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Psychoanalyse als Weg, Anarchie als Ziel!

| Mittwochsgruppe, Frankfurt/M.

Internationaler Otto-Gross-Kongreß. Hrsg. v. Raimund Dehmlow u. Gottfried Heuer. Marburg an der Lahn (Verlag LiteraturWissenschaft.de), Hannover (Laurentius-Verlag) 2000. 252 S.

Im Gespräch. Hefte der Martin Buber - Gesellschaft, Nrn. 1 & 2, Halbjahreszeitschrift, Verlag für Berlin-Brandenburg, Potsdam 2000/2001, je ca. 80 S., je 25 DM, Jahresabo 45 DM.

Der ‘Anarcho-Psychologe’ Otto Gross (1877-1920), bedeutendster Schüler Sigmund Freuds und enger Freund Erich Mühsams und Franz Jungs, ist sowohl unter PsychoanalytikerInnen als auch unter AnarchistInnen nahezu vergessen. In einem Brief an den Schweizer Arbeiterarzt und Anarchisten Fritz Brupbacher vom Frühjahr 1912 beschrieb er seine Bemühungen, nämlich “die unabsehbare Zukunft der Psychoanalyse gerade als Seele der revolutionären Bewegung von morgen begreiflich zu machen.”

Während AnarchistInnen seine befreiende Psychoanalyse bis heute, ohne sie überhaupt zur Kenntnis genommen zu haben, als nichtrevolutionär diffamieren, war PsychoanalytikerInnen Gross’ Anarchismus, der die patriarchale Gesellschaft durch eine neue Gemeinschaft ersetzen wollte, in der Frauen und Männer gleichberechtigt und frei sein sollten, viel zu radikal: “Allein die völlige Unmöglichkeit jedweder Vormacht Irgendeines über Irgendeinen”, so Gross, “gewährt die Sicherheit, daß nie ein Mensch, in dem der freie schöpferische Ungeist lebt, sich Elementen zweiten Ranges beugen muß” (1919).

Daher ist es ausdrücklich zu begrüßen, daß auf dem vom 28.-30. Mai 1999 in Berlin stattgefundenen Ersten Internationalen Otto-Gross-Kongreß auch eine Internationale Otto-Gross-Gesellschaft e. V. gegründet wurde, über deren Ziele und Aufgaben die Satzung informiert: “Aufgabe der Gesellschaft ist, das Werk und die gesellschaftliche Wirkung der Tätigkeit des Arztes, Wissenschaftlers und Revolutionärs Otto Gross zu erforschen, seinen Einfluß auf die geisteswissenschaftliche Entwicklung des 20. Jahrhunderts darzustellen und die Ergebnisse dieser Arbeit öffentlich zugänglich zu machen, auch durch Veröffentlichungen und Veranstaltungen aller Art […]” (S. 250). Dem Vorstand gehören neben dem Londoner Psychoanalytiker Gottfried Heuer als Vorsitzendem, die Gross-Tochter Sophie Templer-Kuh als Ehrenvorsitzende, die Gross-Biographen Emanuel Hurwitz und Jennifer Michaels, der Verleger Raimund Dehmlow sowie der Gross’-Enkel Anthony Templer an.

Die Internationale Otto-Gross-Gesellschaft (www.ottogross.org) unterhält ein Archiv mit der größten existierenden Sammlung von Texten, Filmen und Tonbändern dieses ‘Anarcho-Psychologen’. Daneben plant die Gesellschaft jährliche wissenschaftliche Tagungen zu Otto Gross, von denen bislang zwei stattgefunden haben: zuletzt in Burghölzli Zürich unter dem Thema Psychiatrie, Psychoanalyse und Literatur (2000); ein entsprechender Kongreßband ist in Vorbereitung. Weitere Tagungen sind 2002 in München und 2003 in Graz, dem Geburtsort von Otto Gross, vorgesehen. Inzwischen hat sich auch die Erich-Mühsam-Gesellschaft (Lübeck) auf ihrer elften Jahrestagung in Malente im Juni 2000 dem Thema “Anarchismus und Psychoanalyse zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Kreis um Erich Mühsam und Otto Gross” gewidmet. Die dort gehaltenen Reden sind in den Schriften der Erich-Mühsam-Gesellschaft, Heft 19, 2000, erschienen.

Die nun vorliegenden gedruckten Vorträge der Ersten Internationalen Otto Gross-Konferenz ermöglichen einen beeindruckenden Überblick über den Einfluß Otto Gross’ auf die anarchistische, subkulturelle, literarische-expressionistische und dadaistische Bewegung seiner Zeit, vor allem in München, Berlin und Ascona. Beleuchtet werden die unterschiedlichen Beziehungen zwischen Otto Gross und einigen Weggefährten: die Anarchisten Erich Mühsam und Johannes Nohl, mit denen er freundschaftlich verbunden war, die Schriftsteller Franz Jung, Franz Werfel und Leonhard Frank, in deren literarischem Werk sich seine Spuren wiederfinden, die Schriftstellerinnen Lou Andreas-Salomé, Margarete Susman, Franziska zu Reventlow und Regina Ullman in ihrem Dialog mit Sigmund Freud und Otto Gross sowie die Dadaisten Hannah Höch und Raoul Hausmann. Abgerundet wird der Band durch Gottfried Heuers informativen Überblick über verlorene, wiedergefundene und neu entdeckte Schriften von Otto Gross, die er einbettet in eine Deutung zum gegenwärtigen Stand der Forschung, sowie eine Zwischenbilanz von Michael Raub. Daß sich die Herausgeber ganz bewußt darum bemühen, Gross’ libertäre Psychoanalyse auf die politische Aktualität zu beziehen, verdeutlicht Heuer in seiner Begrüßungsansprache: “Wenn wir an diesem Wochenende zusammenkommen, um Otto Gross und sein Werk zu feiern, dann sollte das nicht in einem Elfenbeinturm geschehen, sondern wir sollten versuchen, mit der Welt um uns in Beziehung zu bleiben. Gross hat sein Leben lang darum gerungen, die Belange der Welt draußen mit denen der Welt in uns zu verbinden. Daß das Persönliche zugleich das Politische ist, hat nicht erst der Feminismus entdeckt. Es ist wohl nicht zu weit gegriffen, wenn wir Otto Gross’ “Die Psychologie des Unbewußten ist die Philosophie der Revolution!” [1913] verstehen als: Die Psychologie des persönlichen Unbewußten ist die Philosophie der kollektiven politischen Revolution! Der Konflikt des Eigenen mit dem Fremden ist für Gross der Grundkonflikt, der die ganze Menschheit zerreißt innen wie außen. Das meint auch das Morden in Kosovo. Das heißt dieser Krieg, gerade 1000 Kilometer von uns entfernt, hat seine Entsprechungen in den Kriegen sowohl in uns selbst als auch zwischen uns und denen, die wir lieben. Was Otto Gross versucht hat, ist, aus der Tradition anarchistischen Denkens, gegen den Willen zur Macht den Willen zur Beziehung zu setzen.”(S. 6f.) Der Männerbundforscher und Carl-Schmitt-Kritiker Nicolaus Sombart bringt die Bedeutung des Werkes von Otto Gross in seinem Kurzvortrag wie folgt auf den Punkt: “Die theoretische Leistung von Otto Gross besteht darin, die inter- und innerpsychischen Ursachen der Gewalt im Menschen (Mann/Frau) freigelegt und nach Wegen gesucht zu haben, das Übel an der Wurzel zu entschärfen. Das führt in den – für ‘konservatives’ Denken – mit einem Tabu belegten Bereich der Sexualität. Eine Konfrontation von konservativer und ‘psychoanalytischer’ Politiktheorie wirft demnach die skandalöse Frage nach der Relevanz der Sexualität (Triebdynamik, Geschlechtlichkeit, Bisexualität etc.) für jede politische Theorie und ein zeitgenössisch-zeitgemäßes Politikverständnis auf. Man könnte sagen, daß allein darin – abgesehen von jedem revolutionären Veränderungspotential – die geistesgeschichtlich-methodologische Bedeutung der Psychoanalyse, nicht nur für die Definition des Politischen, liegt: die Entstehung einer postfreudianischen Problemlage. Ihre Irreversibilität zu erkennen, statt zu verdrängen, wäre das eigentliche, einzig sinnvolle Ziel des ‘Projektes’.”(S. 232) Beiden – Sombarts und Heuers – Verweisen auf die anhaltende Aktualität des Denkens von Gross ist ausdrücklich zuzustimmen. Das große historische Ziel aller AnarchistInnen, sich zu befreien vom Patriarchat, von der Familie und tabuisierter Sexualität, kurz: inneren wie äußeren Zwängen, und zur kommunitären, ausschweifenden Anarchie freier und gleicher Mernschen zu gelangen, findet in Otto Gross einen seiner nachhaltigsten Vorkämpfer.