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Die Provinzialisierung des internationalen Anarchosyndikalismus

| Dieter Nelles

Helge Döhring: Anarchosyndikalismus. Einführung in die Theorie und Geschichte einer internationalen Bewegung. Verlag Edition AV, Lich 2017, 228 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-86841-143-0

In den letzten dreißig Jahren ist die Erforschung der Geschichte des Anarchismus und revolutionären Syndikalismus in bemerkenswerter Weise vorangekommen und hat viele neue Erkenntnisse gebracht. Die anarchistische und syndikalistische Bewegung war ein weltweites Phänomen und als Massenbewegung nicht auf die romanischen Länder beschränkt, sondern auch in Osteuropa, in Lateinamerika, Asien und Südafrika, verbreitet.

Nach der Implosion des realen Sozialismus und der Anpassung der internationalen Sozialdemokratie an den Neoliberalismus werden der Anarchismus und revolutionäre Syndikalismus nicht mehr nur als Randerscheinung der Arbeiterbewegung interpretiert, sondern auch als nicht abgegoltene Alternative zum globalen kapitalistischen Herrschaftssystem. Gleichzeitig findet auf wissenschaftlicher Ebene ein verstärkter Austausch statt, etwa durch Publikationen und Konferenzen des „Anarchist Studies Network“ und der vom „Internationalen Institut für Sozialgeschichte“ (IISG) durchgeführten Tagungen der „European Social Science History Conference“.

Über die revolutionär-syndikalistischen Bewegungen gibt es nicht nur umfangreiche neue Monographien, sondern auch internationale vergleichende Analysen. Dabei lassen sich grob zwei Interpretationen unterscheiden. Wayne Thorpe und Marcel van der Linden verwenden den Begriff in einem weiten Sinn und verstehen darunter alle revolutionären Organisationen, die das Konzept der direkten Aktion vertreten. Ähnlich argumentieren Lucian van der Walt und Michael Schmidt, die von einer „broad anarchist tradition“ ausgehen und den anarchistischen Charakter des revolutionären Syndikalismus hervorheben, ungeachtet der Frage, ob sich die Mitglieder dieser Bewegungen diesem engen Beziehungsverhältnis bewusst waren oder nicht.

Dem gegenüber vertreten Bert Altena und Vadim Damier eine engere Typologie des revolutionären Syndikalismus und betonen die Bedeutung der Ideologie, d. h. des Anarchismus. Der Syndikalismus, so Altena, war nicht eine auf den Arbeitsplatz beschränkte sozioökonomische Bewegung, sondern eng verknüpft mit anarchistischen Aktivitäten oder schloss diese ein. Damier hat eine monumentale Arbeit über die anarchosyndikalistische Internationale Arbeiter-Assoziation (IAA) verfasst, die leider nur in russischer Sprache vorliegt.  Eine ausgezeichnete Überblicksdarstellung über den Anarchosyndikalismus im 20. Jahrhundert von ihm ist jedoch in englischer Sprache erhältlich.

Von einer Einführung in die Theorie und Geschichte des internationalen Anarchosyndikalismus würde man erwarten, dass der Autor die internationale Diskussion aufgreift und die wichtigsten Publikationen in deutscher und zumindest in englischer Sprache vorstellt. Dies ist bei Helge Döhring nicht der Fall. Zwar erwähnt er einige der wesentlichen Arbeiten im Vorwort, greift deren Thesen in seiner Arbeit aber nur selten auf, um sie summarisch mit der Bemerkung abzufertigen, es mangele ihnen „mitunter stark an begrifflicher Schärfe, sowie an einer schlüssigen Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes“ (S. 13).

Wie auch in seinen bisherigen Publikationen zum deutschen Anarchosyndikalismus blendet Döhring die Literatur zum Thema weitgehend aus, weil er sie offenbar nicht kennt oder weil er sie vorsätzlich ignoriert, da er bestimmte AutorInnen, Verlage oder Zeitschriften nicht mag; darunter die Graswurzelrevolution oder das „Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit“, in denen wichtige Arbeiten zum Thema erschienen sind.

Die mangelnde Kenntnis der Literatur kaschiert er mit der forschen Behauptung, für seine Darstellung sei „keine oberflächliche, lediglich sich an Sekundärliteratur abarbeitende Betrachtung, sondern vielmehr eine kombinierte Wechselwirkung der historischen Quellen mit aktuellen Praxiserfahrungen“ erforderlich (S.12). Es bleibt für die Leserinnen und Leser ein Rätsel, wie diese „Wechselwirkung“ nun aussieht und von welchen „aktuellen Praxiserfahrungen“ er ausgeht.

Döhring benutzt fast ausschließlich Quellen aus deutschen anarchosyndikalistischen Zeitungen und Broschüren. Abgesehen von der methodisch sehr problematischen Vorgehensweise nur Selbstzeugnisse der Bewegung zu verwenden, die nicht quellenkritisch reflektiert werden, entsteht für die Zeit nach 1933 ein gravierendes Problem, da die bedeutendsten Publikationen der IAA nur noch in französischer und spanischer Sprache erschienen sind. Und misst man den Verfasser an seinem eigenen Anspruch, dann hat er sehr maßgebende, sogar leicht zugängliche Quellen nicht benutzt. Die Briefwechsel mit Rudolf Rocker, Helmut Rüdiger, Augustin Souchy u. a. in den digitalisierten Nachlässen von Max Nettlau und Emma Goldman im IISG ermöglichen tiefere Einblicke in das Innenleben des internationalen Anarchosyndikalismus als gedruckte Dokumente; ganz zu schweigen vom Restbestand des IAA-Archivs und den Nachlässen Rocker und Rüdiger im IISG, die Döhring nicht berücksichtigt.

Aus seiner Not, der mangelnden Kenntnis der Literatur und Quellen, möchte Döhring eine Tugend machen. Mit der vorzugsweisen Benutzung deutschsprachiger Quellen und Literatur wolle er „dem deutschsprachigen Lesepublikum entgegenkommen“, um diesem den Zugang „in geographischer Nähe zum eigenen Lebensumfeld“ zu erleichtern und um „konkrete und praktische Bezüge herzustellen“ (S. 12). Das Resultat seiner Anstrengungen ist dementsprechend provinziell, keinesfalls „repräsentativ für die Geschichte des internationalen Syndikalismus“ (S. 12), wie er vorgibt, sondern eine Abhandlung aus deutscher Perspektive mit internationalen Bezügen, die indes vor sachlichen Fehlern und Auslassungen nur so strotzt.

Dies möchte ich an einigen besonderen gravierenden Punkten beleuchten. Die Liste ließe sich allerdings für jedes Kapitel beliebig erweitern.

  1. Döhring übergeht die Vorgeschichte des syndikalistischen Internationalismus. Die internationale syndikalistische Konferenz 1913 in London, auf der Vertreter von 12 Ländern aus Europa und Lateinamerika ein internationales Informationsbüro gründeten, wird überhaupt nicht erwähnt. An diese Kontakte konnte die FAUD unter maßgeblicher Initiative Rudolf Rockers nach dem Ersten Weltkrieg anknüpfen, um ein Gegengewicht zur kommunistischen Roten Gewerkschafts-Internationale (RGI) zu bilden, die ihrerseits stark um die syndikalistischen Organisationen warb. Nach drei Jahren heftiger Auseinandersetzungen wurde Ende 1922 die IAA gegründet, der sich aber nicht alle syndikalistischen Organisationen anschlossen; ein nicht unbedeutender Teil der syndikalistischen Organisationen traten der RGI bei, die antiautoritäre IWW oder die föderative „Allgemeine Arbeiterunion (Einheitsorganisation)“ keiner der beiden Organisation. Die von Rocker verfasste Prinzipienerklärung markierte den Übergang vom revolutionären Syndikalismus zum Anarchosyndikalismus mit ihrer radikalen Ablehnung politischer Parteien und des Staates. Döhring behandelt diese entscheidende Phase auf knapp einer Seite. Und das grundlegende Buch von Wayne Thorpe über die Entstehung der IAA kennt er offensichtlich nicht.
  2. Über die wichtigsten Personen und die Tätigkeiten des Sekretariats sowie die ideologischen Auseinandersetzungen in der IAA berichtet Döhring nur in Andeutungen. Interessierte LeserInnen verweise ich diesbezüglich auf die Arbeit von Damier.
  3. Die 1930er Jahre und damit die Spanische Revolution fehlen vollständig im geschichtlichen Überblick über die IAA, obwohl diese Phase doch die wirkungsgeschichtlich bedeutsamste war. Zwar geht er auf einigen Seiten auf Spanien ein, dies aber nur unter der Prämisse der politischen Anpassung der CNT. Dass aber die IAA über die Frage der Regierungsbeteiligung der CNT fast auseinanderbrach, ist kein Thema für Döhring. Seine Ausführungen über die IAA enden 1931 und setzen erst wieder in der Nachkriegszeit ein.

Im umgekehrt proportionalen Verhältnis zu den dürftigen Befunden des Verfassers steht dessen Selbstüberhöhung. Als erste Kraft des selbst ernannten „Instituts für Syndikalismusforschung“ geriert er sich als Chefhistoriker der kleinen syndikalistischen Bewegung. Er preist sein Buch als „Essenz aus über 10 Jahren intensiver Syndikalismusforschung“, das einen „begeisternden Anklang“ gefunden habe und „die ständig geifernden Stammkritiker bis dato verstummen ließ“. (1)

Seinen Fans mag er mit solchen Auskünften imponieren, diejenigen, die von der Sache etwas verstehen, schlagen nur die Hände über dem Kopf zusammen.

Dieter Nelles

(1) Institut für Syndikalismusforschung 2007 – 2017. 10 Jahre Syfo. Ein Bericht über unsere Arbeit, S. 5.