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Die “Mutter der Archive”

50 Jahre CIRA - Internationales Treffen in Lausanne

| Horst Stowasser

Geburtstagsparty, Strategiedebatte oder anarchistisches Familientreffen? Was vom 14. bis 16. September in Lausanne stattfand, war von all dem ein bisschen - und dazu auch noch ein kulturelles Ereignis. Gut hundert Gäste aus aller Welt feierten den 50. Gründungstag des Centre International de Recherches sur l'Anarchisme, jenes legendären Anarchoarchivs, das ganze Generationen von Libertären inspiriert hat.

“Wo ein Anarchist ist, ist auch ein Buch” – so lautete der Titel einer Diskussionsrunde auf der Jubiläumsveranstaltung zum 50. Geburtstag des CIRA.

Am Tisch versammelt: libertäre VerlegerInnen aus einem halben Dutzend Ländern. Sie beklagen sich darüber, dass “die Leute (angeblich) nicht mehr lesen” und erörtern engagiert die Frage, wo denn das lesende Subjekt abgeblieben sei. Wobei es offenbar nichts ausmacht, übergangslos vom Französischen ins Spanische oder Italienische zu wechseln – und auch schon mal ins Deutsche.

Ein aufschlussreicher Erfahrungsaustausch, wie er selten stattfindet. Und der am Ende nicht nur die unterschiedlichen Situationen in verschiedenen Ländern reflektierte, sondern auch den konstruktiven Blick nach vorne suchte, indem er die veränderten Lese- und Rezeptionsgewohnheiten der Internet-Generation nicht als Bedrohung des gedruckten Buches verteufelte, sondern als Herausforderung und Chance für neue Kommunikationsmedien und -wege.

Menschen jeden Alters waren der Einladung des CIRA in das alte Landhaus gefolgt und feierten in dem großen parkartigen Garten. Sie reisten vor allem aus den Mittelmeerländern an, aber auch aus Polen, Brasilien, Deutschland… Und natürlich hatten viele nur den kurzen Weg aus Lausanne und Umgebung zurückzulegen, denn das CIRA ist, trotz seines respektablen Alters, nicht von Alterssklerose befallen, sondern ein lebendiger Teil der lebendigen libertären Szene der Stadt.

50 Jahre Motivation

In einem bewegenden Filminterview schildert die 2004 im Alter von 88 Jahren verstorbene Marie-Christine Mikhailo ihren Lebensweg von der politisch desinteressierten Diplomatengattin hin zur bekennenden Anarchistin. (*) Da war sie immerhin schon 41 und alleinerziehende Mutter von vier Kindern. 1957 entsteht aus den bei ihr notgelagerten Papieren einer zerschlagenen Anarchistengruppe das CIRA: Bibliothek, Archiv, Treffpunkt – und immer mehr auch ein Fokus libertärer Inspiration und Motivation.

Das CIRA wächst, wird international und inspiriert die Gründung oder das Revival ähnlicher Zentren – überall auf der Welt. Marie-Christine war eine charmante Frau von warmer Herzlichkeit. Ihrem dezenten Lächeln konnte kaum jemand widerstehen. Als ich 1972 sie und das CIRA kennenlernte, legte sie vor meiner Abreise sanft ihre Hand auf meinen Arm und fragte mich, ob es nicht eine gute Idee sei, in Deutschland etwas Ähnliches aufzubauen. Wie konnte ich ihr als blutjunger Anarchist da widersprechen! Und so entstand auch das AnArchiv letztlich aus einer Motivation à la Lausanne.

Vom Solitär zur Föderation

Schon lange steht das CIRA nicht mehr als einsamer Solitär in der anarchistischen Landschaft, und vorbei sind die Zeiten, als das Wohl und Wehe des Zentrums von der Kraft und dem Engagement Marie-Christines abhing. Seit langer Zeit schon hat ihre Tochter Marianne Enckell, die auch publizistisch sehr rege ist, Schritt für Schritt eine Art Nachfolge angetreten – und sicher wäre ohne ihren “guten Geist” das CIRA nicht das, was es heute ist -, aber selbstverständlich wird die Einrichtung kollektiv getragen und basisdemokratisch geführt.

Zu den größten Verdiensten des CIRA gehört – neben zahlreichen Treffen, Publikationen und Kolloquien – mit Sicherheit das Engagement bei der Gründung der FICEDL. Hinter dieser zungenbrechenden Abkürzung verbirgt sich die Fédération Internationale des Centres d’Études et de Documentation Libertaires, eine Föderation libertärer Archive, die 1978 ins Leben gerufen wurde, um Austausch, Zusammenarbeit, Forschung und Vernetzung im Sinne gegenseitiger Hilfe zu fördern. Heute umfasst die FICEDL ein gutes Dutzend Mitgliedszentren und steht in reger Verbindung mit zahlreichen anderen. Was Deutschland betrifft, ist die Situation nach der Schließung des AnArchivs (**) allerdings trist. Aus diesem Grunde richtete die FICEDL, die das Treffen in Lausanne zu einer kleinen Vollversammlung nutzte, einen Appell an die libertären Bibliotheken und Archive Deutschlands, zu ihr Verbindung aufzunehmen und sich gegebenenfalls der Föderation anzuschließen.

Anarchistische Großfamilie

Selbstredend wurde auf dem Treffen nicht nur gearbeitet, sondern auch anständig gefeiert. Für eine erstklassige Küche sorgte das Kollektiv vom Espace Autogéré, einem selbstverwalteten (ehemals besetzten) Haus in der City; hier fand auch das öffentliche Jubiläumskonzert mit anschließender “Disco-Spaghetti-Night” statt.

Dieser entzogen sich die meisten älteren Semester jedoch mit Diskretion, um an etwas ruhigeren Orten zu plaudern, zu diskutieren und politische Pläne zu schmieden. Und manche, die sich seit Jahren oder Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatten, bekamen auch feuchte Augen und überließen sich einfach ihren Erinnerungen.

Denn vielleicht war dieses Treffen – in seiner “gefühlten” Qualität – mehr als alles andere auch ein lebendiger Beweis dafür, dass es so etwas wie eine internationale “anarchistische Großfamilie” tatsächlich gibt. Mit all ihrer Herzlichkeit und Wärme, ihren Freundschaften und Emotionen jenseits aller politischen Differenzen.

Mit Zusammengehörigkeitsgefühl – und mit einem verdammt langen Gedächtnis. Wie sonst wären Sätze dieser Art erklärbar:

“He, hombre, kennst Du mich nicht mehr? Wir waren doch 1976 zusammen in Zürich, auf dem Kongress zum 100. Todestag Bakunins…!”

(*) Vgl.: "Gel(i)ebtes Leben", Marie-Christine Mikhailo, in: Bernd Drücke (Hrsg.) "ja! Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert", Karin Kramer Verlag, Berlin 2006. (Hier findet sich auch ein Interview mit Marianne Enckell.)

(**) Vgl.: ebd., Projekt A / Plan B