geschichte

Revolution oder Platzregen?

Erfurter Erinnerungen an den Herbst vor 10 Jahren

| Gerta Link

Die politischen Rückblicke und Geschichtsverfälschungen zur "friedlichen Revolution" in der DDR '89 haben begonnen. Es wird so getan, als habe es zum Anschluß West keine Alternative gegeben. In der GWR wollen wir diesen Darstellungen entgegenwirken und daran erinnern, daß die damaligen AktivistInnen ganz anderes wollten. Die folgenden Erinnerungen stammen von damals Beteiligten aus dem Raum Erfurt. Die hier formulierte Verbindung christlicher und sozialistischer Ideale war nicht untypisch für die damalige Zeit. In den folgenden Ausgaben der GWR wollen wir auch die Geschichte der libertären (Graswurzel-) Bewegungen in der DDR beleuchten. (Red.)

Christliche Idealvorstellungen mit sozialistischen Ideen verbinden – waren das nicht schlechthin die idealen Intentionen einer Demokratie? Ist das nicht selbstverständlich, wenn sich Menschen mit ethischer, moralischer, kultureller Bildung um ein Miteinander bemühen, das allen Identität und bewußtes Dasein ermöglicht? Bedarf es dazu in unserem fortgeschrittenen Zeitalter einer Revolution?

Es gab eine Zeit im Osten Deutschlands, die auf diese Fragen täglich Antworten gab. Menschen mit christlichen Idealvorstellungen und sozialistischen Ideen forderten diese Antworten heraus – mit ihrem persönlichen Einsatz, mit ihrem Mut, ihren Ängsten, ihrer Intelligenz. Und die Antworten wurden immer schwieriger, problematischer, gefährlicher. Ja, es bedarf einer Revolution – einer Revolution ohne historisches Beispiel, die jedermanns Lebensqualität das Wort spricht ohne vordergründige Machtansprüche, einer Revolution ohne Blut und Tod, ohne Fenstersturz und Angstgeschrei!

Das Land sollte bleiben, die Menschen sollten bleiben und sich entfalten dürfen, Individualität sollte Platz bekommen, Gerechtigkeit sollte über allem walten. Gerechtigkeit und Ehrlichkeit – diese Begriffe dominierten die Ideen der Menschen für Veränderung in jener Zeit im Osten Deutschlands, die täglich ihre Antworten gab.

Es war eine gute Zeit, aufregend. Die war drängend unbequem. Wie konnten plötzlich die vielen Ideale, Visionen, Wünsche öffentlich werden? Wie konnte es passieren, daß sich plötzlich so viele Menschen dazu bekannten? Daß sich die Massen fanden und gemeinsam handelten? Daß sie nicht den nächstliegenden Weg gingen, den mit historischem Beispiel: Gewalt, Massenwut? Das liegt mehr als zehn Jahre zurück.

Erfurter Rückblicke

Eine kleine Gruppe von Menschen sitzt im Sommer 99 in Erfurt beisammen und resümiert: Bernd, Knopf, Harald, Carsten, Ilona, Wolfgang, Chris. Andere, die damals mitmachten, fehlen heute. Ihre Gedanken gehen in die Gespräche der Gruppe ein – sie repräsentiert jene Kraft und Zuversicht, jenen Optimismus und Aufwind, womit damals in Erfurt der Massenbewegung zu historischer Wirkung verholfen wurde. Es wird wohl niemals erschöpfend in Worte zu fassen sein, was diese Menschen damals zu bewegen vermochten. Und es werden immer nur kleine Gruppen sein, die heute darüber resümieren. Denn sie sind nicht zusammen gewachsen zu einer mächtigen Kraft. Sie finden sich heute kaum noch, haben sich verloren in den Strömen der Zeit, mitgerissen, aktiv und passiv. Ihren Erinnerungen und Erfahrungen ist weniger ein “heureka” eigen, als eher ein “quo vadis”.

Die “Offene Arbeit der Evangelischen Kirche” hat damals den Prozeß mit ausgelöst. Sie war im Zuge ihrer “ganz normalen Arbeit” mit den verschiedenen Bevölkerungsgruppen – vor allem auch mit denen ohne Lobby – da hineingewachsen. Einem Aufruf von gleichgesinnten “Freunden der Demokratie” aus Berlin folgend wurden zur Kommunalwahl im Frühjahr ’89 in Erfurt 36 der insgesamt über 70 Wahlbüros überprüft. Allein dabei wurden mehr Nein-Stimmen festgestellt, als das “Neue Deutschland” für die gesamte Stadt offiziell bekanntgab. Der “Kirchenkreis Erfurt” hat sich darauf hin entschlossen, mit der Gruppe zusammen zu gehen. Man/frau erstattete Strafanzeige wegen Wahlbetrugs. Am 40. “Jahrestag der Republik”, dem 7.10.89, bot der Kirchenkreis Erfurt einen Gottensdienst in der Kaufmannskirche an, der so stark besucht war, daß er wiederholt werden mußte. In diesem Gottesdienst wurde der Gedanke an gemeinsame friedliche Aktionen für Veränderung gestärkt. Bereits 14 Tage danach begannen die Demos, die fortan Massen vereinten und das Gefühl der Kraft der Menge vermittelten. Friedensgebete brachten allwöchentlich Gleichgesinnte zusammen. Die Kraft wuchs: am 4. Dezember 89 war Erfurt die erste Stadt in der DDR, in der die Bezirkszentrale des “Ministeriums für Staatssicherheit” (MfS) besetzt wurde. Abhöranlagen wurden demontiert, Akten konfisziert, Waffen gesichert. In der Folge wurden 1900 Leute der Stasi entlassen. Erfurt machte von sich reden. Die Basis war eine Gruppe von ChristInnen und Nicht-ChristInnen, die sich offen engagierte. Schon zu DDR-Zeiten waren diese Leute für ihre kritisch-aufrichtigen Mitspracheversuche bekannt und nicht immer beliebt.

“Reinste Anarchie”

Der “Herbst 89” – wie sie heute zusammenfassend sagen – brachte folgerichtig das Mitwirken der Gruppe im “Bürgerkomitee” der Stadt, im “Bürgerrat”, in “Kommissionen des Parlaments”, am “Runden Tisch”. Die Auflösung der Stasi und die Mitsprache in der Kommunalpolitik waren erste Schritte aus der Vision in die Zukunft.

Aus der kleinen Erfurter Gesprächsgruppe meint eine Person dazu: “Es gab keinen Plan, es wurde getan, wie es sich ergab – man war zur Stelle, bereit, ebnete Wege. Es gab immer Überraschungen, immer nur ganz kurzfristig wurde klar, wie alles läuft. Entdeckungen, Enthüllungen überraschten, entsetzten. Es gab Stimmungen zwischen Optimismus und Resignation. Die Wahl im März 90 brachte Ernüchterung und die Einsicht, daß manches, was wir wollten, überhaupt nicht gehen würde.”

Eine andere Person: “Unsere Ziele waren viel älter als zehn Jahre. Wir wollten unser Leben darauf ausrichten, mit dieser Welt zurechtzukommen, auch mit der DDR. Erfahrungen mit Einmischung hatten wir reichlich. Wir verhandelten beispielsweise in Umwelt-, Demokratie- und Friedensfragen mit den ‘Offiziellen’ der DDR bis auf Regierungsebene. Wir wollten Mitspracherecht und weg von der Scheindemokratie. Ein gehörter Vortrag Heino Falckes in Görlitz über “Verbesserlichen Sozialismus” bestärkte uns. Wir haben darauf gesetzt, dieses Land zu verändern. Wir haben Menschen Kraft gegeben, Möglichkeiten der Selbstverwirklichung aufgezeigt, haben ihnen Themen eröffnet und ihre Interessen an die Verantwortlichen herangetragen. Wir haben uns ziemlich weit vorgewagt. Niemand sonst hat diese Arbeit für die Menschen geleistet. Deswegen waren wir mutig genug, die Wende direkt mitzumachen.”

Bis Oktober 89 habe sich kaum jemand in der Gesprächsgruppe vorstellen können, daß die DDR verschwindet. Gerechtigkeit, Mitsprache seien das Ziel gewesen. Sie wollten das Machtmonopol der SED brechen; sie wollten einen Sozialismus, in dem sich jede/r aktiv beteiligen kann. “Zurückgekehrt nach längerer Abwesenheit erfuhr ich, was hier vorgegangen war. Begeisterung und Angst mischten sich in mir. Die Offene Arbeit erlebte ich als Beraterin und Helferin. Die tollen Tage habe ich nicht miterlebt.”

Eine andere Person direkt darauf: “Es waren eigentlich keine tollen Tage, es war viel mit Angst und Unsicherheit besetzt.” Anfangs habe man/frau Angst vor der DDR gehabt, dann, als es sich mit dem Westen vermischte, vor dummen Leuten, die an den Demos teilnahmen und dummes Zeug grölten. “Auf der Demo mit Helmut Kohl verteilten wir uns in der Menge und warnten: ‘Laßt euch nicht einkaufen für einen Appel und ein Ei!’ Es war eine aggressive Stimmung.”

“Die Zweitversion des Satzes von ‘Wir sind das Volk’, nämlich ‘Wir sind ein Volk’, haben wir mit Bedenken gehört. Bis zur Volkskammerwahl waren wir immer noch optimistisch, daß etwas losgehen würde. Die Zeit der Runden Tische, wo die alten und die neue Macht zusammensaß, war die kurze Zeit eines richtigen Aufbruchs. Es war eine tolle Zeit, als das Volk wirklich als Souverän erschien. Einige Zeit nach der Volkskammerwahl jeoch kam die Ernüchterung, daß andere Kräfte mächtiger waren als wir.”

Die Intellektuellen-Demo am 4.11.89 in Berlin hatte jemand aus der Gesprächsgruppe besucht. Die sei wunderbar gewesen. Doch: “Als dann die Grenzen aufgingen, habe ich gesagt: das war es, ich hatte das Gefühl, es ist gelaufen.”

Von dem “Interrims-Parlament” in Erfurt erzählt eine andere Person: “Von allen existierenden Gruppen des Bürgerkomitees waren fünf Vertreter darin. Das alte Parlament wurde abgesetzt. In der Michaeliskirche gab es ein ‘Gorbatschow-Zimmer’. Hunderte von Leuten kamen in die Stadtmission. Da wurde abends festgelegt, daß am nächsten Tag das Stadtparlament aufgelöst wird. Und dann haben wir uns in den Stadtverordneten-Sitzungssaal gesetzt – reinste Anarchie! Dann gingen Wortgefechte los: Wie geht es weiter? In dem Interrims-Parlament konnte man lernen, was parlamentarische Demokratie kann oder nicht kann. Dann kamen ‘geschicktere Leute’, ich bin ab April 90 nicht mehr hingegangen. Ich hatte keine Kraft mehr, hatte immer das Gefühl, hinterher zu hinken. Dabei war ich mittendrin. Ich war von der Stadtmission extra freigestellt.”

Auch vom Konsumrausch ist die Rede: “Im ersten Jahr habe ich noch Schokolade gestapelt und Pfirsiche eingelagert.” Politisch habe es großartige Höhepunkte gegeben: “Vor tausenden Menschen auf dem Domplatz zu reden! Herausforderung und Emotionen trieben mich an, ohne die Zeit zu haben darauf zu schauen, was da mit mir abging. Ich lebte etwas aus, was als unbekannte Energie in mir war: Wolf Biermann auf den Domplatz zu holen, in die Andreasstraße hineinzugehen und Stasi-Tore zu öffnen. Die eigenen Stasi-Leute haben da mitgemacht.”

Als in Berlin am 15. Januar 90 die “Nasi” (Nachfolgeorganisation der Stasi) gegründet werden sollte, seien plötzlich alle Taxis der Stadt um den Palast der Republik gefahren und hätten gehupt. Und in Erfurt? “Als ein Regierungsvertreter im Landtag ein Vier-Augen-Gespräch mit mir führte, um meine Sympathie zu gewinnen, sagte ich ihm: ‘Ihre Zeit ist vorbei!'”

Eine andere Person aus der Gesprächsgruppe: “Die schönste Zeit war, als das Land regierungslos war, als einfach nur engagierte Menschen handelten. Aber viele konnten damit gar nicht umgehen, das Vorbild war weg.”

Nach der Euphorie

Was war es nun: Revolution oder Platzregen? “Wir waren stolz. Aber das Resultat hat nicht unseren Vorstellungen entsprochen.” Es sei alles ziemlich leicht gegangen: “Hätten wir das vorher gewußt, wäre es längst passiert. Die viele Angst war gar nicht nötig. Im Herbst ’89 habe ich einen Themenabend über Revolutionsgeschichte gehalten. Ich habe damals die eigene Zeit nicht einordnen können. Es lief in einer solchen Geschwindigkeit ab, die konnte man gar nicht fassen. Es war ein großer Moment der Bewegung, positiver Bewegung. Die Zeit war spannend. Es war mehr drin.”

Da widerspricht jemand: “Es war nicht mehr drin. Mehr war nicht leistbar. Es war ein riesiges Arbeitsfeld zu bewältigen. Leute sind auch aus Angst vom Bürgerkomitee abgesprungen.”

Manchmal sei es auch kritisch geworden. Da sei die Gewaltfreiheit fast den Bach runter gegangen. Die Gruppe habe manche bremsen müssen. Emporkömmlinge hätten andere Ziele gehabt: den Wechsel von einem System ins andere. “Tief enttäuscht nach der Wahl 90 mußten wir feststellen, daß es nicht dahin ging, wohin wir wollten, nicht zum verbesserten Sozialismus. Ich habe die Enttäuschung überwunden, als ich erkannte, daß die Perspektive eine bessere Entwicklung zuläßt. Das unerschütterlich Positive ist, daß es Menschen geschafft haben, einen Geheimdienst aufzulösen, Grenzen zu überschreiten, sich zu trauen.” Das dürfte auch anderen Geheimdiensten zu denken geben.

Nach der März-Wahl sei den Aktiven die Gestaltungskraft entzogen worden: “Es haben andere die Sachen geregelt und nicht mehr die, die mit mir gemeinsam engagiert waren in dieser Stadt. Ich akzeptiere das, weil ich Realist bin. Mit meinen Erfahrungen aus einer zu engen Gesellschaft und einer freizügigen, offenen, unverbindlichen Gesellschaft kann ich in beiden das Negative sehen. Ich warte darauf, daß es wieder losgeht.”

Enttäuschend sei gewesen, daß es plötzlich hieß: “Ihr müßt es so machen und wir haben es uns gefallen lassen.” Aber, so eine andere Person: “Unsere Kraft hat nicht mehr ausgereicht, um auf die neuen Verhältnisse immer aktiv einwirken zu können. Es waren viele auf der Straße, weil wir da waren. Ein Teilziel war erreicht, dann war kein Interesse mehr da. Als es vorbei war, war ich nur noch ein einfacher Kerl, kam überhaupt nicht mehr ins Rathaus rein. Rathaus besetzen hat seine Zeit, Stasi auflösen hat seine Zeit!”

Einer anderen Person schien es zunächst wie ein Traum, wie eine vollendete Revolution. Nach 1990 aber kam ein neues System: “Daran hatten wir uns alle zu gewöhnen. Manche sind aus diesem Gewöhnungsprozeß nicht mehr herausgekommen. Anfang der 90er Jahre wurden die politisch Aktiven immer weniger, bis heute. Ich wünschte mir nochmal eine solche Situation, auf die wir uns besser vorbereiten könnten. Heute ist es anders schlecht. Man bewegt heute wenig, auch wenn man noch so aktiv ist. Die Zeit dieses Systems wird auch mal zuende sein.”

Alles, was einst hoffnungsvoll gewesen sei, sei mittlerweile abgeschafft worden. Nur vier Stasi-Leute aus Erfurt hätten sich schuldig bekannt. Es entbrennt eine Kontroverse in der Gesprächsgruppe, ob persönliche Freiheit erkämpft worden sei. Einer Stimme, die das bejaht, wird sofort entgegen gesetzt: “Wir sind heute nicht frei, zu entscheiden! Freiheit ist immer relativ!”

Eine andere Person über die persönliche Situation: “Ich habe nur eine Zehnklassen-Schulbildung, nicht studiert, war nicht in der NVA (Nationale Volksarmee, Red.), aber ich konnte in der DDR trotzdem bestehen. Meine Verweigerungen in der DDR treffen mich heute schlimm. Ich müßte aufholen, was gar nicht zu schaffen ist und was ich wahrscheinlich auch gar nicht will. Ich würde mich heute nicht mehr so engagieren. Ich habe heute das Empfinden, dafür bestraft zu werden. Ich komme jetzt schlecht zurecht, habe auch das Rückgrat nicht mehr.”

In der DDR habe aus Mangel immer Kraft gezogen werden können. Heute störten nur die grellen Farben: “In der DDR habe ich so gelebt, wie ich überall lebe. Mängel regen Kreativität an. Der Kontrast zum Überangebot ist in meinem Leben wichtig. Das Überangebot finde ich pervers.” Und Leute, mit denen man/frau auf der Straße stand, stehen plötzlich in der Regierung.

Eine andere Person meint: “In DDR-Zeiten war es einfacher, weil ich streiten konnte. Himmlische Formen auf die Erde bringen, nicht ins Jenseits; Menschen aufrichten, mit Zivilcourage durchs Leben gehen – dafür setze ich mich damals wie heute ein. Ich wünsche mir einen gesellschaftlichen Aufschwung, bei dem sich Menschen engagieren. Für mich kann ich sagen, daß es nicht umsonst war, wenn es auch nicht das brachte, was ich wollte. Ich muß in der ‘Offenen Arbeit Erfurt’ heute genauso politisch bewußt denken, um die Gesellschaft grundlegend zu hinterfragen.”

Eine gerechte Gesellschaft sei damals wie heute das Anliegen gewesen. Die Aktiven von ’89 hätten heute ihre Nische, würden toleriert. Aber je mehr sich die Widersprüche verschärften, desto schärfer würde die Reaktion, das sei heute wie damals so. Und eine Person aus dem Gesprächskreis formuliert das Schlußwort: “Wir haben Geschichte geschrieben. Wir dürfen hoffen, daß andere daraus etwas übertragen und mitnehmen können.”

Literatur

A. Dornheim: Politischer Umbruch in Erfurt 1989/90, Böhlau Verlag, Weimar, Köln, Wien 1995.

Im "Telegraph. Ostdeutsche Quartalsschrift", Nr. 1/99, gibt es einen Schwerpunkt "10 Jahre friedliche Revolution", zu bestellen: Prenzlberg Dokumentation e.V., Schliemannstr. 23, 10437 Berlin, Preis 6 DM.