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“Wir gehen nicht in den Untergrund, wir gehen in die Berge”

Prozesse gegen S21-Gegnerinnen und -Gegner in Stuttgart. Ein Interview mit Andrea Schmidt

| Interview: Gesine Kulcke

Die Prozessflut in Stuttgart reißt nicht ab. Mehr als 1.000 Verfahren gegen Stuttgart 21 Gegnerinnen und Gegner sind vor dem Amts- und Landgericht anhängig. Es geht um Sitzblockaden, Kunstaktionen und Besetzungen. Am 21. Januar 2014 wird erneut ein Prozess vor dem Amtsgericht eröffnet. Dazu sagt Aktivistin Andrea Schmidt: "Wir gehen nicht in den Untergrund, wir gehen in die Berge." Mit ihr sprach Gesine Kulcke.

Graswurzelrevolution (GWR): Wieso geht ihr nicht in den Untergrund, sondern auf die Berge? Um was geht es am 21. Januar 2014 vor dem Amtsgericht Stuttgart?

Andrea Schmidt: Es wäre natürlich auch interessant, in den Untergrund zu gehen [lacht]. Aber in Stuttgart müssen wir im Widerstand gegen den Tiefbahnhof Stuttgart 21 oben bleiben. Und deshalb haben wir am 10. November 2012 mit mehr als 20 Leuten das Stuttgarter Rathaus besetzt.

GWR: Wie habt ihr das gemacht? Seid ihr aufs Rathausdach gestiegen?

Andrea Schmidt: Wir haben den Sitzungsaal des Gemeinderats besetzt, um die weitere Stadtzerstörung aufzuhalten.

GWR: Wie seid ihr in den Sitzungssaal gekommen?

Andrea Schmidt: Die Bewegung hatte an dem Tag zu einem Ratschlag eingeladen, da der Stuttgarter Rosensteinpark akut bedroht war.

GWR: Ratschlag, was ist damit gemeint?

Andrea Schmidt: Der Ratschlag ist ein offenes Plenum der Bewegung gegen Stuttgart 21.

GWR: Und wie wurde aus dem Ratschlag eine Besetzung?

Andrea Schmidt: Zum Abschluss des Ratschlags gab es eine Erklärung mit der Aufforderung im Rathaus zu bleiben, um am folgenden Tag ein BürgerInnenparlament einzuberufen. Dazu haben wir vom Rathausbalkon zwei Banner gehängt: “Schluss mit der Stadtzerstörung” und “Besetzt”. Vor dem Rathaus haben sich mehr als 200 Leute mit dem Banner “Hände weg vom Rosensteinpark” mit der Besetzung solidarisch erklärt.

GWR: Was wolltet ihr damit erreichen?

Andrea Schmidt: Wir haben das Rathaus acht Stunden lang besetzt nachdem Land, Stadt, Bahn und die Region Stuttgart angekündigt hatten, weitere hundert Bäume für Stuttgart 21 zu fällen. In der Nacht auf den 14. Februar 2012 mussten wir ohnmächtig miterleben, wie weitere 180 Bäume im Schlossgarten gefällt wurden. Nach wie vor steckte uns der 30.09.2010 in den Knochen, das brutale Vorgehen der Polizei mit Reizgas, Wasserwerfen und Schlagstöcken. Also beschlossen wir vor den Baumfällungen im Stuttgarter Rosensteinpark, den Ort der politischen Entscheidungen zu besetzen.

GWR: Was passierte in diesen acht Stunden?

Andrea Schmidt: Nach knapp sechs Stunden kam der Verwaltungsbürgermeister Werner Wölfle(Grüne) in den Sitzungssaal und forderte uns auf zu gehen. Wir erklärten natürlich, dass wir nicht gehen, sondern zur Gründung eines BürgerInnenparlaments aufrufen.

GWR: Was genau ist mit dem BürgerInnenparlament gemeint?

Andrea Schmidt: Hinter dem BürgerInnenparlament steckt die Idee, dass die Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt ihre eigenen politischen Entscheidungen treffen: Wir haben ein Recht auf Stadt, und nehmen es uns jetzt.

GWR: Und wie soll sich das BürgerInnenparlament organisieren?

Andrea Schmidt: In der Nacht zum 11. November hat Werner Wölfle zwar verhindert, dass wir uns unser Recht auf Stadt nehmen und dafür gesorgt, dass uns die Polizei räumt. Doch im Januar 2013 haben wir zum ersten Konvent des BürgerInnenparlaments wieder ins Rathaus eingeladen …

GWR: … ins Rathaus? Haben die euch denn da wieder reingelassen?

Andrea Schmidt: Ja, aber wir mussten die Veranstaltung buchen, als wären wir eine Privatfirma, die ein Event plant. Zahlen mussten wir dafür mehr als 2000 Euro. Hätten wir das BürgerInnenparlament über eine Partei angemeldet, hätten wir nichts zahlen müssen. Ein absolutes Unding!

Aber es war eine bewusste Entscheidung, trotz der anfallenden Kosten nicht über eine Partei zu gehen: Jahrelang haben uns Parteien vorgeführt, egal welcher Couleur. Man muss sich das mal vorstellen, nach mehr als 50 Jahren hat es Baden-Württemberg endlich geschafft, die CDU und die FDP aus der Regierungsverantwortung zu entlassen. Kretschmann hat im März 2011 gewonnen und dann wurde auch noch ein Jahr später im Oktober der Grüne Fritz Kuhn zum Oberbürgermeister der Landeshauptstadt gewählt. Und was hat es gebracht? Sie nennen es kritisch begleiten, aber im Grunde beteiligen sich die Grünen jetzt ohne große Widerrede am Bau von Stuttgart 21 …

GWR: Und auf diesem Konvent im Rathaus, wer kam da, und was passierte?

Andrea Schmidt: Eingeladen haben wir zum Stuttgart selber machen. Beim ersten Konvent am 19. Januar 2013 gab es entsprechend viel Input zu zivilgesellschaftlichen Organisationsformen: zu den Zapatistas, zum Bürgerhaushalt in Porto Alegre (Brasilien) und zu G 1000 in Belgien.

Dazu waren alle Teilnehmer_innen eingeladen – und zum Konvent war natürlich die ganze Stadt eingeladen – Organisationsformen für eine Zivilgesellschaft zu finden, die sich selbst ermächtigt, denn Politik ist einfach zu kostbar, um sie Politikerinnen und Politikern zu überlassen.

GWR: Und, gibt es jetzt ein BürgerInnenparlament?

Andrea Schmidt: Tja, soweit wären wir gerne, aber nachdem wir einen zweiten Konvent im Rathausveranstaltet haben, müssen wir weitere 2000 Euro zahlen. Damit müssen wir für unsere selbstbestimmte Bürgerbeteiligung also erst einmal offene Rechnungen von mehr als 4000 Euro begleichen – einfach nur für die Nutzung des Offenen Rathauses Stuttgart – so nennt es die Stadt Stuttgart.

Um Gerichtsvollzieher von uns fernzuhalten und Offenbarungseide zu vermeiden, überweisen wir seit Monaten immer mal wieder 21 Euro an die Stadt.

GWR: Ihr habt weitere Veranstaltungen im Rathaus geplant und auch umgesetzt, obwohl ihr im Januar vor Gericht stehen werdet, was ja bedeutet, dass jemand nach der Rathausbesetzung Anzeige gegen euch erstattet hat …

Andrea Schmidt: Ja, die Stadt hat wegen Hausfriedensbruch Anzeige erstattet. Nur zwei Tage nach der Rathausräumung hatten alle AktivistInnen ein Schreiben mit dem Hinweis auf ein eingeleitetes Ermittlungsverfahren im Briefkasten. Natürlich Hausfriedensbruch. Das ist so ne Art Mantra für das Stuttgarter Amtsgericht: Immer wieder werden Aktionen gegen dieses unnütze Großprojekt Stuttgart 21 vom Amtsgericht als Hausfriedensbruch bezeichnet: sei es die Nordflügelbesetzung, die Nordflügeldachbesetzung, die Südflügelbesetzung, die Südflügeldachbesetzung: alles Hausfriedensbruch …

GWR: Aber es ist kein Hausfriedensbruch …

Andrea Schmidt: Definitiv nicht. Es geht hier um Proteste im öffentlichen Raum, in dem wir ein Recht auf Versammlungsfreiheit haben. Das muss vor Gericht anerkannt werden. Es muss anerkannt werden, dass es nicht einfach um private Interessen und Hausfriedensbruch geht, sondern um politische Prozesse, in denen wir unser Recht auf Stadt einfordern.

GWR: Wir werden von Rechtsbeiständen wie z.B. Holger Isabelle Jänicke [siehe Interview in dieser GWR], Cécile Lecomte und Hanna Poddig unterstützt.

Termin

Dritter Konvent zum BürgerInnen-Parlament, Samstag, 25. Januar 2014, 11 bis 17 Uhr, Rathaus Stuttgart, Marktplatz 1. Thema: "Herrschafts- & hierarchiefreie Zone BürgerInnen-Parlament?" Referent: Bernd Drücke (Graswurzelrevolution-Redakteur). Es geht um Basisdemokratie, Emanzipation, Konsensfindung, Anarchismus, Herrschafts- und Gewaltfreiheit. Weitere Infos: http://buergerinnenparlament.wordpress.com/