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Klassenkampf von oben

"beriestert, verhartzt und gerürupft". Auszüge aus der Rede von Arno Klönne. Gehalten während der Demo gegen Sozialkahlschlag, Münster, 13.12.2003

| Arno Klönne

Die politische Klasse in der Bundesrepublik Deutschland betreibt ihr Geschäft derzeit in der Form einer Großen Koalition - trotz aller Machtspiele um die jeweilige Rollenbesetzung beim Regieren.

Nach eigener Aussage will diese Große Koalition die deutsche Gesellschaft fit machen für den Wettbewerb im globalen Markt. Die PolitikerInnen haben sich die Aufforderung zum Wettbewerbsverhalten offenbar auch selbst zu Herzen genommen – ob Merkel, Merz, Stoiber, Schröder, Clement oder Westerwelle – sie alle wetteifern tagtäglich mit Vorschlägen, wie denn die Demontage sozialer Errungenschaften am zügigsten zu betreiben sei, wie man Rentnern, Patienten und Arbeitslosen, aber auch denen, die noch einen Arbeitsplatz haben, das Fell am nachhaltigsten über die Ohren ziehen kann.

Zur Zeit hat bundesregierend die rot-grüne Koalition das Kommando, und eben weil sie ihre Aufgaben bei den Abbrucharbeiten der sozialen Solidarsysteme so eifrig erledigt, kann dann demnächst die Union, gestützt von der FDP, den Rest umso besser erledigen. Erst wurde beriestert, verhartzt und gerürupft, und demnächst kommt dann die herzogliche Behandlung, final sozusagen. In der sogenannten Marktwirtschaft, die in Wahrheit Herrschaftsökonomie ist, soll es auch hierzulande in Zukunft nicht mehr sozial moderiert zugehen, sondern ungehemmt kapitalistisch.

“Neoliberal” wird diese Politik genannt, aber der Begriff täuscht. Das tatsächliche Leitbild ist sozialdarwinistisch. Die Starken sollen überleben, die Schwachen auf der Strecke bleiben – beim kapitalistischen “Überlebenskampf”. Es handelt sich bei den “Reformen” um einen wirtschaftlich-sozialen Vorstoß, dessen Maxime heißt: Krieg den Hütten, Friede den Palästen. Das gilt weltweit, aber es gilt inzwischen auch für die Bundesrepublik, eines der reichsten Länder der Welt.

In diesem Krieg wird generalstabsmäßig operiert. Seit Jahren schon wurde zunächst ideologischer Nebel verbreitet: Um der Wettbewerbsfähigkeit des eigenen Landes willen müsse jeder und jede den Gürtel enger schnallen, der finanziell bedrängte Staat könne sich Sozialausgaben nicht mehr leisten, die Unternehmen müssten von Steuern, Lohnkosten und Sozialabgaben entlastet werden, nur dann werde Geld für Investitionen frei und Arbeitsplätze könnten neu geschaffen werden. Nichts davon trifft zu. Die deutsche Wirtschaft ist Exportweltmeister, der Außenhandelsüberschuss der Bundesrepublik ist höher denn je, an Kapital mangelt es überhaupt nicht. Was fehlt, ist eine ausreichende Binnennachfrage. Und außerdem lohnt es nicht, Kapital in den Aufbau langfristiger und Arbeitsplätze hervorbringender Produktionen zu stecken, wenn durch Operationen im globalen Finanzmarkt oder durch Firmenaufkäufe schneller und höher Profit gemacht werden kann. Was die öffentlichen Haushalte angeht: Allerdings haben Bund, Länder und Kommunen massive Löcher in ihren Etats. Aber die sind nicht durch zu großzügige Ausgaben für soziale Leistungen, für Bildung als öffentliches Gut oder für Umweltschutz entstanden, sondern dadurch, dass die großen Gewinne und Vermögen immer mehr von ihren steuerlichen Pflichten entbunden wurden.

Gefährdet ist nicht der Unternehmensstandort, nicht der Kapitalstandort Deutschland, sondern destruiert wird der Sozialstandort, und zwar durchaus absichtsvoll. Die Nebelwerferei diente der Tarnung eines Angriffs, der unter Helmut Kohl und dann unter Gerhard Schröder begonnen wurde; die Angriffslinien sehen so aus: Erstens soll das gesamte System kollektiv-solidarischer Sicherung im Alter, im Krankheitsfall und bei Arbeitslosigkeit schrittweise weggeräumt werden. Das diszipliniert die ArbeitnehmerInnen, und außerdem wird privatwirtschaftlichen Gewinnabsichten ein riesiges neues Geschäftsfeld eröffnet. Zweitens wird das Steuersystem noch weiter umgeschichtet zu Gunsten des großen Kapitals und zu Lasten der Masse der Arbeitnehmerinnen und Normalkonsumenten. “Steuerreform”, “Steuervereinfachung” – das soll hinauslaufen auf die Bundesrepublik als Steuerparadies für den Reichtum. Drittens soll noch weiter “privatisiert” werden, d.h.: Bisher öffentlich oder gemeinwirtschaftlich betriebene Einrichtungen und Dienstleistungen werden kommerzialisiert, profittauglich gemacht. Was bei den Verkehrssystemen und der Energieversorgung begonnen hat, wird fortgesetzt, bis hin zum Bildungssektor.

Viertens soll der gewerkschaftlichen Tarifpolitik der Boden entzogen und der Niedriglohnsektor ausgebaut werden, Arbeitskraft soll zum Billigangebot gezwungen, von der Assoziation weggedrängt werden. Es ist klar, daß auf diese Weise Expansion von Armut auch in der Bundesrepublik hervorgerufen wird. Das nehmen die Politikerinnen in Kauf, denn – wie Wolfgang Clement sagt – “soziale Ungleichheit wirkt gesellschaftlich produktiv”, was heißt: sie fördert die Gewinnchancen bei der Kapitalverwertung. Nichts anderes ist der Sinn jener Politik, die unter dem netten Namen “Agenda Zweitausendzehn” daherkommt. Aufgabe der PolitikerInnen sei es, so hat Gerhard Schröder gesagt, “Geleitschutz für die Wirtschaft zu fahren”. Genau daran hält sich die politische Klasse, und unter “Wirtschaft” versteht sie das Kapitalinteresse, dem sie innergesellschaftlich und, falls erforderlich, auch außen- und militärpolitisch zu Diensten ist.

Seit vielen Jahren ist der Bevölkerung der Bundesrepublik massenmedial erzählt worden, das Zeitalter der Klassenkämpfe sei ein für allemal vorbei. Der realistische Blick in die gesellschaftliche Gegenwart zeigt demgegenüber: Da wird Klassenkampf geführt von oben her. In einer solchen Situation hilft Wegducken nicht weiter. Das gilt gerade auch für die Gewerkschaften. Wenn sie nicht lernen, mehr Courage zu entwickeln, gegen die Sozialdemontage auch mit Streiks vorzugehen, dann werden sie sich demnächst noch für ihre bloße Existenz entschuldigen müssen. Druck bringt man nur zum Halt durch Gegendruck. Und wer sich dabei auf den Parlaments- und Parteienbetrieb verlässt, der ist schon verlassen. In der Auseinandersetzung der sozialen Klassen muss Demokratie offenbar neu erlernt und neu buchstabiert werden – von unten her. “Es rettet uns kein höh’res Wesen” – schon gar nicht ein Kapitalkanzler oder eine Kapitalkanzlerin. Opposition ist möglich aber nur dann, wenn wir sie selbst in die Hand nehmen.

Demokratisches Engagement beginnt dort, wo Menschen sagen: Das lassen wir uns nicht gefallen.

Anmerkungen

Prof. Dr. Arno Klönne (*1931) lehrte Soziologie an der Universität Paderborn. Er ist Autor von "Jugend im Dritten Reich" (PapyRossa 03) u.a.