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“Ich konnte mir nicht mal sein Alter merken”

Rosa e. V. bietet Zuflucht für nicht deutsche Frauen, die vor Zwangsehe und Gewalt geflüchtet sind

| Sylvia Rizvi

“Ich konnte mir nicht mal sein Alter merken”. Die dunkelhaarige Aylin (Name geändert) spricht von dem Mann, der ihr Ehemann werden sollte. Gefragtworden ist sie nicht.

Die Heirat wurde von den Eltern arrangiert. Auf einem Türkeiurlaub wurde Verlobung gefeiert, da hat die damals 18- Jährige den türkischen Studenten zum ersten und einzigen Mal gesehen. “Er stand auf der Straße, und wir sind mit dem Auto langsam vorbei gefahren”. Zwei Jahre war die Türkin mit ihm verlobt. Damit das Paar in Kontakt blieb, sorgte der Vater dafür, dass die Tochter ihrem Zukünftigen schrieb und mit ihm telefonierte – oft half er mit Schlägen nach.

Nicht nur bei der Partnerwahl wurden Aylins Wünsche ignoriert. Auch eine Ausbildung war tabu. “Ich wollte aber nicht mein Leben lang zu Hause sitzen und kochen”, betont die heute 22-Jährige. Die Folge: Streit, Prügel und Isolation: “Nicht mal Schulfreundinnen durften mich anrufen”.

Das kennt auch Nayla (Name geändert). Die 21-jährige Afghanin wuchs als Jüngste von fünf Geschwistern in Deutschland auf. Jeder Schritt wurde von ihren Brüdern überwacht, und Arztbesuche musste sie sich mit Uhrzeit bescheinigen lassen. Absolut tabu waren Dinge, die für Gleichaltrige zum Alltag gehören. “Ich durfte weder ins Kino, noch in ein Café, noch in die Disco”, berichtet die Darmstädterin. Begehrte sie auf, gab es Schläge.

Geschlagen wurde Nayla auch, als sie sich vor drei Jahren gegen eine Zwangsehe mit ihrem Cousin sträubte. Es kam zum Eklat.

Bevor die Hochzeit stattfand, flohen die Musliminnen von zu Hause. Zuflucht fanden sie beim Stuttgarter Verein Rosa, der von Zwangsehe und Gewalt betroffene Ausländerinnen aufnimmt. Darunter sind auch Frauen wie Dinja (Name geändert) aus Hamburg. Vier Mal ist sie verlobt worden, und vier mal lehnte die Libanesin ab – den Cousin genauso wie entfernt verwandte Kuwaitis oder Palästinenser.

Seit 1988 hat das Projekt Rosa 77 Frauen im Alter von 16 bis 21 Jahre betreut. Sie wurden von Beratungsstellen, Wohnheimen, Frauenhäusern oder Kliniken vermittelt – zwei Drittel sind Türkinnen. Einziehen können sie, sobald die Kostenzusage des Jugendamtes und bei Minderjährigen das Sorgerecht geklärt ist. Damit die Geflohenen nicht aufgespürt werden, nimmt Rosa fast nur Frauen aus andern Bundesländern auf. Die Adresse der zwei Wohnungen mit 9 Plätzen bleibt streng vertraulich.

Der Neuanfang erfordert Mut. Zwei Sozialarbeiterinnen und eine Honorarkraft helfen, Depressionen sowie Heimweh nach Familie, Stadt und Freundinnen zu bewältigen. Gleichzeitig klingen vielen Betroffenen noch die massiven Drohungen von zu Hause im Ohr. Sie fürchten, von der Familie, Verwandten und Bekannten aufgespürt und ins Herkunftsland entführt oder gar umgebracht zu werden. Meist sei das Angstmache, um die Frauen gefügig zu machen, weiß Dilar (Name geändert). In zehn Prozent der Fälle aber, schätzt die Rosa-Sozialarbeiterin, würden die Drohungen in die Tat umgesetzt. Aber, so fügt sie gleich hinzu: “Bei uns wurde noch keine Frau gefunden.”

Unter solchen Umständen gilt es, eigene Entscheidungen zu fällen und eine Berufswahl zu treffen. Nach durchschnittlich 15 bis 20 Monaten müssen die jungen Frauen auf eigenen Beinen stehen. Für Aylin, die bereis eine eigene Wohnung bezogen hat, heißt das, sich an neue Sozialarbeiterinnen zu gewöhnen. Den vertrauten Rosa-Frauen fehlt es an Geld und Stellen für die Nachbetreuung.

Wie viele Eltern für ihre Kinder Ehen arrangieren, darüber schweigen Studien oder Erhebungen. Auch das Stuttgarter Hilfeprojekt muss in punkto Zahlen passen. Doch eins ist für Dilar wichtig zu betonen: Sie möchte den Streit zwischen Eltern und Töchtern nicht auf einen Kulturkonflikt reduziert sehen. “Es handelt sich vor allem um einen Generationskonflikt”, ist die Pädagogin überzeugt. Wenn Mädchen in die Pubertät kämen, wollten sie ihre eigenen Wege gehen. Damit seien manche ausländische Familien – ähnlich wie manche deutsche – überfordert. Es könne zu erbittertem Streit über Tradition, Religion oder darüber, wie eine Frau zu sein habe, kommen. Prallen dann noch die Sitten eines anderen Landes mit dem deutschen Lebensstil zusammen, würden Mädchen oft strenger erzogen als im Herkunftsland, so die Erfahrungen des Rosa-Teams. Auch die Zwangsverheiratung sei “ein Bewältigungsmuster mit Schutzfunktion”, um das Kind gegen scheinbar schädliche Einflüsse zu wappnen, sagt Dilar. Eltern wollten ihre Töchter in den eigenen Familienstrukturen aufgehoben wissen.

Aylin, Nayla und die andern von Rosa betreuten Frauen haben weniger den Schutz, dafür um so mehr Zwang und Entmündigung wahrgenommen. Sie haben sich gegen die Pläne der Eltern entschieden. Und sie scheinen ihren Beschluss durchzuziehen. Anders als im Frauenhaus geht nicht mal ein Prozent nach Hause zurück. “Die Mädels halten durch”, berichtet Dilar stolz.

Aylin etwa macht heute eine Lehre als Bürokauffrau. Wie bei allen von Rosa betreuten Frauen, wurden mit der Zeit vorsichtige Kontakte zu den Eltern in die Wege geleitet. Inzwischen hat sie ihre Mutter wieder gesehen – vorsichtshalber, als Vater und Bruder im Urlaub waren. Noch ist die Lage brisant. Der Vorwurf steht im Raum, die Ehre der Familie beschmutzt zu haben.

Trotz aller bitteren Erfahrung sagt Aylin: “Ich bin eine stolze Türkin.”

Auf ihr Land und ihre Religion lässt sie nichts kommen. Sie kritisiert aber, der Koran werde gern zum Vorteil der Männer und zum Nachteil der Frauen ausgelegt – besonders wenn Musliminnen mehr wollten, als nur an Heim und Herd verweilen. Wer dagegen aufbegehre und wie Aylin und ihre Freundinnen das Elternhaus verlasse, sei schnell als Hure abgestempelt.

Auch junge Männer, die wie sie in Deutschland aufgewachsen sind, zeigten oft wenig Verständnis: “Ich denke, es sind zehn Prozent, die unsere Flucht akzeptieren können.”

Kontakt

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