transnationales / antimilitarismus

„Meine Menschlichkeit wiedergewinnen“

Der US-Deserteur Camilo Mejía ist frei

Im Februar 2005 erschienen in der Graswurzelrevolution Nr. 296 Auszüge aus einem Interview, das Bernd Drücke mit dem Filmemacher Peter Lilienthal geführt hat. Ein Thema des Gesprächs war die Situation von Camilo Mejía, der acht Jahre im US-Militär und acht Monate kämpfend im Irak verbracht hat. Während eines Heimaturlaubs erklärte er seine Kriegsdienstverweigerung. Aufgrund seiner Weigerung, in den Irak zurückzukehren, wurde er vom US-Militär wegen Desertion zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt. Am 15. Februar wurde Camilo aus dem Gefängnis entlassen. Wir dokumentieren seine Erklärung vom 18. Februar 2005 (GWR-Red.).

Kriegsdienstverweigerung im Irak

Ich wurde im April 2003 im Irak stationiert und kam im Oktober für zwei Wochen auf Heimaturlaub. Zuhause hatte ich die Möglichkeit, meine Gedanken zu ordnen und auf mein Gewissen zu hören. Die Leute fragten mich nach meinen Kriegserfahrungen, und indem ich antwortete, kehrten all die Schrecken zurück – die Feuergefechte, die Hinterhalte, der junge Iraki, der an den Schultern durch eine Lache seines eigenen Blutes geschleift wurde; oder der unschuldige Mann, der von unserem Maschinengewehrfeuer geköpft wurde; der Soldat, der innerlich zusammenbrach, weil er ein Kind getötet hatte; oder der alte Mann, der auf seinen Knien weinend die Hände zum Himmel streckte, vielleicht weil er Gott fragte, warum er den leblosen Körper seines Sohnes genommen hatte.

Ich dachte an das Leiden eines Volkes, dessen Land in Ruinen lag und das weiterhin durch die Durchsuchungen, Patrouillen und Ausgehverbote einer Besatzungsarmee erniedrigt wurde.

Und es wurde mir klar, dass keiner der Gründe, weshalb wir angeblich im Irak waren, sich als Wahrheit entpuppte. Es gab keine Massenvernichtungswaffen. Es gab keine Verbindung zwischen Saddam Hussein und EI Kaida. Wir haben dem irakischen Volk nicht geholfen, und die Irakis wollten uns dort nicht.

Wir haben nicht den Terrorismus verhindert oder die Sicherheit der US-Amerikaner verbessert. Ich konnte keinen einzigen guten Grund dafür finden, dort zu sein, zu schießen und beschossen zu werden.

Zuhause erlangte ich die Klarheit, die Grenze zwischen militärischer und moralischer Pflicht zu erkennen. Ich erkannte, dass ich Teil eines Krieges war, von dem ich glaubte, er wäre unmoralisch und kriminell, ein Aggressionskrieg, ein Krieg imperialer Vorherrschaft. Ich erkannte, dass ein Handeln nach meinen Prinzipien nicht mit meiner Rolle im Militär vereinbar wäre, und mir wurde klar, dass ich nicht in den Irak zurückkehren konnte.

Indem ich meine Waffe niederlegte, entschied ich mich dafür, wieder ein Mensch zu werden

Ich habe das Militär nicht verlassen oder bin illoyal gegenüber den Frauen und Männern des Militärs gewesen. Ich bin nicht einem Land gegenüber illoyal gewesen. Ich bin nur meinen Prinzipien gegenüber loyal gewesen.

Als ich mit all meinen Befürchtungen und Zweifeln freiwillig ins Gefängnis ging, habe ich das nicht nur für mich selbst getan. Ich tat es für die Menschen im Irak, selbst für die, die auf mich geschossen haben – sie befanden sich lediglich auf der anderen Seite eines Schlachtfeldes, wo der Krieg selbst der einzige Feind war. Ich tat es für die irakischen Kinder, die Opfer von Minen und abgereichertem Uran sind. Ich tat es für die Tausenden im Krieg getöteten unbekannten Zivilisten. Meine Zeit im Gefängnis ist ein geringer Preis verglichen mit den Irakis und US-Amerikanern, die mit ihrem Leben bezahlt haben. Ein geringer Preis verglichen mit dem Preis, den die Menschheit für den Krieg bezahlt hat.

Gewöhnliche Menschen können außergewöhnliche Dinge tun

Viele haben mich einen Feigling genannt, einige einen Helden. Ich glaube, ich befinde mich irgendwo in der Mitte. Jenen, die mich einen Helden genannt haben, antworte ich, dass ich nicht an Helden glaube, aber daran, dass gewöhnliche Menschen außergewöhnliche Dinge tun können.

Jenen, die mich einen Feigling genannt haben, antworte ich, dass sie sich irren, aber trotzdem unwissentlich recht haben. Sie irren sich, wenn sie glauben, ich hätte den Krieg aus Angst davor, getötet zu werden, verlassen. Ich gebe zu, dass es Furcht gegeben hat, aber es gab auch die Furcht davor, Unschuldige zu töten, Furcht davor, in eine Position zu geraten, wo Überleben Töten bedeutet, Furcht davor, meine Seele zu verlieren bei dem Versuch, meinen Körper zu retten, Furcht davor, meiner Tochter, den Menschen, die ich liebe, der Person, die ich war, und der Person, die ich werden wollte, verloren zu gehen. Ich hatte Furcht davor, eines Morgens aufzuwachen und zu erkennen, dass meine Menschlichkeit mich verlassen hatte.

Ohne jeden Stolz sage ich, dass ich meinen Job als Soldat getan habe. Ich habe eine Infanterieeinheit im Kampf befohlen, und wir haben unseren Auftrag immer erfüllt. Aber jene, die mich einen Feigling nannten, haben Recht, ohne es zu wissen. Ich war ein Feigling, weil ich den Krieg nicht verlassen habe, sondern zunächst Teil davon gewesen bin. Meine moralische Pflicht war es, mich diesem Krieg zu verweigern und ihm Widerstand zu leisten, eine moralische Pflicht, die mich zu diesem prinzipiellen Handeln gerufen hat. Ich habe dabei versagt, meine moralische Pflicht als Mensch zu erfüllen, und hatte mich stattdessen dazu entschlossen, meiner Pflicht als Soldat nachzukommen. Alles nur, weil ich Angst hatte. Ich fürchtete mich, ich wollte nicht gegen Regierung und Armee aufstehen, ich hatte Angst vor Bestrafung und Erniedrigung. Ich zog in den Krieg, weil ich in diesem Moment ein Feigling war, und dafür entschuldige ich mich bei meinen Soldaten, weil ich nicht die Art von Führer war, der ich hätte sein sollen.

Ich entschuldige mich auch beim irakischen Volk. Ihm sage ich: die Ausgangsverbote, die Hausdurchsuchungen, die Morde tun mir leid. Mögen die Irakis mir in ihren Herzen vergeben können.

Freiheit hinter Gittern

Einer der Gründe dafür, dass ich mich dem Krieg nicht von Anfang an widersetzt habe, war die Angst davor, meine Freiheit zu verlieren. Heute, wo ich hinter Gittern sitze, erkenne ich, dass es viele Arten von Freiheit gibt und dass ich trotz meiner Gefangenschaft auf vielerlei wichtige Weise frei bleibe. Was ist die Freiheit wert, wenn wir Angst haben, unserem Gewissen zu folgen? Was ist die Freiheit wert, wenn wir nicht mit unserem Handeln in Übereinkunft leben können? Ich bin im Gefängnis eingeschlossen, doch fühle ich mich mehr als je zuvor mit der ganzen Menschheit verbunden. Hinter diesen Gitterstäben sitze ich als freier Mann, weil ich auf eine höhere Macht, die Stimme meines Gewissens, gehört habe.

Als ich in Einzelhaft saß, fand ich das Gedicht eines Mannes, der der Nazi-Regierung in Deutschland widerstand und sich ihr verweigerte. Dafür wurde er hingerichtet. Er hieß Albrecht Haushofer (1), und er schrieb das Gedicht, während er auf die Hinrichtung wartete:

Schuld

Ich trage leicht an dem, was das Gericht mir Schuld benennen wird: an Plan und Sorgen.
Verbrecher wär‘ ich, hätt‘ ich für das Morgen des Volkes nicht geplant aus eigner Pflicht.
Doch schuldig bin ich anders als ihr denkt, ich musste früher meine Pflicht erkennen, ich musste schärfer Unheil nennen – mein Urteil hab ich viel zu lang gelenkt…
Ich klage mich in meinem Herzen an:
Ich habe mein Gewissen lang betrogen,
ich hab mich selbst und andere belogen – ich kannte früh des Jammers ganze Bahn – ich hab gewarnt – nicht hart genug und klar!
Und heute weiß ich, was ich schuldig war…

Jenen, die immer noch schweigen, jenen, die weiterhin ihr Gewissen betrügen, jenen, die das Böse nicht klarer benennen, jenen unter uns, die immer noch nicht genug tun, um sich zu verweigern und Widerstand zu leisten, rufe ich zu: „Vorwärts!“ Ich sage: „Befreit eure Gedanken.“ Lasst uns gemeinsam unsere Gedanken befreien, unsere Herzen erweichen, die Verwundeten trösten, unsere Waffen niederlegen und uns als Menschen wiedererkennen, indem wir dem Krieg ein Ende bereiten.

(1) Kurz vor dem Kriegsende, am 23.4.1945, wurden in Berlin 14 Mitglieder des Widerstandes von der SS aus den Gefängniszellen in der Lehrter Straße geholt. Man erklärte ihnen, dass sie verlegt werden sollten. Die Gefangenen wurden aus dem Gefängnis ins Freie geführt. Sie hörten schon den Gefechtslärm um Berlin, als sie alle durch Genickschuss getötet wurden. Unter den Ermordeten war Albrecht Haushofer - ein Berliner Professor für politische Geographie.

Zunächst eher eine Stütze des Naziregimes, der im NS-System Karriere machte, wurde er später zum Regimegegner. Er nahm Kontakt zum Widerstand auf, so zum Kreisauer Kreis, zur Gruppe um Carl Friedrich Goerdeler und zu Mitgliedern der Roten Kapelle. Nach dem Attentat des 20. Juli 1944 auf Hitler geriet er ins Visier der Gestapo. Eine Fluchtmöglichkeit ins Ausland ausschlagend, wurde er Ende 1944 verhaftet und in das Gefängnis Moabit verbracht. Dort wartete er - auf Tod oder Befreiung. Bei seiner Ermordung hielt Albrecht Haushofer ein Bündel Papiere in seinen Händen - Gedichte, wie sich herausstellte. Unter diesen "Moabiter Sonetten", die er während seiner Haft verfasst hatte, fand sich das Gedicht "Schuld", in dem das Vermächtnis des Widerstandes gegen Hitler für unsere Zeit besonders eindrucksvoll hervortritt.

Weitere Infos

www.freecamilo.org/words.htm#humanity
www.lebenshaus-alb.de
www.Connection-eV.de

Der Pazifist. Hefte für Völkerrecht und Arbeit für den Frieden. Jahrgang XVIII, Nr. 4, 202 vom 29.03.2005