transnationales / antimilitarismus

“Der Wille ist ungebrochen”

Ein Interview mit dem israelischen Kriegsdienstverweigerer Lotahn Raz

| Interview: Bernd Drücke, der Flo Redaktionelle Überarbeitung & Übersetzung: der Flo, Mario Galek, Bernd Drücke

Der Kriegsdienstverweigerer Lotahn Raz (22) aus Tel Aviv war im April 2002 und im März 2003 auf Vortragsreisen in Deutschland. Er ist Mitglied von New Profile, einer antimilitaristisch-feministischen Plattform in Israel. New Profile lehnt die in Organisationen übliche Hierarchie ab, unterstützt Kriegsdienstverweigerer, setzt sich für eine Entmilitarisierung der Gesellschaft und eine friedliche Lösung der Konflikte im Nahen Osten ein (Red.).

Graswurzelrevolution: Lotahn, was waren die genauen Gründe für Deine Besuche in Deutschland?

Lotahn Raz: Ich wollte den Menschen in Deutschland vermitteln, wie sich die politische Situation in Israel derzeit darstellt. Nämlich, dass eine Bevölkerung, die in Frieden leben will, in einen dummen Krieg verwickelt ist, der von Politikern geführt wird, die sich nicht um die Sicherheit der eigenen Leute scheren.

Daher halte ich Vorträge, wie hier in Deutschland, in denen ich für die Friedensbewegung, und im speziellen für die immer größer werdende Organisation New Profile werbe, die Kriegsdienstverweigerer in Israel unterstützt. Darüber hinaus habe ich von meinem eigenen Projekt LISTENING FOR PEACE berichtet.

Ich finde es wichtig, dass auch die Menschen in Deutschland von diesen Bewegungen erfahren und uns unterstützen.

GWR: Welche Eindrücke hast Du während Deinem Deutschlandtrip gesammelt?

L.R.: Ich war sehr erfreut zu sehen, wie viele Menschen gegen den Irak-Krieg auf die Straße gingen. Ich war in einem Gymnasium im Münsterland, an dem 700 der 1000 Schülerinnen und Schüler aus eigener Initiative die Schule verließen, um gegen den Krieg zu demonstrieren. Viele der Schülerinnen und Schüler waren politisch sehr interessiert und fragten mich nach meinen Erfahrungen im Widerstand. Die jungen Leute wirkten einerseits sehr aktiv und sprachen über wichtige Dinge, andererseits hatten sie mit ihrer Unsicherheit zu kämpfen.

Kannst Du die Arbeit von New Profile kurz beschreiben?

Ein wesentliches Ziel von New Profile ist die Zusammenführung und Unterstützung von Kriegsdienstverweigerern. Wir geben ihnen Informationen und klären über die Möglichkeiten auf, den Kriegsdienst in Israel zu verweigern.

Wir haben ein Netzwerk geschaffen, an das sich alle wenden können, die aus der Armee austreten möchten. Junge VertreterInnen unserer Organisation regen überall im Land Diskussionen mit AltersgenossInnen an, über den Dienst bei der Armee und über die Bedeutung des Militärdienstes in ihrem Leben. Wir halten Seminare und organisieren Veranstaltungen, in denen wir über die Militarisierung der israelischen Gesellschaft informieren und versuchen, neue Sichtweisen zu vermitteln.

Außerdem rufen wir zu verschiedenen konkreten Aktionen auf, wie zu der bisher größten Protestaktion gegen die Wehrpflicht in Israel, die wir zusammen mit anderen bedeutenden Widerstandsorganisationen am 11. April 2003 veranstaltet haben.

New Profile bezeichnet sich selbst als eine feministische Organisation. Kannst Du uns etwas über die Situation der Frauen, speziell der Soldatinnen in Israel sagen?

New Profile ist insofern feministisch, als es Sexismus und die Art wie er im Militär praktiziert und aufrechterhalten wird, nicht akzeptiert. Das ist ein Anliegen von New Profile. Wir, pro-feministische Männer und Frauen, sind basisdemokratisch organisiert und kümmern uns nicht nur um feministische Belange.

In Israel haben Frauen einen 21-monatigen Militärdienst abzuleisten. Im Gegensatz zu den Männern haben Frauen das Recht, den Dienst an der Waffe aus Gewissensgründen zu verweigern. Jedes Jahr sind es Hunderte von jungen Frauen, die diesen Weg wählen. Und das, obwohl dieser Schritt nicht leicht ist und sie sich vor einem strengen Verweigerungskomitee rechtfertigen müssen.

Soldatinnen werden in Israel normalerweise in der Armeeverwaltung eingesetzt. Einige Frauen pochen jedoch auf das Recht, in Kampfeinheiten dienen zu dürfen, was als Bestrebung um Gleichberechtigung angesehen wird. Dass ihnen diese Möglichkeit nicht von vornherein gegeben wird, offenbart die frauendiskriminierenden Strukturen in der israelischen Armee.

Diese Strukturen sind so stark, dass viele Soldatinnen sich nicht trauen über ihre Wünsche zu sprechen. Stattdessen meinen sie, die männliche Rolle übernehmen zu müssen, in der es gilt, zäh und heroisch zu sein. Sie ziehen sich in sich zurück und werden zu dem gefühllosen Soldaten, der bereit ist, zu töten und getötet zu werden.

Am 15. Februar 2003 demonstrierten 10 bis 15 Millionen Menschen überall auf der Welt gegen den dritten Golfkrieg. Was denkt die israelische Bevölkerung über diesen Krieg?

Viele Israelis sind der Meinung, dass Saddam Hussein ein Feind der Sicherheit Israels ist, der beseitigt werden muss. Die Angst, dass Israel wie während des Golfkrieges 1991 von Saddam beschossen würde, lähmte viele Menschen. Und doch äußerten viele tausend Israelis ihre Ablehnung gegen diesen Krieg. So zogen am 15. Februar auch etwa 3.000 Menschen – Juden wie Araber – durch die Straßen Tel Avivs und protestierten.

Wie beeinflusst der Militarismus das Lebensgefühl in Israel?

Die Jungs werden dazu erzogen, Stärke zu zeigen, ihre Gefühle zu leugnen, nicht zu weinen und hart gegen sich selbst zu sein. Von Kindesbeinen an ist ihnen bewusst, dass sie mit 18 Jahren in die Armee eintreten werden. Soldaten kommen in die Schulen, berichten vom Dienst an der Waffe und erklären, warum es angeblich unverzichtbar sei, zum Militär zu gehen. Unmengen von Geldern werden dem Militär zur Verfügung gestellt, während zivile Projekte immer weniger Berücksichtigung finden.

Um die Menschen vom Denken über Alternativen zum Militär abzuhalten, wird eine Atmosphäre von ständiger Unruhe und permanenter Bedrohung hergestellt.

Es entsteht der Eindruck, als wären alle Personen, die in Israel etwas bedeutendes zu sagen hätten Soldaten oder hohe Militärs. Die meisten unserer Premierminister und Politiker sind Ex-Generäle. Menschen, die nicht in der Armee dienen, wie natürlich die Araber, aber auch die Orthodoxen oder eben die Kriegsdienstverweigerer werden ausgegrenzt und bestimmter Privilegien beraubt.

In unserer Zeitung haben wir häufig über Jonathan Ben Artzi berichtet (1). Was weißt Du über seine Situation?

Jonathans Fall wird noch vor dem Militärgericht verhandelt. Er war 196 Tage im Gefängnis und befindet sich derzeit im offenen Strafvollzug. Ich habe gehört, sein Wille sei ungebrochen. Obwohl er weiß, dass ihm im schlimmsten Falle drei Jahre Gefängnis drohen.

Du warst selbst aufgrund Deiner Verweigerung 56 Tage im Gefängnis. Kannst Du kurz die Umstände während Deiner Zeit in Gefangenschaft beschreiben?

Wir waren damals eine ganze Gruppe von Jungs, die entschieden haben, zu verweigern. Normalerweise wurde man in Israel nur aufgrund von psychischen Problemen oder körperlichen Gebrechen vom Militärdienst befreit. Dass Jungs wie wir aus Gewissensgründen dem Dienst an der Waffe entsagten, hatte man in Israel bis dahin nicht oft gehört. Diesen Zustand wollen wir ändern, indem wir oft in den Medien vertreten sind und Diskussionen anregen.

Welche Chancen siehst Du für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts?

Es gibt eine Lösung für den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Wir müssen einen Zustand herstellen, der jedem Luft zum Leben lässt. Wir können die Uhr nicht zu den Verhältnissen von 1967 oder 1948 zurückdrehen, aber wir müssen den Raum schaffen, der Israelis und Palästinenser glücklich und in Gleichheit leben lässt.

Ich denke, es gibt viele kreative und gute Lösungen, um dies zu erreichen. Eine, und vielleicht die vernünftigste Variante wäre die Zwei-Staaten-Lösung, festgelegt nach den Grenzen von 1967. Jerusalem müsste nach einem guten Plan geteilt, und vernünftige Voraussetzungen für heimkehrende Flüchtlinge geschaffen werden.

Es wird sehr wichtig sein, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, in der Israelis und Palästinenser über die Wunden sprechen können, die sie während den kriegerischen Jahrzehnten erlitten haben. Entscheidend wird sein, dass sich der Hass und die Wut aufeinander nicht mehr bis zur Explosion aufstauen können.

Paul Spiegel, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, sieht eine Chance für eine friedliche Zukunft im Nahen Osten nach dem Fall von Saddam Hussein. Wie denkst Du darüber?

Es ist nicht sinnvoll die Versäumnisse des Staates Israel einem bestimmten Staatsführer aufzubürden und zu behaupten, er wäre die alleinige Quelle des Problems. Es ist wichtig zu bemerken, dass der Angriffskrieg gegen den Irak nicht dazu geeignet ist, den arabischen Wunsch nach Emanzipation im Nahen Osten herzustellen. Denn Frieden schaffen heißt nicht, eine Gruppe zu unterwerfen, sondern wirkliche Partnerschaft herzustellen.

Zeigt die Tatsache, dass viele Israelis bei der letzten Wahl für Sharon stimmten, ein fehlendes Interesse an einem friedlichen Weg zur Lösung des Problems?

Als die Wählerinnen und Wähler für Sharon stimmten, waren sie ängstlich und verunsichert. Sie erwarteten nicht, dass Sharons Politik nachhaltige Ergebnisse erzielen würde. Sie entschieden aus dem Gefühl der Verunsicherung heraus, nicht mit ihrem Verstand.

Die geringe Wahlbeteiligung von nur 64 Prozent zeigt meiner Meinung nach deutlich, dass sich in Sharon nicht die Gedanken und Hoffnungen des israelischen Volkes widerspiegeln.

Wie können die Leserinnen und Leser unserer Zeitung New Profile unterstützen?

Es hilft, wenn unser Anliegen bei immer mehr Menschen in der Welt Beachtung findet. Es hilft, wenn Kriegsdienstverweigerer Zuspruch in Briefen bekommen, die ihnen ins Gefängnis geschickt werden. Und natürlich ist es immer hilfreich Geld zu spenden, damit wir die Möglichkeit haben, den friedlichen Weg noch weiter zu gehen.

GWR: Lotahn, wir danken Dir für dieses Gespräch.

(1) vgl. GWR 274-279

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