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Die afghanische Tragödie – Teil II

Fortsetzung aus GWR 263

| Christian Sigrist

“Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding.
Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken.”
(Das Kapital, Bd. I, MEW 23:85)

Osama bin Laden, 1957 in Djidda als 17. Kind des aus dem Yemen stammenden größten Bauunternehmers Saudi-Arabiens geboren, hat eine normale schulische und universitäre Ausbildung durchlaufen und seine fachliche Qualifikation in der Firma seines Vaters erworben. Sein religiöses Engagement wurde möglicherweise durch die königlichen Bauaufträge an den heiligen Stätten, welche die Bin Laden Group erhalten hatte, gesteigert. In das Great Game um Afghanistan trat er nach der sowjetischen Besetzung des Landes im Auftrag des saudischen Geheimdienstes ein. Seine Aufgabe war die Organisation der Unterbringung und militärischen Ausbildung arabischer Freiwilliger in Pakistan. Nachdem er eine beträchtliche saudi-arabische Spende für die Mujaheddin übergeben hatte, richtete er zunächst ein Büro in Lahore ein; nach einiger Zeit verlagerte er den Schwerpunkt seiner Tätigkeit nach Peshawar. Während der 80er Jahre pendelte er zwischen Pakistan und Saudi-Arabien, mit dessen Geheimdienstchef Prinz Turki al Faizal er freundschaftlich verbunden war. 1984 lernte er den palästinensischen Islamisten Dr. Abdallah Azzaf kennen, der ihn in die Ideologie des islamischen Internationalismus einführte und ihn darin bestärkte, die Mujaheddin nicht nur finanziell und mit seinem bautechnischen Know-how zu unterstützen, sondern sich auch persönlich an der Front zu engagieren (nach einigen Informanten soll er dabei auch leicht verwundet worden sein).

Durch dieses mujahed-Engagement, aber auch durch seine Freigebigkeit, erlangte er Ansehen unter den Afghanen; besonders tatkräftig unterstützte er seinen Freund Hekmatyar bei dessen Infrastrukturprojekten; insbesondere beim Bau einer Umgehungsstraße von Jalalabad nach Kabul. Nach dem tödlichen Attentat auf Dr. ‘Azzam in Peshawar (1989) sah er sich unter der Verpflichtung, dessen Vision weiter zu verfolgen. Mit dieser Disposition kehrte er 1989 nach Saudi-Arabien zurück. Die Korruption und Dekadenz am saudischen Hof und in den privilegierten Milieus fanden seine starke Mißbilligung, was ihn in seinen eigenen Kreisen isolierte. Der Einmarsch von ca. 500 000 ausländischen Soldaten und Soldatinnen (!) während des zweiten Golfkriegs trugen entscheidend zu seiner Entfremdung vom politischen System Saudi-Arabiens bei.

In diesem Zusammenhang muß auf die Widersprüche dieses Systems eingegangen werden: Die saudischen Herrscher verdanken ihre Legitimation einer Usurpation: sie hatten 1924/25 die Haschemiten als traditionelle Hüter der heiligen Stätten verdrängt und waren nicht einmal davor zurückgeschreckt, die Grabmäler der Haschemiten zu zerstören. Dabei kam der saudischen Dynastie ihre bereits vorher bestehende Allianz mit den Nachfolgern des Begründers des Wahhabismus, einer besonders rigiden Observanz des sunnitischen Islam, zugute. Muhammed ben Abd al-Wahhab war um 1745 in die von den beduinischen Saudis kontrollierte Oase Dir ‘iyyah geflüchtet. Der mit Muhammad ben Saud geschlossene Freundschaftspakt wurde bis in die Gegenwart von den Linien beider Patriarchen fortgeführt. Als folgenreich erweist sich dabei bis heute die prinzipielle Innovationsfeindlichkeit der von Wahhab vertretenen Lehre. Mit der Entdeckung und Ausbeutung der Ölquellen im saudischen Herrschaftsbereich bekam das System eine expansive ökonomische Basis. Obwohl mit der 1988 abgeschlossenen völligen Übernahme aller ARAMCO-Anteile die Souveränität in diesem zentralen Sektor durchgesetzt wurde, wurde die Abhängigkeit von den US-Ölfirmen nicht überwunden. Darüber hinaus konnte nicht zuletzt wegen der religiösen Fixierung der ökonomische Reichtum nicht in eigenständige Modernisierungskonzepte umgesetzt werden. Es blieb bei der weitgehenden Angleichung an westliche Konsummodelle, eingerahmt von einer (lange Zeit) großzügigen Wohlfahrtspolitik für die eigenen Staatsbürger (i.U. zu den ausländischen Hilfskräften).

Dieser partiellen Modernisierung steht eine erstarrte traditionalistische Sozialordnung gegenüber, die insbesondere die Frauen von weiten Bereichen der Öffentlichkeit ausschließt. Die Doppelmoral der saudischen Oberschicht, die einerseits im Innern eine rigide Moral durchsetzt, deren Angehörige sich aber im Ausland Ausschweifungen leisten, hat zu einer vielfältigen, dauerhaften Verstimmung auch innerhalb der Staatsbürgerkategorie geführt. Es kam zu Protesten und selbst in Mekka zu gewalttätigen Revolten mit Hunderten von Toten. 1979 mußte sogar eine französische Spezialeinheit, deren Angehörige vor dem Einsatz schnell zum Islam konvertiert waren, aushelfen.

Als Ausweg zur Ruhigstellung der internen Opposition wurden der Export des Wahhabismus und die Finanzierung islamistischer Organisationen gewählt. Dabei erwies sich das international verflochtene saudi-arabische Finanzkapital, bei dem die Familie Mahfuz eine führende Rolle spielt, als ausgesprochen nützlich.

Bin Laden gab sich mit dieser Alibi-Funktion der finanziellen Unterstützung des Islamismus nicht zufrieden. Sein Beharren auf seinen zwei Ausgangsforderungen, der Befreiung Palästinas und den Abzug der Amerikaner aus dem Land der heiligen Stätten, das sie durch ihre Präsenz entweihten, und seine Kritik am korrupten System führten 1994 zum Bruch mit dem offiziellen System. Dies bedeutete aber weder, wie oft behauptet, den tatsächlichen Ausschluß aus dem Familienverband bin Laden noch das Ende der Kooperation mit dem Conglomerate Bin Laden Group. Vor allem nutzte er die Geschäftsbeziehungen mit der Mahfuz-Gruppe, deren zeitweiliger Chef Khalid Mahfuz sein Schwager (der Bruder einer seiner drei Frauen) ist, zur Finanzierung seiner organisatorischen Projekte, die u.a. das Al-Qaida-Netzwerk umfassen. Dieser finanzielle Hintergrund erlaubte es bin Laden, im Unterschied zu den selbstmörderischen Strategien des ägyptischen jihad und der palästinensischen Widerstandsgruppen, eine “effektivere”, d.h. mit größeren Verlusten für den US-Imperialismus verbundene, Strategie zu konzipieren. Zu den zwei Ausgangsforderungen fügte bin Laden eine umfassendere hinzu: die weltweite Durchsetzung des Islam, was einen jihad gegen die USA voraussetzte. Diese Option mag als megalomane Vision erscheinen. Zu bedenken ist aber, daß der Islam in den letzten Jahrzehnten nicht nur unter den Afroamerikanern, sondern auch in Lateinamerika viele Anhänger gefunden hat, ganz zu schweigen von der kontinuierlichen Ausbreitung in Afrika. Ganz allgemein ist hier die Bedeutung der Petrodollars für die Missionierungserfolge zu beachten. Mit ihnen werden auch die Pilgerreisen nach Mekka finanziert, die für viele Menschen in den verarmten Ländern die einzige legale und zugleich kostenlose Möglichkeit einer Auslandsreise darstellt.

Aus dem Afghanistan-Beauftragten des saudischen Königshauses und einem zwangsläufig mit direkten oder indirekten Agenten des US-Imperialismus kooperierenden Organisator des Kampfes für die Befreiung Afghanistans von der sowjetischen Besatzung, war im Gefolge des zweiten Golfkriegs ein entschiedener Antiimperialist geworden. Bin Laden kehrte 1991 nach Afghanistan zurück, von wo aus er in den Sudan ging, gefolgt von 480 Afghanistankämpfern. Außer dem Abzug der Amerikaner von der arabischen Halbinsel gehörte auch die Bekämpfung der US-Interventionsprojekte in Somalia zu seinen Zielen. Ende 1992 wird in Aden ein Hotel, in dem US-Soldaten untergebracht wurden, Ziel eines Bombenanschlags. Am 26. Februar 1993 wird das World Trade Center in New York Ziel eines Sprengstoffanschlags, mit sechs Toten und zahlreichen Verletzten. Die Attentäter arabischer und balutschischer Herkunft werden zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt.

Bin Laden versuchte auch eine Destabilisierung Libyens, dessen von Gaddafi geschaffenes politisches System als eine pseudo-islamische Konkurrenz zu bekämpfen war. Das subversive Projekt scheiterte, aber nebenbei wurde in der libyschen Syrte von bin Laden und seinen Komplizen das deutsche Agenten-Ehepaar Becker (das angeblich im Auftrag des Bundesamts für Verfassungsschutz [!] unterwegs war) ermordet. Vier Jahre später stellte Libyen (noch vor den USA) den ersten Interpol-Haftbefehl aus, nachdem von deutscher Seite nichts unternommen worden war.

Vom Sudan aus versuchte bin Laden die verschiedenen fundamentalistischen Gruppierungen, die insbesondere in Ägypten durch die staatliche Repression stark betroffen waren, ideologisch zu vereinheitlichen und gleichzeitig auf dezentrale Organisationsformen auszurichten. Im Sudan verbündete er sich mit dem Fundamentalisten Turabi, was ihm die Möglichkeit gab, Trainingslager für arabische Militante, insbesondere mit Afghanistanerfahrung, einzurichten. Zugleich werden in Afghanistan solche Lager weitergeführt.

Der Geschäftsmann bin Laden, der angeblich aus dem Familienkonzernvermögen 300 Mio $ erhalten haben soll, betätigte sich bis zu seiner Ausweisung aus dem Sudan im Jahr 1996, die auf amerikanischen Druck erfolgte, als Bankier und Bauunternehmer und vergrößerte so seine Möglichkeiten, islamische Wohltätigkeits- und militante Solidaritätsvereinigungen auf internationalem Niveau zu unterstützen. Seine Reisen sollen ihn bis nach Mindanao geführt haben. Mehrere Trainingslager wurden 1995 im Yemen eingerichtet. Im gleichen Jahr scheiterte ein Attentatsversuch gegen den ägyptischen Präsidenten während seines Aufenthalts in Addis Abeba. Auch mit dieser Aktion wird bin Laden in Verbindung gebracht.

Im August 1995 kündigt bin Laden in einem offenen Brief an König Fahd Guerillaaktionen gegen US-Streitkräfte in Saudi-Arabien an. Im August 1995 werden fünf Amerikaner und zwei Inder bei einem Anschlag auf ein Gebäude der saudischen Nationalgarde getötet. Im Mai 1996 fügt sich bin Laden der sudanischen Ausweisungsorder und kehrt nach Afghanistan zurück. Am 25. Juni werden bei einem Lastwagenbombenattentat auf eine US-Stützpunkt in Dharan 19 US-Militärs getötet.

Am 23. August 1996 veröffentlicht bin Laden eine Erklärung, in der die USA zur Räumung der arabischen Halbinsel aufgefordert werden. Die Befreiung der heiligen Stätten und der Sturz der saudischen Monarchie sind die weiteren Forderungen dieser als “Kriegserklärung” an die USA verstandenen Proklamation.

In Afghanistan trifft bin Laden auf eine günstige Konstellation: Die Taliban haben mit Unterstützung des pakistanischen Geheimdienstes und des pakistanischen Militärs 1996 Kabul eingenommen und setzen ihren Vormarsch nach Nord-Afghanistan fort. Anstelle der hinfällig gewordenen Allianz mit Hekmatyar, der sich in den Iran zurückgezogen hat, bieten sich die neuen Machthaber als Verbündete an. Er erhält direkten Zugang zum Führer der Taliban, Mullah Omar, der bei seinen Gefolgsleuten zwar Ansehen genießt, aber schon wegen seiner Öffentlichkeitsscheu nicht über mobilisationsfähige Popularität verfügt. Dieses Charisma-Vakuum füllt der arabische Führer. Dabei kann offen bleiben, ob er sich tatsächlich mit 50 Mio $ eingekauft hat. Jedenfalls richtet sich bin Laden in Kandahar, in der Nähe Mullah Omars, eine Residenz ein.. Zu beachten bleibt, daß zu diesem Zeitpunkt die Taliban gute Beziehungen mit Saudi-Arabien unterhalten, das dem Regime ebenso wie die Vereinigten Arabischen Emirate und Pakistan erhebliche materielle Unterstützung zukommen läßt.

Zugleich ist das Regime immer noch in Verhandlungen mit Unocal über die projektierten Transitpipelines. Parallel dazu erhalten die Taliban politische Protektion durch einflußreiche Kreise in den USA, die v.a. durch eine angeheiratete Nichte des früheren CIA-Chefs Richard Helms, Laila Helms, koordiniert werden. Diese Frau afghanischer Herkunft hatte schon die Mujaheddin unterstützt.

Zum Ausgleich der weitgehenden Isolierung des Regimes auf der offiziellen internationalen Staaten-ebene verschafft bin Laden den Taliban weltweite Kooperationsmöglichkeiten mit islamistischen Organisationen, insbesondere Stiftungen. Im Südosten des Landes, in den Provinzen Ningahar und Khost, baut bin Laden die Trainingslager, u.a. auch für Kashmir-Mujaheddin, aus.

Am 7. August 1998 verändert sich die politische Lage schlagartig: Gleichzeitig verwüsten Explosionen die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam (213 bzw. 11 Tote). Bin Laden wurde wie schon bei früheren Attentaten von der US-Regierung der Urheberschaft beschuldigt. Die Schwere der Attentate setzte die bisher eher zögerliche US-Administration sicherlich unter Handlungsdruck. Dieser Reaktionszwang kam aber auch Präsident Clinton gelegen, um von seiner Lewinsky-Misere abzulenken. Am 20 August 1998 hat Clinton mit cruise-missiles einen Versuch unternommen, bin Laden zu töten; die cruise-missiles waren in der Tat auf Ausbildungslager von Al Qaida in den Seitentälern des Khoster Umlands gerichtet. Bin Laden hielt sich zu dieser Zeit dort auf, aber er entkam dem Anschlag. 18 Tote waren zu beklagen; in erster Linie einheimische Pashtunen und Pakistani. Einige missiles schlugen auch auf pakistanischem Grenzgebiet ein. US-Verteidigungs-Staatssekretär W. S. Cohen schloß weitere Militäranschläge nicht aus. Jeder Ort in Afghanistan, an dem Terroristen sich aufhielten, sollte Ziel eines solchen Angriffs sein können, und zwar ohne vorherige Ankündigung. Diese Ankündigung richtete sich ausdrücklich auch an UN-Organisationen und internationale NRO.

Im Zusammenhang mit den missiles-Angriffen auf die “Unterstände von Khost” muß die übliche Berichterstattung korrigiert werden. Sie waren nicht das Werk bin Ladens; sie wurden von ihm nur genutzt. 1991 habe ich mich nach der Kapitulation der Khoster Garnision in mehreren dieser Stollen aufgehalten. In den Schluchten der Bergrücken, die von der pakistanischen Grenze in Richtung Khost verliefen, hatten die Mujaheddin in den 80er Jahren eine Vielzahl von Stollen, die als Schutz- und Sammelpunkte (merkez) dienten, in die Bergwände getrieben. Als gute Mineure hatten die lokalen pashtunischen Stämme ihre Karez-Bautechniken (es handelt sich dabei um unterirdische Wasserkanäle) für militärische Zwecke eingesetzt. Dies war notwendig geworden, weil die ersten Versuche, auf den Bergrücken an das Rollfeld von Khost, über das Garnison und Stadt von den Kabuler Truppen versorgt wurden, vorzurücken, wegen der starken Bombenangriffe aufgegeben werden mußten. Ostern 1991 führte diese Taktik, Stollen für Stollen an das Rollfeld vorzurücken und die Luftversorgung Khosts zu unterbinden (am Schluß standen über 60 mehr oder weniger beschädigte Transportmaschinen auf dem Rollfeld), zur Kapitulation der Khoster Garnison.

Bin Ladens Lehrer, Dr. ‘Azzam, hat in den 80er Jahren einige arabische Freiwillige in diesen Camps untergebracht; bin Laden war damals im Khoster Becken völlig unbekannt. Die Eroberung von Khost war das Werk der lokalen Stämme (Gurbaz, Tani, Zadran u.a.), auch Hekmatyar ließ sich erst nach dem Sieg dort blicken. Bin Laden hat allerdings in den 90er Jahren diese Guerilla-Stollen als Schulungsanlagen genutzt, obwohl die lokale Bevölkerung dies nur widerwillig duldete.

Die Attacke auf die Khoster Ausbildungslager ist typisch für die Abstrafung der afghanischen Bevölkerung für die Duldung der Anwesenheit von als Terroristen gesuchten Fremden. Dieses summarische Verfahren haben die USA bis in die unmittelbare Gegenwart angewendet. Darin drückt sich eine Menschenverachtung aus, die sich mit dem Dünkel hochtechnologischer Überlegenheit paart und den Menschen “rückständiger Regionen” die Position der “prometheischen Scham” zuweist.

Der August 1998 markiert die entscheidende Zäsur nicht nur in der Verfolgung bin Ladens durch die USA, sondern auch in deren Beziehungen zu den Taliban. Die USA schienen die bisherigen Provokationen nicht dramatisieren zu wollen. Die Anschläge auf die US-Botschaften erforderten eine Reaktion. Der US-Präsident schlug nun aber nicht den Rechtsweg ein, sondern schlug militärisch und obendrein fehlerhaft zurück. Die unzureichende Vorbereitung und Durchführung dieser Strafaktion ebenso wie jener im Sudan, wo als Repressalie eine pharmazeutische Fabrik vernichtet wurde, die nicht, wie behauptet, Kampfstoffe herstellte, ist allerdings auch der erwähnten Ablenkungsfunktion (Lewinsky-Misere), die gerade zu diesem Zeitpunkt besonders erwünscht war, zuzuschreiben.

Die Blindwütigkeit der beiden Vergeltungsaktionen kontrastiert auffällig mit der eher schleppenden geheimdienstlichen Aufklärung und daraus folgender juristischer Strafverfahren. So hat die CIA 1995 das Angebot des sudanesischen Geheimdienstes verschmäht, ihr zwei Verdächtige aus dem Umkreis von bin Laden zu überstellen. Die USA tolerierten auch, daß der saudische Geheimdienst ihre Agenten nicht an der Aufklärung der Anschläge mitwirken ließ. Erst am 8. Juni 1998 hat die Grand Jury von New York eine Anklage gegen bin Laden wegen der Anschläge auf amerikanische Militäranlagen erhoben; also fast drei Monate später als die libysche Interpolfahndung.

Was sind die Gründe für diese Zögerlichkeit?

  1. Das Fortbestehen der Achse Washington – Islamabad – Kandahar (Kabul) – Riad;
  2. Die objektiven Verflechtungen saudi-arabischen Kapitals mit US-Kapital, insbesondere aber die Beziehungen zum texanischen Ölkapital.

Zu 1: Zentral ist die auch nach 1998 fortgesetzte Unterstützung der Taliban durch Pakistans Geheimdienst und Armee. Deren unmittelbare militärische Unterstützung durch Angehörige der Streitkräfte wird noch im Spätherbst 2001 sichtbar, als pakistanische Flugzeuge mehrere hundert pakistanische Militärs aus Nordafghanistan nach Pakistan repatriieren. Der pakistanische Geheimdienst ist teilweise von Saudi-Arabien finanziert worden; der Gönner bin Ladens und der Taliban, der saudische Geheimdienstchef Prinz Turki, wird erst im August 2001 von seiner Position entfernt. Pakistans Regime bleibt auch nah dem Putsch von Generalstabschef Muzharaff in der Gunst Washingtons. Die USA sind trotz ihrer Vorbehalte wegen der Rolle, die bin Laden in Afghanistan spielt, nach wie vor an den Pipeline-Projekten interessiert, auch wenn sich Unocal Ende 1998 wegen der hinhaltenden Verhandlungstaktik fürs erste aus dem Projekt zurückzieht. Immerhin unterzeichnen Pakistan, Turkmenistan und die Taliban am 29. April 1999 ein Abkommen zur Wiederbelebung des Gaspipeline-Projekts. Vor allem aber müssen die USA auf die Taliban setzen, weil deren Rivalen, die Nordallianz, die von Rußland und Uzbekistan abhängig sind, als Verbündete zunächst ausscheiden. Zugleich besteht die Hoffnung, daß die allmählich intensivierten Aufforderungen an die Taliban, bin Laden auszuliefern, bei Teilen der Taliban, insbesondere bei Außenminister Muttawakil, auf Gesprächsbereitschaft stoßen.

Allerdings gibt es ein soziokulturelles Problem: das Pashtunwali verbietet die Auslieferung eines Mannes, dem das Gastrecht gewährt wurde. Auch nach dem 11. September bestehen die Taliban auf der Vorlage von Beweisen für die von bin Laden bestrittene Urheberschaft bei den Anschlägen auf die beiden US-Botschaften und andere militärische Objekte der USA (am 12. Oktober 2000 war noch das Selbstmordattentat auf den US-Zerstörer Cole in Aden hinzugekommen). Die USA weigern sich aber, diese Beweise vorzulegen. In dieser Sackgasse bleibt als einziger Ausweg, daß die Taliban bin Laden zur Ausreise zwingen. Über diese Fragen wird zwischen den USA und den Taliban bis in den August 2001 verhandelt.

Zu 2: Zu diesem Komplex wird nach dem 11. September von Brisard und Dasquié eine in vieler Hinsicht sensationell wirkende Analyse und Dokumentation vorgelegt. Sie weisen nicht nur auf die wichtige Rolle von Laila Helms und die überraschende Rolle Libyens in der “Sache bin Laden” hin. Sie dokumentieren v.a. die saudisch-amerikanischen ökonomischen Verflechtungen, durch die eine heute peinlich wirkende Konvergenz der Familien bin Laden, Mahfuz und der Familie Bush mit einiger Plausibilität nachgewiesen wird.

Die 1931 von Moh. Awad Binladen gegründete Saudi Binladen Group entwickelte sich zunächst, nicht zuletzt durch die Aufträge für den Ausbau der heiligen Stätten und für den Bau von Palästen, zum führenden Bauunternehmen des Landes. In den letzten Jahrzehnten hat sich dieser Konzern diversifiziert und Industrieunternehmen im Nahen Osten, aber auch in westlichen Ländern (bis hin zu einer Kristallwarenfabrik in Westdeutschland) gegründet. Auch in den USA verfolgt er industrielle Interessen. Darüber hinaus werden Printmedien von dieser Gruppe unterhalten, mit dem Schwerpunkt auf islamistischen Publikationen. Zu den Aktivitäten gehören nicht zuletzt Zuwendungen an islamische-caritative Organisationen in den westlichen Ländern. Die Büros von Hazar Publications unterstützen offen Osama bin Laden.

1950 war die National Commercial Bank von Salim bin Mahfuz gegründet worden. Dessen Nachfolge trat 1994 dessen Sohn Khalid an; Osama bin Laden ist aber mit einer seiner Schwestern verheiratet. Auch diese auf das Bankgeschäft spezialisierte Firma diversifizierte sich; so gehört(e) ihr in Deutschland die Multiport Recycling; nicht zuletzt war sie an der Bin Laden Telecommunication Corporation beteiligt. Von besonderer Bedeutung war die International Development Foundation, einer islamischen Wohltätigkeitsorganisation, an der auch Osama bin Laden beteiligt war, und mit deren Hilfe dieser einen Teil seiner politische Aktivitäten finanzierte. Mit diesem betrieb Mahfuz auch die Saudi Sudanese Bank. Khalid bin Mahfuz geriet in die Schlagzeilen, als die 1972 gegründete Bank of Credit and Commerce International (BCCI), die vor allem in den USA zahlreiche Bank- und Industrieverbindungen aufgebaut hatte, 1990 in die Schlagzeilen geriet und 1991 ihre Geschäfte wegen betrügerischer Kreditoperationen einstellen mußte. Diese waren zu einem erheblichen Teil islamistischen Organisationen, insbesondere aus dem Al Qaida-Spektrum, zugute gekommen. Auf dem Höhepunkt ihrer Aktivitäten unterhielt die BCCI 400 Filialen in 73 Staaten und wurde auch von der Bank of America unterstützt. Khalid bin Mahfuz war auch maßgeblich am Kapital der Prime Commercial Bank, mit Sitz in Lahore, beteiligt. Über Geschäftsführer verschiedener Ableger des Mahfuzkonzerns war Mahfuz auch an der US-amerikanischen Carlyle Group beteiligt. An deren Spitze standen führende Mitglieder der von Bush senior geführten US-Administration, wie z.B. der ehemalige Außenminister James A. Baker III.

Der heutige US-Präsident war von 1990-1994 Mitglied des Verwaltungsrats einer Tochterfirma von Carlyle, der Firma Caterair. Damit nicht genug: George W. Bush war von 1986-1993 Vorsitzender einer texanischen Ölgesellschaft, die 1987 in finanzielle Schwierigkeiten geriet. Ein enger saudischer Geschäftspartner Khalid bin Mahfuz befreite den heutigen US-Präsidenten aus dieser schwierigen Situation, indem er sich mit 11,5 % am Kapital der Harken Energy Corporation beteiligte.

Diese finanziellen Verflechtungen und quasi-moralischen Verpflichtungen erklären zumindest teilweise das zögerliche Vorgehen der USA gegen bin Laden. Das Attentat vom 11. September war wohl ein günstiger Anlaß für einen Befreiungsschlag. Präsident Bush machte hinreichend deutlich, daß er bin Laden lieber tot als lebendig zur Strecke bringen will.

Literatur

Afghanistan. Ländermonographie. Hrsg. von Paul Bucherer-Dietschi und Christoph Jentsch, Liestal 1986

Ahmed Rashid: Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad. München 2001, 432 S.

Roland Jacquard: Die Akte Osama bin Laden, List-Verlag, München 2002, 365 Seiten, 22 €

Jean-Charles Brisard/Guillaume Dasquié: Die verbotene Wahrheit. Die Verstrickung der USA mit Osama bin Laden, Pendo-Verlag, Zürich, 284 Seiten, 18 €

Die Bücher von Michael Poly und Khalid Durán, "Osama bin Laden und der internationale Terrorismus" sowie "Nach den Taliban", können nicht empfohlen werden.

Stellungnahme des GWR-HerausgeberInnenkreises

Von dem Verfasser des Artikels "Die afghanische Tragödie" (GWR 263), Prof. Dr. Christian Sigrist, wurde in der Zeitung Contraste (www.contraste.org) ein Interview zu den Attentaten vom 11. September veröffentlicht. In diesem Interview steht folgende Passage:

"Das muß einfach mal klar gesagt werden, und ich kann mir das leisten, es gibt einfach zu viele Juden in der amerikanischen Politik. Ich halte es für legitim, wenn sie in der Wissenschaft überrepräsentiert sind, das hat eine kulturelle Tradition, aber es ist nicht gut, wenn jüdische Politiker die Nahost-Politik bestimmen. Wo soll da Vertrauen erwachsen? Es gibt kaum einen Amerikaner arabischer Herkunft, der eine wichtige Rolle in der amerikanischen Politik spielt, da stimmt doch was nicht. Das heißt, hier muss grundlegend etwas geändert werden."

Diese Aussage bewerten einige Mitglieder des HerausgeberInnenkreises als antisemitisch, andere als sehr problematisch. Wir hätten dieses Interview nicht gedruckt. Von Christian Sigrist wissen wir, dass er kein Antisemit ist, und wir erlauben es unseren Autoren Fehler zu machen. Nach einer fünfstündigen Diskussion im HerausgeberInnenkreis haben wir uns deshalb entschlossen den zweiten Teil dieses Artikels abzudrucken.

Die TeilnehmerInnen des GWR-HerausgeberInnentreffens, 19.1.2002