Unter dem Namen "Lebenslaute" (1) engagieren sich seit 1986 bundesweit MusikerInnen, einmal jährlich in Chor- und Orchesterstärke, dazwischen auch in kleineren Ensembles regional. Als offene Musik- und Aktionsgruppe bringt "Lebenslaute" überwiegend klassische Musik gerade dort zum Klingen, wo dies nicht erwartet wird: auf Militärübungsplätzen und Abschiebeflughäfen, vor Atomfabriken und Raketendepots, in Ausländerbehörden und an anderen menschenbedrohenden Orten. (GWR-Red.)
In diesem Jahr hat „Lebenslaute“ sich entschlossen, zwei Jahresaktionen zu gestalten.
Die erste zur Unterstützung des Tribunals der Geflüchteten in Berlin gegen die Bundesrepublik Deutschland, voller Sympathie beobachtet besonders von der „Lebenslaute“-Gruppe aus Berlin. Ihre Argumentation: zu keiner anderen Zeit könnten wir die Lage der Illegalisierten und Papierlosen besser unterstützen als jetzt. Die zweite Aktion galt der Kampagne gegen die Atomwaffen in Büchel, die zwar gegenwärtig überhaupt nicht im Blick der Öffentlichkeit stehen, aber gerade deshalb zum Anlass einer großen Musikblockade werden sollten.
Kurioserweise hatte „Lebenslaute“ damit zwei Aktionen gewählt, wie sie gegensätzlicher kaum sein konnten: die eine, in der Millionenstadt Berlin, musste in größter Heimlichkeit stattfinden, damit der gewählte Blockadeort, das Innenministerium, nicht vorher weiträumig von Polizei umstellt wäre; bei der anderen in der Eifel, also auf dem Lande, gab es überhaupt keine Geheimnisse: schon lange vorher wurde öffentlich gemacht, dass es eine 24-stündige Blockade des Ortes geben werde. In Berlin war Lebenslaute die zentrale Gruppe, die kurzfristig Unterstützung von Sympathisanten bekam (einige davon gehörten zur Gruppe der Geflüchteten, die das Risiko nicht scheuten, noch mehr Probleme mit der deutschen Justiz zu bekommen).
In Büchel dagegen blockierte Lebenslaute nur als eine Gruppe von mehreren, zwar eine, die schon seit einigen Jahren eingeladen worden war, aber neben Popgrößen wie Nina Hagen nicht die alleinige Aufmerksamkeit der Medien auf sich ziehen konnte.
In Berlin war klar, dass die öffentliche Wirkung erheblich weniger stark ausfallen würde als in Büchel, einerseits weil in Berlin immer viel los ist, andererseits aufgrund von Ereignissen wie dem Besuch des US-Präsidenten Obama, aber auch wegen der Unruhen in Ägypten. Es ist jedoch durchaus möglich, dass die interne Wirkung der Blockade des Innenministeriums massiv und erheblich ist – immerhin hatte Lebenslaute für volle vier Stunden, von morgens 6 bis 10 Uhr, das Gebäude weitgehend lahmgelegt. Nur bleibt abzuwarten, ob die Reaktion sich auf noch mehr Polizei oder Sicherheitsmaßnahmen beschränkt, oder ob es inhaltliche Auseinandersetzungen mit all dem gibt, das im Innenministerium zur Lage oder zur Bedrängung von Geflüchteten und Asylsuchenden ausgebrütet wird.
Blockade des Innenministeriums in Berlin (2)
Das Bundesministerium des Innern (BMI) ist in der östlichen Hälfte eines gewaltigen Gebäudes untergebracht, das die Form eines zur Spree hin offenen U hat. Im Ministerium haben 900 MitarbeiterInnen auf 13 Etagen ihre Arbeitsplätze. Der Abstand zwischen den beiden Teilen des U beträgt ungefähr 25 Meter; hier finden sich Grün- und Blumenanlagen, Wasserspiele und Wege. Mit 70 Personen war das Gebäude bequem zu blockieren. Die Vorbereitungsgruppe hatte vier Eingänge ausgemacht, allerdings stellte sich bei der Blockade heraus, dass es noch einen fünften gab, der der Aufmerksamkeit bisher entgangen war. Prompt wurde über die Unterstützerstruktur von „ZUGABe“ (3) die Anfrage an alle Gruppen verbreitet, ob sie eine oder zwei Personen „abgeben“ könnten, um auch diesen Eingang zu blockieren; und auch das gelang. Während das Sicherheitspersonal noch Verstärkung heranholte und Anweisungen der Chefs abwarten musste, hatten alle Gruppen Zeit, ihre Musik anzustimmen: Teile des „Vorkonzertes“, das „Lebenslaute“ am Abend zuvor im wunderbaren Rahmen der Heilig-Kreuz-Kirche in Kreuzberg zum Besten gegeben hatte, Musik von Eisler, Bach, Schütz, aber auch afrikanische Chormusik, Kanons und Instrumentalstücke für kleinere Besetzung.
Zahlreiche Transparente, die vor die Eingänge gehängt wurden, und ein kurzes Flugblatt machten die Beschäftigten des Hauses auf das Anliegen des Tribunals aufmerksam. An mehreren Stellen kam es aber auch zu Räumungen durch die Polizei. Die Personalienfeststellungen führten zur Einleitung von Strafverfahren, deren Ausgang noch abzuwarten bleibt. Eine Reihe von SympathisantInnen, eingeschlossen BewohnerInnen des Flüchtlingscamps vom Oranienplatz, waren bereit, „Lebenslaute“ aktiv beim Blockieren zu unterstützen. Sie waren aber als nicht zu „Lebenslaute“ gehörig erkennbar: ohne Konzertkleidung, Instrumente oder Notenmappen. Prompt wurden sie erheblich härter angefasst als die TeilnehmerInnen von Lebenslaute. Eigentlich hätte „Lebenslaute“ so etwas voraussehen müssen und diese UnterstützerInnen veranlassen müssen, sich ebenso durch Konzertkleidung zu schützen.
Die Anklagen des Tribunals sind im Internet (4) nachzulesen.
Die Forderungen daraus lauten, kurz zusammengefasst: Keine Lager, keine Essenspakete, Reisefreiheit (keine Residenzpflicht), Freiheit, die Landessprache zu lernen und Ausbildungen zu machen.
Nach dem Marsch der Asylsuchenden von Würzburg nach Berlin im Herbst 2012 und einem dramatischen Hungerstreik hatte es ein Treffen mit Verantwortlichen von Stadt und Regierung gegeben, aber bisher ohne Ergebnis. Die Tatsache, dass die Geflüchteten auf dem Oranienplatz in Berlin von der Politik geduldet werden und bisher keine Sanktionen aufgrund ihrer Proteste erhalten haben, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Politik in Bezug auf eine generelle Lösung hartleibig zeigt.
Interessant ist das Aufgreifen des Begriffs „Kolonialismus“ durch das Tribunal. Hier wird eine geschichtliche Kontinuität gezogen, die wir leicht zu vergessen geneigt sind.
Büchel: Weniger Leute als erwartet – trotzdem große Wirkung
Die Kampagne „Atomwaffenfrei – jetzt!“ (5) hatte die Blockade des Fliegerhorsts Büchel (wie es offiziell verniedlichend heißt) schon viele Monate vorbereitet. Die Blockade aller sieben Tore des über 4 km langen und mehrere hundert Meter breiten Geländes war erfolgreich. Trotzdem gelang es nicht, mehr als einige hundert Menschen nach Büchel zu locken. Im Vorfeld war von etwa 1500 Personen ausgegangen worden, die erwartet wurden, und die Infrastruktur war entsprechend eingerichtet. Das bedeutet, es wird wohl ein erhebliches Defizit geben. Interessant ist der Grund für die kurzfristige Absage eines erwarteten Busses aus Stuttgart: Man habe dort mit dem fortgesetzten Widerstand gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 genug zu tun. Die Blockade von Büchel war also gewissermaßen antizyklisch, gegen den Zeitgeist. Die Angst vor dem Atomkrieg vermag im Augenblick weniger zu bewegen als lokale Skandale. Das ist ein Faktum, mit dem man rechnen muss.
Ob eine Idee – etwa die antimilitaristische – große Unterstützung in der Bewegung findet oder nicht, das hängt gewissermaßen von der gesellschaftlichen Seelenlage ab, die eben im Augenblick nicht zum Widerstand gegen das Militär tendiert. Diese Einsicht darf jedoch keineswegs dazu führen, Aktionen wie in Büchel zu unterlassen.
Auf lokaler Ebene hat diese Aktion viel bewirkt. Das Echo in der örtlichen Presse war enorm und durchgehend positiv. Dazu muss man wissen, dass der Fliegerhorst Büchel ein bedeutender Arbeitgeber in der Region ist und die lokale Bevölkerung AntimilitaristInnen als Bedrohung ihres Arbeitsplatzes wahrnimmt. Ein Einheimischer äußerte, seit vielen Jahren sei endlich überhaupt einmal etwas über die Atomwaffen in Büchel geschrieben worden. Deren Existenz sei in den vergangenen Jahren geradezu in Vergessenheit geraten, so dass nicht einmal politisch interessierte ZeitungsleserInnen aus der Region davon wussten.
Die musikalische Aktionsgruppe „Lebenslaute“ bestritt das Eröffnungskonzert mit der Musik aus Berlin und trug auf diese Weise das Thema Flucht und Migration nach Büchel.
Die VeranstalterInnen von „Atomwaffenfrei – jetzt“ hatten zahlreiche Musikgruppen und Einzelpersonen gewinnen können, die während der 24-stündigen Blockade mit ihrer Musik zum Teil von einem Tor zum anderen zogen; aber die groß angekündigten Prominenten, darunter Nina Hagen, zogen ihre Teilnahme kurzfristig zurück. Parteienvertreterinnen wie Claudia Roth von den Grünen und Inge Höger von den Linken (Verteidigungsausschuss) waren anwesend, durften aber nicht reden. Damit standen nicht Parteipolitik, sondern Blockade und direkte gewaltfreie Aktion im Zentrum.
Polizei und Militärs versuchten alles, um Freundlichkeit und Harmlosigkeit vorzutäuschen: Zivilangestellte hatten am Blockadetag frei, Soldaten mussten dagegen übers Wochenende auf dem Fliegerhorst bleiben. So wurden Räumungen und entsprechende Aufmerksamkeit weitestgehend vermieden. Immerhin wurde an einem Seitentor, das seit vielen Jahren nicht benutzt worden war, eine kleine Lücke geöffnet, um einige Personen hinein- und herauszulassen. Es war gerade das Tor, an dem eine Motorradgruppe blockierte. Die Biker fügten sich aber perfekt ins Blockadekonzept ein und weigerten sich, die ihnen unterstellte Rolle der Krawallmacher zu spielen.
Für „Lebenslaute“ ist eine anstrengende Saison zu Ende gegangen, ein Experiment mit zwei Aktionen. Das wird eher eine Ausnahme bleiben. Einmalig hat es durchaus geklappt: es waren kaum weniger Personen in Büchel als in Berlin dabei, die Aktionsunterstützung von „ZUGABe“ war hervorragend, die Stimmung ungemein positiv und freundlich. Musik verändert das Klima zum Positiven, die Schwingungen der Klänge stellen sich den tödlichen Vibrationen aus den Bunkern entgegen.
(1) Infos: www.lebenslaute.net
(2) Ich danke Winfrid Einsenberg für Daten und Formulierungen in diesem Abschnitt.
(3) ZUGABe ist ein Kürzel für Ziviler Ungehorsam, Gewaltfreie Aktion und Bewegung. Damit ist ZUGABe nicht nur der Name dieses Netzwerkes, sondern zugleich Konzept und Idee - eine Aktionsform für gesellschaftlichen Wandel. Sei es bei der freiwilligen Feldbefreiung gegen Gentechnik, in der Sitzblockade vor dem Castor oder bei der zivilen Erkundung von Militäranlagen - Aktionen und Kampagnen aus dem ZUGABe Spektrum haben in den letzten Jahren immer mehr Zulauf bekommen. Infos: www.netzwerk-zugabe.de
Film
Abrüstungsinstrumente - Rhythm beats Bombs/Musikblockade in Büchel (8:55 min) Quer-TV hat die Lebenslaute-Aktionsgruppe bei ihren Konzerten in Büchel begleitet. Interviews mit Marion Küpker und Gerd Büntzly. Links zu diesem und zu weiteren Filmen zu den Blockaden in Büchel: www.dfg-vk-rlp.de