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Lesen mit Schmerzen

Antifaschistische Aufklärung tut weh: "... und über uns kein Himmel"

| Bernd Drücke

"Hören mit Schmerzen: 

Hör mit Schmerzen
Hör mit Schmerzen
Hör meine Wunden
Hör mit Schmerzen
Hör mit Schmerzen
Wir schlagen Dich tot
Hör mit Schmerzen
Hör mit Schmerzen
Hör mit Schmerzen
Negativ
Hör mit Schmerzen
Hör mit Schmerzen
Hör mit Schmerzen
Aus"

Einstürzende Neubauten (Kollaps, 1981) (*)

Der Begriff “Comic” wird bekanntlich vom englischen “comic strip” (“komischer Streifen”) abgeleitet. Der im Oktober 2012 von dem Soziologen und Filmemacher Robert Krieg und dem Zeichner Daniel Daemgen im Verlag Graswurzelrevolution vorgelegte Band “…und über uns kein Himmel” ist in diesem Sinne kein Comic.

Auch wenn Daemgens Zeichenstil mich an bekannte US-amerikanische Comiczeichner erinnert.

Im Gegensatz zu den klassischen U-Comics gibt es in dem Band von Daemgen und Krieg nicht eine einzige Stelle, an der ich lachen kann. Im Gegenteil. Wer dieses Buch liest, erleidet Schmerzen. Es erzeugt Trauer und Wut. Und doch ist die Lektüre eine große Bereicherung.

Diese Graphic Novel ist wichtig, weil sie im besten Sinne politisiert, weil sie aufklärt über Macht- und Herrschaftsverhältnisse im Deutschland der Nazizeit und der postfaschistischen Bundesrepublik. Sie ermöglicht einen direkten persönlichen Zugang zu einem weitgehend vergessen gemachten Teil der deutschen Geschichte, indem sie die Grausamkeit der nationalsozialistischen Heimerziehung anhand einer authentischen Lebensgeschichte nachzeichnet.

Der Künstler Daemgen und der Autor Krieg skizzieren die Odyssee eines Jungen durch Heime der öffentlichen Fürsorge von 1936 bis 1953.

Für die Nazis und für die meisten der in den Heimen tätigen Nonnen, Diakonissen, Pfarrer und Ärzte waren Kinder, die in Waisenhäusern aufwuchsen, “nutzlose Esser”, die von der Gesellschaft durchgefüttert werden mussten. Die Heimkinder galten als “sozial minderwertig”.

Wenn ein Psychiater einen Fürsorgezögling beurteilte und in einem Gutachten als “geisteskrank” stigmatisierte, konnte das einem Todesurteil gleichkommen.

Wie durch ein Wunder und anders als viele seiner Leidensgenossinnen und Leidensgenossen überlebte der im Buch in “Fritz Blume” umbenannte Junge die Anstalten.

“Als Menschen existierten wir nicht für sie. Sie haben nie ein Wort mit uns gesprochen.” (Fritz Blume über Anstaltsärzte und Nonnen, Seite 40)

Etwa 200.000 Menschen wurden bis 1945 Todesopfer der nationalsozialistischen “Rassenhygiene” und der “Vernichtung unwerten Lebens”. 350.000 bis 400.000 von den Nazis als “lebensunwert” stigmatisierte Menschen wurden zwangssterilisiert.

Die Kapitulation des Nazi-Regimes am 8. Mai 1945 änderte nur wenig an den menschenfeindlichen Zuständen in den deutschen Heimen und Anstalten. Extreme Misshandlungen, Folter und sexuelle Gewalt, verübt vom meist christlichen Anstaltspersonal, waren auch in der Nachkriegszeit an der Tagesordnung.

Die Täterinnen und Täter wurden in der Regel nicht belangt. Die meisten, die sich in der NS-Zeit am Euthanasieprogramm und der menschenverachtenden Praxis in den Heimen beteiligt haben, konnten ihre Arbeit in der Bundesrepublik nahtlos fortsetzen. So auch Dr. Theodor Niebel. Er war Psychiater und der Leitende Arzt der “Kinderfachabteilung”, in der Fritz Blume zur NS-Zeit leiden musste. Niebel wurde 1957 sogar zum Landesmedizinalrat befördert. Bis zu seiner Pensionierung 1968 blieb dieser Menschenmetzger unbehelligt. Im Buch beschreibt ihn Fritz Blume: “Niebel führte … eine Rückenmarkspunktion durch, um mein ‘Gehirnwasser’ zu untersuchen. Wochenlang lag ich mit Schwindelgefühlen und Brechreiz im Bett. Eine mörderische Welt. Doch ich hatte Glück: ich wurde nicht wie die anderen Kinder abgespritzt. Die Beurteilung einer Lehrerin … rettete mir das Leben.” (S. 48 f.)

Die Traumata, die das vergewaltigte Heimkind damals unter christlicher “Obhut” erleiden musste, sind ungeheuerlich.

Daemgen hat einige dieser an dem Jungen verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit exemplarisch dargestellt.

Ich kann gut nachempfinden, dass der heute noch lebende Fritz Blume nicht mit richtigem Namen genannt werden will.

Die grafischen Darstellungen seiner persönlich erlittenen Traumata dürften für ihn kaum auszuhalten sein. Wahrscheinlich muss jedes Opfer solch grausamer Gewalt die erlittenen Verletzungen ein Stück weit verdrängen, um überleben zu können und nicht retraumatisiert zu werden.

Den erlittenen Demütigungen und der Tatsache, dass die der Zwangspsychiatrisierung ausgelieferten Menschen keine UnterstützerInnen hatten, hat Fritz Blume getrotzt. Er gehört zu den wenigen, die sich nicht scheuten, das begangene Unrecht selbst öffentlich zu machen und Entschädigung zu fordern.

Er verschaffte sich Gehör in einer Gesellschaft, die durch zwölf Jahre Nazidiktatur nachhaltig geprägt worden war und die Misshandlung “sozial Minderwertiger” stillschweigend duldete.

Beteiligte Nonnen suchte er auf und konfrontierte sie mit den unter den Dächern kirchlicher Anstalten begangenen Verbrechen. Er wurde abgewimmelt. “Der Anstaltspfarrer des St. Johannes Stifts, August Heide, hat mich schlicht aus seiner Wohnung geworfen.”

Kritik

Zeichnerischer Schwerpunkt der Graphic Novel ist die Zeit bis zu Fritz Blumes Entlassung aus dem “Irrenhaus” 1953. Robert Krieg beschreibt in seinem mit Originaldokumenten und Fotos angereicherten Nachwort auch die weitere Entwicklung und stellt historische und aktuelle Zusammenhänge her (S. 91 ff.).

Ein besonders erschütternder Aspekt der autobiografischen Geschichte wird allerdings nicht mehr benannt.

Nachdem Fritz Blume sein Abitur nachgemacht und sein Studium beendet hatte, fiel ihm Ende der 1970er Jahre seine alte Akte aus der Nazizeit auf die Füße. Als Sohn einer “psychopathischen Selbstmörderin” wurde er von Naziärzten automatisch zum “erbkranken Psychopathen” gestempelt. Seine von Naziverbrechern verfasste “Psychopathenakte” hatte zur Folge, dass er seinen Beruf als Gymnasiallehrer nie ausüben durfte. Ein erschütterndes Beispiel für die Macht eines systemübergreifenden Faschismus in den Amtsstuben und Köpfen vieler deutscher Beamter.

Fazit

So schließt eine am 24. November 2012 im Neuen Deutschland erschienene Rezension: “Der französische Literaturwissenschaftler Francis Lacassin erhob 1971 den Comic als ‘Neunte Kunst’ in den Kanon der bildenden Künste. Kunst will aufklären. Und das leistet dieses Buch.”

Tatsächlich ist Daniel Daemgen und Robert Krieg mit “…und über uns kein Himmel” ein politisch und künstlerisch wertvolles Werk aus der Graswurzelperspektive gelungen.

Ein bewegender Beitrag zur Geschichtsschreibung von unten.

(*) Einstürzende Neubauten, Video "Hören mit Schmerzen" online:
www.youtube.com/watch?v=YjK_WwSwAQ4

Robert Krieg / Daniel Daemgen, ...und über uns kein Himmel, Graphic Novel, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg, Oktober 2012, 95 DIN A 4 Seiten, 14,90 Euro, ISBN 978-3-939045-18-2