wunderkammer

Fehlstellen afrikanischer Literaturarbeit

| Thomas Friedrich

Die Wahrheit sei dem Menschen zumutbar, schrieb einst Ingeborg Bachmann 1958 für den ihr zugetanen "Hörspielpreis der Kriegsblinden" in einer Dankesadresse. (1) Wahrheiten aber beleuchten auch Brüche, Abgründe des Humanum. Das Diktum trifft Chiffren und Codes. Literaturarbeit Afrika stößt an die Grenze wechselnder anomischer Zustände von Staaten und Personen, aber zugleich an die offene Tür eines ausgesprochen hohen, fast radikalen und eindrucksvollen Leseinteresses von Afrikanerinnen und Afrikanern und einer ernsten Hochschätzung des Buches.

Sie, die auch im Weltladen Würzburg seit den 1980ern betrieben wird, schafft entgegen jeglicher ferner, bundesdeutscher Erwartung, und sei es mit jahrzehntelangen Wartezeiten, den Eingang bedeutender, andernfalls vergessener Werke in wichtige Verlage und entscheidende Zeitschriften, in die weite unbestimmte Öffentlichkeit: exemplarisch eben mit Wole Soyinka aus Nigeria oder Nuruddin Farah aus Somalia, aus Staatsgebilden, die assoziiert werden mit unsäglicher Gewalt, von Weltliteraten, die einfach dagegen und voll von Hoffnung ‘dennoch’ anschreiben. “Nicht das Ei sagt es der Henne, daß sie es ausbrüten soll.” (Ewe/ Togo). (2)

Ein Auszug aus dem lebendigen Forum des Bayreuther Iwalewa-Hauses (3), ein festgehaltenes Gespräch von Ulli Beier 1989 mit Chinua Achebe aus Nigeria, illustriert die notwendige Kontextualität: “Achebe: Das ist, nun ja, schwer in Worte zu fassen, aber es ist nicht so, als würde man zu etwas ‘Primitivem’ zurückkehren. Die Notwendigkeit dieser Bewegung müssen wir aus unserer jüngeren Geschichte erklären. Die Veränderungen in unserer Gesellschaft sind nicht allmählich verlaufen, der Wandel war ziemlich brutal – wie ein gewaltsamer Einschnitt, ein Bruch der Kontinuität. Der Kolonialismus nimmt dir die Initiative; du wirst aus deiner eigenen Geschichte in die Geschichte eines anderen geworfen. / Beier: Alle Entscheidungen wurden plötzlich von anderen getroffen. / Achebe: Ja, es war eine traumatische Erfahrung, aus der wir erst jetzt zu erwachen beginnen. Diese künstlerische Bewegung ist Teil eines Prozesses, der uns sagen läßt: ‘Wir sollten feststellen, wer wir sind’ … / Beier: … der eine Verbindung zu unserer Geschichte herstellt … / Achebe: Damit wir uns entscheiden können, welchen Weg wir einschlagen wollen. Verstehst du ? Wir können nicht im voraus zwingend sagen: ‘Das ist unser Weg!’ … wir müssen erst ein gewisses Bewußtsein unserer selbst entwickeln – nach dieser Zeit der völligen Entmenschlichung. Wir müssen das Maß der Dinge wiederfinden, einfach herausfinden, wer wir sind. Das löst nicht alle unsere Probleme – oder auch nur die meisten davon. Aber es ist ein Anfang. Von diesem Punkt aus kann man eine Richtung finden, und das ist keine persönliche Entscheidung, da steckt eine ganze Generation mit drin.” (Ulli Beier, Auf dem Auge Gottes wächst kein Gras, Peter Hammer, Wuppertal 1999, S. 22).

Die im obigen Gespräch angerissene Négritude ist die Pariser Erfindung von Afrikanität und schwarzer Identität, begründet ab 1935/ 39 von den damaligen Studenten Léopold Sédar Senghor aus dem Senegal und insbesondere Aimé Césaire aus Martinique, dokumentiert mit dem Anfang der Zeitschrift “L’Étudiant noir” und Cesaires epischem Poem “Cahier d’un retour au pays natal”.

Aus ihr erwuchs eine philosophische, literarische und dann auch politische Emanzipationsbewegung und breitete sich nicht nur unter schwarzen Intellektuellen aus; sie wandte sich gegen den französischen Mutterlandsanspruch und die Hegemonie der assimilitativen Francité und behauptete, formulierte, verteidigte einen eigenen, gleichberechtigten Kulturgrund Altafrikas. Die Negritude wurde zur antikolonialen geistigen Prägung schlechthin, obgleich wegen ihrer grundlegenden Versöhnlichkeit intern umstritten, die in konkret weitergehende, kritische, radikalere Schritte politischer Verselbständigung mündete. Dennoch erreichte sie eine Wiedergeburt altafrikanischer Lebensphilosophie und schwarzer Weltwahrnehmung, eine Achtung der Quellen und der Ursprünge, einen eigenen Humanismus der unterdrückten und verachteten Völker. Mit Jean-Paul Sartres Würdigung und seinem Vorwort 1948 zu Senghors Anthologie neuerer schwarzer Poesie erhielt die Negritude schließlich internationale Anerkennung. “Das Sprichwort ist das Blatt, von dem man Worte ißt.” (Ibo/ Nigeria) (4).

Die Skepsis braucht keine Pfadfinder, sie hat ihre Erfahrung. “Ich schreibe über den Humor in meinem Land, über die Traurigkeit in diesem Land, die Tränen, die wir vergossen haben, und die, die wir nicht vergossen haben, über das Lächeln, das wir der Welt schenken konnten, und über das Lächeln, das wir der Welt noch schuldig sind.” (Chenjerai Hove, Ausstellung Geschichte und Geschichten, Frankfurt 1998). Die Erfahrung klagt an, richtet den makabren Blick, betrauert, fürchtet vorweg: den obszönen Staatsmord des nigerianischen Abacha-Regimes 1995 an den alleingelassenen Ken Saro Wiwa und seiner sieben Ogoni-Mitstreiter aus dem Niger-Delta, diesen lebenslang belächelten, beneideten und zornigen, bittergewordenen Volksliteraten Nigerias (vgl. LiteraturNachrichten H.48/ 1996); oder: die fortwährende Flucht des Syl Cheney-Coker, bohrend brennender Heimkehrwunsch nach Sierra Leone und Abbruch immerfort, depressive Verharrungen und Ablehnungen verlautbart in Privatnotizen; – beide Namen beispielhaft für viele Intellektuelle, die nicht Hofschreiber ihrer Landesdespoten sein wollten (5), nicht den Herrschaften schmeichelten und mit Verfolgung, Demütigung, Folter, Haft rechnen mußten, – die übergreifendes soziales Gewissen ihrer Länder geworden sind, moralische Zeugen.

“Als Dichter, einsam in meinem Land, suche ich die Wahrscheinlichkeiten des Lebens, das Feuer der Bilder, das Gift der Verse. Mein Land, du bist mein Herzschlag, lebst wie eine verwüstete Landschaft.” (Syl Cheney-Coker, Ausstellung Geschichte und Geschichten, Frankfurt 1998). – Sie und weitere können zumindest darauf zählen: vernichtet werden zu sollen unter der Walze von Macht und Selbstbereicherung, sei es seelisch, sei es leibhaftig, beispiellos aber für den getroffenen Einzelnen. “Als seine Peiniger ihn allein ließen, untersuchte er seine neue Heimstatt – einen grausigen Kerker aus kolonialer Zeit, in dem sich vor vielen Jahrhunderten das Blut seiner Landsleute mit Kot und Erbrochenem vermischte, bevor man sie auf Schiffen über das trügerische Meer in eine andere Welt brachte, in deren sumpfiger Trostlosigkeit sie dann zugrunde gingen.” (Syl Cheney-Coker, Der Nubier, Peter Hammer, Wuppertal 1996, S. 7).

Wer alles war nicht schon Zielscheibe: eine Legion von Weltliteraten, deren Namen beschämen! Der Weltladen unternahm 1998 eine Straßenaktion verfolgter Autoren in Würzburg, um bescheiden eine Mahnung zu suchen, zu signalisieren. Anfang & Ende des fiktionalen “Nubier” treffen frappant die Wirklichkeit, korrelieren mit den letzten Worten im offenen Brief des realen Todeskandidaten. “Schreckliche Aussichten? Wohl kaum. Die Herren, die diese schamvolle Veranstaltung, diese tragische Scharade, in Auftrag gegeben haben und sie überwachen, fürchten das Wort, die Macht der Ideen, die Macht der Feder. Sie fürchten die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und Menschenrechten.” (Ken Saro-Wiwa, LiteraturNachrichten H.46/ 1995).

Die Bestialität und Lächerlichkeit (nicht nur) afrikanischer Despoten und ihrer Regime (sie quälen nie alleine) haben Sony Labou Tansi aus Kongo-Brazzaville und Ahmadou Kourouma von der Elfenbeinküste ausgiebig beschrieben; sie steht in der Nachfolge der kolonialistischen Menschenverachtung, des sklavenjagenden Menschenhandels mit Kollateralschäden. In seinem zornigen Aufsatz “Über den Kolonialismus” (Wagenbach, Berlin 1968) bewertet Aime Cesaire den Kolonisator als den, “der sich, um sich ein gutes Gewissen zu verschaffen, daran gewöhnt, im anderen das Tier zu sehen, der sich darin übt, ihn als Tier zu behandeln, objektiv dahin gebracht wird, sich selbst in ein Tier zu verwandeln”, beschreibt die koloniale Aktion als Ausplünderung und entmenschlichte Barbarei, als Verdinglichung und zahlloses Menschenopfer, als mystifizierten Sadismus und “hastige Fabrikation einiger tausend subalterner Funktionäre, […] die für den reibungslosen Ablauf der Geschäfte benötigt werden”. (zit.n. Al Imfeld, Verlernen was mich stumm macht, Unionsverlag, Zürich 1980, S. 38).

Anbetracht dessen: lesen, schreiben, ohne zynisch zu verzweifeln? Bücher werden nichtsdestotrotz weitergereicht von Leser zu Leser, bis sie zerfleddern, zerfallen; sie helfen.

“Auf dem Land läßt das Leben in der Gruppe die fürs Lesen notwendige Vereinzelung nicht zu: man spricht immerfort miteinander und hat, solange die Sonne am Himmel steht, Wichtigeres zu tun als zu lesen; und elektrische Beleuchtung ist in den Dörfern immer noch die Ausnahme. Dennoch kann man überall Lesende antreffen: sie sitzen auf den Küchenschwellen während der Arbeitspause, lehnen an einem Baumstamm beim Hüten der Herde oder warten vor den Sehenswürdigkeiten auf Touristen. Zudem erlebt man vielerorts, wie literarische Werke, auch Romane, vorgelesen werden. Diese mündliche Umsetzung ergänzt das Theater, das lebendig ist wie eh und je und sich seinen Weg ins Fernsehen bahnt, und das Lied, das übers Radio eine Verbreitung erfährt wie nie zuvor.”, schreibt die reisende und beobachtende Lehrerin Almut Seiler-Dietrich in ihrer Umschau “Wörter sind Totems” (Books on African Studies, Schriesheim 1995, S.12), einst junge Doktorandin bei Janheinz Jahn und Ulla Schild, Lehrbeauftragte an ihrer beider nachge-lassenen Jahn-Bibliothek an der Universität Mainz.

Ist das Feuer so klein, daß du es nicht siehst, steck es nur in die Tasche, dann merkst du, daß es brennt.” (Ewe/ Togo) (6).

(1) Zitat nach einem Aufsatz und Widerspruch von Prof. Manfred Thalhammer, Würzburg 1997

(2) Sprichwortsammlung von Janheinz Jahn, Die Welt ist Wind, Ehrenwirth, München 1962

(3) Iwalewa-Haus, Afrikazentrum der Universität Bayreuth. www.iwalewa.uni-bayreuth.de

(4) entnommen aus o.g. Sprichwortsammlung 1962

(5) Besonders Gerd Meuer hält durchgängig den Anspruch von ehrlichen und glaubwürdigen Literaten aufrecht; siehe "Die neoafrikanische Literatur, mündig" (Die Zeit Nr. 20 v. 19.05.1972); auch: www.gerd-meuer.de

(6) entnommen aus o.g. Sprichwortsammlung 1962

Dr. Thomas Friedrich aus Haßberge ist engagiert im Weltladen Würzburg.