden muss. Es ist auch kein Fotoband (auch wenn viele Fotos in zum Teil mäßiger Qualität enthalten sind). Vielmehr verstehen wir es als Lese-Buch im alten Sinne: Man klappt es auf, irgendwo bleibt der Blick hängen, die Finger blättern zurück, die Augen fangen an zu betrachten und zu lesen …
Es ist ein Bewegungsbuch: Es dokumentiert und bewahrt die Erfahrungen einer Gewaltfreien Aktionsgruppe, die im deutschen Sprachraum die am längsten existierende Gruppe ist, die kontinuierlich seit dreiunddreißig Jahren Zivilen Ungehorsam leistet.
Es ist ein Geschichtsbuch: Die Geschichten von 1986 bis 2018 werden erzählt von jungen Frauen und Männern, neu Hinzugekommen, langjährigen Aktivist*innen, Profi- und Laienmusiker*innen, Unterstützer*innen und Wegbegleiter*innen unterschiedlichen Alters. Jeder Artikel ist subjektiv gefärbt, entspringt Erinnerungen, privaten Archiven und Recherchen. Es mag sein, dass der eine oder andere Artikel befremdet oder bruchstückhaft wirkt. Das soll so sein. Lebenslaute ist keine homogene Gruppe.
Lebenslaute ist ein buntes Netzwerk unterschiedlicher Menschen. Wir haben nie zu Ende diskutiert, in was für einer Welt wir leben wollen. Aber wir haben angefangen, unsere Lebendigkeit und unsere Musik in unsere politischen Aktionen zu integrieren. Wir konfrontieren immer wieder unser Gegenüber mit unserer Verletzlichkeit und der unserer Instrumente. Wir sammeln Kraft im gemeinsamen Musizieren und berühren die Menschen, die wir kritisieren. Wir vertrauen auf die Kraft der Musik und nehmen doch kein Blatt vor den Mund, wenn es um Kritik an Gewalt- und Herrschaftsstrukturen sowie um Schutz der Menschenrechte geht. Unsere Aktionen richten sich gegen herrschende staatliche Strukturen wie Militär und Verfassungsschutz, gegen die Durchsetzung von Kapitalinteressen der Atom-, Rüstungs-, Gentechnik- und Kohleindustrie, gegen Kriegsvorbereitungen, Naturzerstörung und Rassismus.
Unser Vertrauen in die gewaltreduzierende Kraft der Musik und in den allgemeinen Respekt gegenüber der Musikkultur verleiht uns den Mut zur Konfrontation. Die Aufführung eines klassischen Konzerts in schwarz-weißer Konzertkleidung bleibt eine solche, auch wenn sie gleichzeitig die Blockade der Zufahrt zu einer Rüstungsfabrik ist. Indem wir gleichzeitig Musiker*innen und Ruhestörer*innen sind, irritieren wir und öffnen Augen, Herzen und Ohren für die Inhalte.
Wir wünschen euch allen einen Lesegenuss, wo auch immer ihr dieses Buch in der Hand haltet: zu Hause, im Zug, am Strand, auf einem Baumhaus im Hambacher Forst, bei einer Blockade vor einem Atomwaffenlager, in einem Archiv oder in der Pause einer Orchesterprobe.
Werdet und bleibt kreativ im Kampf für eine gerechte Welt: lebens-laut oder lebens-leise.
Das Redaktionsteam
Andreas Will, Gerd Büntzly, Hedi Sauer-Gürth, Katja Tempel und Sabine Will
Rezensionen
Wo klassische Musik zu politischem Widerstand wird
Ein neues Buch dokumentiert mit Fotos und Berichten von Zeitzeugen, wie die Initiative „Lebenslaute“ in den vergangenen 33 Jahren aktiv gewesen ist. Der Protest begann mit der Stationierung von Atomraketen.
Herford. Noch im vergangenen Jahr hat der Herforder Gerd Büntzly Schlagzeilen gemacht. Erließ sicheinmalmehr öffentlichkeitswirksam für die Besetzung einer militärischen Anlage einige Tage ins Gefängnis stecken, indem er die verhängte Geldstrafe nicht bezahlte. Büntzly ist auch langjähriger Aktivist der Initiative „Lebenslaute“, die seit 33 Jahren mit klassischer Musik an den Brennpunkten gegen „menschenfeindliche Politik“ protestiert. Lebenslaute bekam im Jahr 2014 den Aachener Friedenspreis.
Im Raum Herford-Bielefeld ist die Unterstützung für Lebenslaute in Nachwirkung des legendären Friedenskottens Hiddenhausen besonders ausgeprägt. Nun ist Büntzly Mitherausgeber des neuen Buches „Widerständige Musik an unmöglichen Orten“, die 35 größere Aktionen zivilen Ungehorsams aus der damaligen und heutigen Sicht von Zeitzeugen und mit vielen großformatigen Fotos dokumentiert. Eine beigefügte DVD aus Mitschnitten von Graswurzel.tv lässt auch die Musik lebendig werden. Die Herforder Aktivisten Winfrid Eisenberg, Barbara Rodi, Jörg Weimer und Berthold Keunecke sind Mitautoren. Eisenberg, Rodi und Pfarrer Keunecke waren von Anfang an dabei, als erstmals 1986 in Mutlangen gegen die Aufstellung der umstrittenen amerikanischen Pershing-Raketen protestiert wurde. „Wackersdorf, Gorleben, Flughafen Hamburg, Flughafen Leipzig, Innenministerium Berlin, Blockade der Waffenfabrik Heckler und Koch – es ist eine lange Widerstandsgeschichte mit Musik drin“, resümiert Berthold Keunecke. „Seit 1986 hat sich fast jedes Jahr ein Anlass gefunden, musikalisch gegen Unrecht und Zerstörung zu protestieren – in manchen Jahren waren es auch zwei. Die großen Themen sind Atomkraft, Militarismus, Rassismus, Abschiebungen, Umgang mit Flüchtlingen, Gentechnik, Braunkohleverstromung und Giftmüll“, sagt Keunecke.
In Mutlangen waren Musikerinnen und Musiker aus dem gesamten Bundesgebiet dabei. Den Bericht über diese erste Aktion schließt Frieder Dehlinger mit dem Gedanken: „Bei der Lebenslaute habe ich erfahren, dass wir wirksam und mächtig sind, wo wir uns zusammentun, uns zeigen mit unserer Lebendigkeit und Kreativität und uns öffentlich laut und klar einmischen. Es lohnt sich. Es ist schön. Es ist sinnvoll in sich. Es gibt Kraft. Es ist Leben.“
»Über 30 Jahre Lebenslaute, irre, schon sooo lange her«
Es wird noch persönlicher in den Erzählungen. So schreibt Frieder Kapp in Erinnerung an eine Aktionswoche 1987 in Heilbronn und spätere gemeinsame Aktionen eine ganze Liebesgeschichte an eine Querflötistin auf: „Liebe Katja, über 30 Jahre Lebenslaute, irre, schon sooo lange her. Was war das damals für eine Zeit? D-Mark und Pfennige, zwei Deutschlands, Raketen gerichtet auf das ,andere Deutschland’, ein grünes Telefon mit Wählscheibe und als Luxus ein langes Kabel, das sich ständig verhedderte. Menschen, die beim Zugfahren aus dem Fenster statt auf das Smartphone schauen … Mein Gott, was war ich verschossen in Dich (ganz pazifistisch). Während der Vorbereitungen auf die Konzertblockade in Mutlangen 1986 warst Du einfach da – faszinierend und schön. Zunächst nordisch unnahbar, in Politischem abgeklärt und erfahren, für mich Jüngelchen von der Schwäbischen Alb irgendwie seltsam fremd.“
Frieder Kapp beleuchtet in seinem Brief auch das Heute: „Die Pershing II ist schon lange weg. Lebenslaute lebt, ist ausgezeichnet. Andere Bedrohungen beschäftigen uns: pöbelnde, angstzerfressene Kleingeister im eigenen Land, Hilflosigkeit angesichts widerlicher Terroranschläge, wildgewordene Politclowns, und gefährliche Nationalisten, Stacheldraht in Europa und Mauerprojekte, die so bescheuert sind, dass man darüber lachen müsste, wenn sie nur eine Idee wären. Die Zeit damals war verwirrend, großartig, anstrengend, schön. Unser Engagement hoffentlich sinnvoll, die Begegnungen mit Dir unendlich kostbar. Wie sehr wünsche ich anderen und zukünftigen Mitgliedern von Lebenslaute vergleichbare Begegnungen.“ „Wir haben keine Sorge, zu überaltern“, sagt Gerd Büntzly. „Erst im letzten Jahr haben wir im Bielefelder Loom musiziert, nachdem eine Textilfabrik in Bangladesh gebrannt hat“, erinnert sich Barbara Rodi, die mit ihrer Geige auch hier dabei war.
Man muss die politische Einstellung der Autoren nicht teilen. Die Lektüre des Buches lohnt sich aber allemal als spannende, kurzweilige Dokumentation eines Stücks Zeitgeschichte mit Einblicken in viele Lebensgeschichten und Einsichten von Menschen, die damals jung waren oder heute noch jung sind.
Frank-Michael Kiel-Steinkamp
aus: Neue Westfälische Zeitung, Lokalredaktion Herford, 24. März 2020