anarchismus

“Wir waren Verrückte”

Projekt A, Jugend- und Protestbewegung in den 1980er Jahren. Ein Gespräch mit dem ehemaligen AHA!-Redakteur Andreas Ess (Teil 2). Fortsetzung aus GWR 384

| Interview: Bernd Drücke

Graswurzelrevolution (GWR): Was ist heute zu machen? Meinst Du, man kann heute noch einmal einen Projekt-A-Neustart probieren?

Oder würdest Du eher sagen, das Projekt A ist Geschichte und es gibt keine Möglichkeit, an diese Ideen, die im Projekt A-Buch gut dargestellt sind, noch einmal anzuknüpfen?

Andreas Ess: Na ja, das “Horst Stowasser Projekt A”, sag ich mal, ist auch ein Stück weit daran gescheitert, dass Horst Stowasser mit dabei war, ohne dass er das jetzt wollte, weil er ja auch von vielen als Leitfigur, die man als Anarcho bekämpfen muss, empfunden wurde.

Wenn man voraussetzt, dass Scheitern in dem Fall eben heißt, dass es nicht stattfindet, dann ist es gescheitert. Aber es hat verändert. Es hat Gedankenwelten verändert. Das ist mehr wert als die meisten Zeitungen, die wir bisher herausgegeben haben. Die tun das in der Regel nämlich nicht. Das Ding hat wirklich Gedankenwelten bei Menschen verändert. Es hat Biografien verändert. Das ist auch nicht ganz unwichtig. Zum Beispiel meine. Oder auch die von Bernd Elsner, dem Kollegen, den du für die GWR 383 interviewt hast. Da hat es definitiv Biografien verändert und das ist ja auch etwas. Ich würde mir meine Biografie nicht ohne das Projekt A vorstellen wollen. Ich weiß nicht, wo ich dann wäre.

Ja klar, das ist jederzeit reproduzierbar. Ich weiß nicht, ob heute jemand hingeht und sich das Projekt-A-Buch schnappt, liest und sagt, oh geil, das mache ich jetzt. Kann sein, kann aber auch sein, dass sich jemand das Buch schnappt und sagt, das ist Anfang der 80er Jahre entstanden, lass uns das mal ein bisschen umarbeiten und gucken, ob wir da nicht etwas draus machen. Vielleicht können wir auch von den Erfahrungen profitieren, die die damit gemacht haben. Wir haben ja nun wirklich teilweise recht böse Fehler gemacht, und bestimmte Fehler muss man heute nicht mehr machen.

Wenn man das als gescheitert sehen will, dann kann man das tun, aber ich halte diese Sicht für eine kapitalistische. Wenn ich sage, Projekt A ist nur dann nicht gescheitert, wenn es tatsächlich sein vorher definiertes Ziel zu 100 % erreicht, das ist eine kapitalistische Sichtweise. Also, ich definiere am Punkt A, wie die Welt am Punkt B aussehen soll und wenn das nicht funktioniert, dann bin ich böse darüber.

Das ist aber Unsinn, weil eigentlich die Welt ja fließt, nicht nur, aber auch im Anarchismus. Und das soll sie auch tun.

Wenn dann so ein Projekt untergeht, natürlich nicht ohne Spuren zu hinterlassen, dann ist das auch in Ordnung so.

GWR: Du hast ja eben schon Kritik am “Nischen-Anarchismus” geübt, der sich im Grunde vor allem um sich selbst dreht. Wie meinst du denn, dass es möglich wäre, dass anarchistische Aktivistinnen und Aktivisten aus der Nische heraustreten und in der Gesellschaft mehr Veränderungen bewirken können?

Andreas Ess: Ich würde mich heute so gar nicht mehr definieren. Ich bin heute einer, der schlicht und ergreifend lebt. Und ich habe bewusst Kontakt zu den unterschiedlichsten Menschen, das unterscheidet mich zum Beispiel von dem Andreas von vor 30 oder 40 Jahren. Ich bin heute auch wieder stolz darauf, ein Fußballfan zu sein. Ich gehe auf die Südtribüne, wenn ich eine Karte kriege. Ich habe zwar keine Dauerkarte, weil ich mir die nicht leisten kann, aber ich gehe dahin, wenn ich eine Karte kriege. Und da gröl ich auch fröhlich mit. Da schäme ich mich auch kein bisschen mehr für.

Früher war das halt so, als Anarcho, ogottogott, da kannst du doch kein Fußballfan sein. Oder überhaupt Sportler. Sportler, das waren doch Arschlöcher. Das waren doch Leute, die dem Kapitalismus auf den Leim gegangen sind. Ich komme ursprünglich aus dem Radsport. Ich habe intensiv, auch hochleistungsmäßig Radsport betrieben. Das habe ich immer verheimlicht.

Übrigens: Horst war Hochleistungs-Behindertensportler. Der war Schwimmer. Der war richtig gut, aber der hat das verschwiegen, in den meisten Fällen. Der hat das den Leuten nicht auf die Nase gebunden. Auch ich habe das erst mitgekriegt, weil der zwei- bis dreimal in der Woche plötzlich immer weg war.

Ich habe ihn gefragt, wo gehst du eigentlich immer hin? Er hat dann rumgedruckst, ja er geht schwimmen. Ja, sag ich, da geh ich doch mal mit, schwimmen ist doch schön. Da stellte sich heraus, dass der deutlich schneller war als ich, obwohl er ja aufgrund seiner Behinderung eigentlich unterlegen war, er war ja ein Stück weit gelähmt. Alter Schwede, der ging ab wie Schnuff, und der war ja zu dem Zeitpunkt kein Zwanzigjähriger mehr. Das war nicht üblich so etwas zu outen, damals.

Dazu noch eine lustige Geschichte, der eine oder andere Anarcho wird sie vielleicht nicht lustig finden: Horst hatte ja so eine total spannende, dunkle Wohnung, mit ganz vielen Büchern. Das war eine sehr gemütliche Wohnung, da konnte man toffte leben, da wurde auch noch geraucht, dafür würdest du ja heute schon erschossen. Da wurde auch gekifft in der Bude, zwar nicht übermäßig, aber eben so, dass das gesellschaftlich schön war. Da traf man sich, da waren immer viele Leute. Das war auch eine gastfreundliche Bude, da waren immer irgendwelche Gäste. Und er hatte in irgendeiner heimlichen Schublade so einen Papierbastelbogen von so einem Kriegsschiff. Das hat er dann irgendwann mal in einer stillen Stunde herausgeholt. Guck mal, so was mache ich, aber das darfst du keinem erzählen. Jetzt ist er ja tot, jetzt kann ich das durchaus erzählen, denke ich. Das gibt wenig über Horst Stowasser preis, aber viel über die Bewegung, in der wir uns befunden haben. Da gab es viele Denkhemmungen und Denkverbote, und die gibt es auch heute noch. Und das in einer anarchistischen Bewegung, das ist eigentlich absurd! Jetzt mal im Ernst, dass Horst mit so einem Papierboot nicht in den Krieg zieht, ist ja klar. Und dass er auch nicht unbedingt damit den Krieg verherrlicht, ist auch relativ klar. Der hat einfach Spaß an dieser Bastelei gehabt und hat das gemacht. Er war ja See-affin, weil er aus Norddeutschland kam. Das war sein Ding. Aber die allermeisten Anarchisten, wenn die das gesehen hätten, wären die durchgedreht. Darüber muss man sich im Klaren sein. Und genauso reagierten die auch auf Hochleistungssport. Hochleistungssport war bäh. Wobei ich einige der Kritikpunkte natürlich auch teile, keine Frage. Die ganze Doping-Nummer, ich komme aus dem Radsport, da braucht man nicht drüber lachen. Das ist tatsächlich so gewesen. Das war damals in den 80er Jahren, da war ich so 18, 19, natürlich haben wir gedopt, wir wären ja nie im Leben so schnell geworden, ohne.

Aber ich denke schon, man muss den Menschen auch die Möglichkeit geben, ohne solche Denkverbote ihre eigenen Erfahrungen zu machen, selber auf die Fresse zu fallen und am Ende daraus die Konsequenzen zu ziehen. Da ist dann teilweise in der Anarchobewegung so eine Stimmung wie: “Ich passe auf alle auf und keiner darf hier ausscheren und ich bin die Mutti für alle, als Bewegung”. Das ist nicht wirklich gut. Insofern definiere ich mich heute auch anders. Ich bin bewusst im Kontakt mit Menschen, die völlig anders sind als ich. Wie gesagt, ich gehe zum Sport und bin in einem Fan-Club, der aus einer Richtung kommt, die ich eigentlich nicht lustig finde. Also, jetzt keine Rechten, aber schon anders. Ich stelle fest, dass viele dort einfach nette Leute sind und dass man, wenn man mit denen anständig umgeht, auch eher mal in eine Diskussion kommt. Also schon in dem Sinne, wie Horst das auch gewollt hat. Das ist einfach tägliches Leben. Aber ich würde mir schon auch vorstellen können auch mal wieder anders zu arbeiten, als ich das gerade tue.

GWR: Du bist seit vielen Jahren Abonnent der Graswurzelrevolution. Das heißt, Du verfolgst immer noch mehr oder weniger, was sich in der anarchistischen Bewegung tut. Da hast Du Kritik. Kannst Du dazu etwas sagen?

Andreas Ess: Die Graswurzelrevolution ist in erster Linie ein Intellektuellen-Blatt, Punkt. Es ist immer noch eine Bleiwüste, das sage ich auch als ehemaliger Zeitungsmacher. Ich war ja Anarcho, wir haben ja alle Zeitung gemacht. Ich finde sie schwer zu lesen. Und ich habe immerhin studiert. Ich finde sie trotzdem schwer zu lesen. Viele meiner Kollegen, die nicht studiert haben, können sie überhaupt nicht lesen.

Es gab Zeitungen, die fand ich klasse. Auch aus dem linken, anarchistischen Spektrum. Eine, die richtig gut war, das war die von unge aus Köln. Das war Bild-Zeitungs-Niveau, sprachlich, aber nicht inhaltlich. Bedauerlicherweise gibt es die nicht mehr.

GWR: Für die, die die von unge (Kölsch für: “von unten”) nicht kennen: sie erschien von 1992 bis 1998 als “Kölsches Blatt” und war ähnlich aufgemacht wie der Kölner Express, eine Boulevardzeitung, also große Schrift, große Bilder, kurze, einfache Texte, und tatsächlich äußerlich kaum zu unterscheiden von der Bild-Zeitung. Aber trotzdem mit einer anarchistischen Tendenz und auch libertären Texten. (1)

Andreas Ess: Da waren richtig gute Leute drin.

GWR: Ja, das war eine tolle Lokalzeitung, die monatliche Auflagen von 5.000 bis 40.000 erreicht hat. Verkauft wurde sie vor allem von Punks und Obdachlosen, die die Hälfte des 90 Pfennig-Verkaufspreises einstecken konnten. Das ist eine spannende Geschichte. Das war ein ganz anderes Zeitungskonzept, als es die wenigen heute noch existierenden anarchistischen Zeitungen haben.

Andreas Ess: Man muss sich im Klaren sein, dass die allermeisten Menschen in Deutschland nicht in der Lage sind, eine Zeitung, die ein sprachlich deutlich höheres Niveau hat als die Bildzeitung, auch nur zu verstehen. Das ist auch durch Untersuchungen abgesichert. Das ist tatsächlich so. Die mögen die manchmal lesen, sei es die Westfälische Rundschau, so in Dortmund und Umgebung oder die Ruhr-Nachrichten oder so was, ja, aber sie verstehen viele Artikel nicht. Das ist ein Problem, wenn ich Menschen erreichen will und ich spreche eine Sprache, die sie nicht verstehen. Ich kann doch genauso gut Chinesisch reden. Ich kann in Deutschland doch keine chinesische Zeitung herausgeben, das ist lächerlich. Genauso lächerlich sind eben auch Anarcho-Zeitungen, die sich auf einem intellektuellen Niveau abspielen, wo wirklich nur noch Priester und Soziologen mithalten können. Das tut mir leid, das will ich eigentlich nicht. Ich lese die Graswurzelrevolution, ja, ich lese auch manche Artikel, bei manchen kräuseln sich mir aber die Haare, weil ich denke: Gott, wer schreibt so einen Scheiß?! Was spielt sich in deren Köpfen ab? Womit verdienen die ihr Geld? Was tun die in ihrer Freizeit? Lesen die nur noch soziologisches Schriftgut? Mir rollen sich da die Haare auf. Ich kriege da einen Föhn von.

Um mal wieder konkret zu werden: Es gab vor einiger Zeit im Rahmen eines Streiks von einer klassischen Gewerkschaft eine ähnliche Zeitung wie die von unge. Auch die: aufgemacht wie die Bildzeitung, aber mit gewerkschaftlichen Themen. Übrigens ist die genauso verreckt wie die von unge. Das war ein Blatt, wo ich gesagt habe: “Meine Fresse, ist die gut”. Nicht dass ich jetzt jeden Inhalt geteilt hätte, um Gottes Willen. Aber das war verständlich und die Leute von der Baustelle, die ersetzen dann möglicherweise die Zeitung, die sie normalerweise lesen, eben die Bild-Zeitung, für ein paar Minuten durch diese. Das ist etwas, das du mit der Graswurzelrevolution, mit der Süddeutschen, egal mit welcher Zeitung in Deutschland, nicht erreichst.

Dagegen anzustinken, das wäre doch mal eine Sache, die so richtig Spaß machen würde.

GWR: Vielleicht hast Du noch etwas, was Du den GWR-Leserinnen und Lesern mit auf den Weg geben willst? Eine Perspektive für gesellschaftliche Veränderung, für die Anarchie?

Andreas Ess: Ich denke, das Wichtigste ist, dass man halbwegs anständig versucht zu leben. Wir haben gesellschaftliche Ziele definiert, die “höher, schneller, weiter” heißen. Ich komme aus dem Sport, da sind die eigentlich her und da gehören die auch hin, aber nur dahin. Dieses “höher, schneller, weiter” bringt Leute um, und zwar in Masse inzwischen, das macht Leute fertig.

Einfach mal ein bisschen runter kühlen und überlegen: Ist das, was die mir erzählen, was ich alles brauche, um anständig zu leben, tatsächlich das, was ich wirklich brauche?

Muss ich tatsächlich ein Blätterrauschen von einer teuren Stereo-Anlage haben oder kann ich einfach rausgehen? So ein Stück weit einfaches Leben probieren, nicht auf alles verzichten, ich esse für mein Leben gerne, auch wenn man es mir nicht ansieht.

Man muss sich einfach überlegen, wo setze ich meine Prioritäten? Muss ich wirklich alles haben? Wenn der Nachbar ein neues dickes Auto fährt, brauche ich das wirklich auch?

Kann ich nicht besser zu Fuß gehen oder mit dem Fahrrad fahren oder vielleicht die Strecke gar nicht gehen? Nur einfach nachdenken und dann Schlüsse ziehen, jeder einzelne für sich und jeder auch verantwortlich für sich.

(1) Zur Geschichte der von unge siehe: Bernd Drücke, Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland, Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 1998, S. 420-425

Projekt A für die Ohren

Die Projekt A-Interviews mit Bernd Elsner (GWR 383) und Andreas Ess (GWR 384/385) werden am 29.12.2013, ab 19.04 Uhr als Radio Graswurzelrevolution-Sendung im Bürgerfunk auf Antenne Münster (95,4 Mhz. / Livestream auf www.antenne-muenster.de) ausgestrahlt. Wg. GEMA leider nur ohne Musik sind die Gespräche der Sendung auch zu hören auf: www.freie-radios.net/60524