transnationales

Brexit – das ewige Drama geht weiter

Das Imperium schlägt zurück

| Mark Huhnen

Foto: ijclark via flickr.com ("Dover Banksy"),(CC BY 2.0)

Mittlerweile sind mehr als zweieinhalb Jahre vergangen seit 17,4 Millionen WählerInnen sich für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union ausgesprochen haben. Am 15. Januar 2019 hat sich nun das Unterhaus mit mehr als Zweidrittelmehrheit gegen den von Theresa May mit der EU ausgehandelten Austrittsvertrag gestellt – weniger als drei Monate vor dem geplanten Austrittsdatum. Die Fragen, die sich alle stellen, sind: Wie konnte es dazu kommen? Und wie geht es weiter?

Beide Fragen werden hier in England, wo ich seit mehr als 15 Jahren lebe und Familie habe, viel gestellt und unterschiedlich beantwortet. Ich werde versuchen, einige Erklärungsansätze zu skizzieren und weitere Fragen anzudeuten, ohne auch nur annähernd den Anspruch auf Vollständigkeit zu haben. Einige der Erklärungsversuche scheinen mir erstaunlich deckungsgleich mit den verschiedenen Strömungen zu sein, die es scheinbar unmöglich machen, einen Konsens oder auch nur eine einfache Mehrheit zu finden.

EWG, EG und später EU sind Fortentwicklungen der Idee, dass wirtschaftliche Verflechtung in Europa und Interdependenz die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit eines erneuten (Welt-)Kriegs verringern. Ungeachtet der Frage, ob wirtschaftliche Verflechtung die beste Kriegsprävention ist, gibt es durchaus Unterschiede in der Wahrnehmung insularer und kontinentaler EuropäerInnen. Auf dem Kontinent, wo mehr Menschen eine direkte Erfahrung der Verheerung auf eigenem Boden hatten, wurde der Aspekt der friedlichen Konfliktlösung durchaus intensiver gesehen und diskutiert. Vielleicht ist es kein Zufall, dass jetzt, wenn die letzten ZeitzeugInnen sterben, nationalistische und eben auch anti-europäische Tendenzen, auch auf dem Kontinent, stark zunehmen. Aus englischer Perspektive passierte der Krieg immer (oder seit 1066) irgendwo anders. Obwohl ich nicht den traumatisierenden Effekt der Bombardierung britischer Städte durch die deutsche Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg schmälern möchte, war der Eindruck hier doch oft ein anderer. Britannia ging aus den meisten Kriegen als Gewinnerin hervor und hat gut verdient an „splendid isolation“, „empire“ und Sklavenhandel. Ein (auch dank Margaret Thatcher selbstverschuldeter) Niedergang der Industrie und der Wirtschaft ganzer Regionen hat dazu geführt, dass der Eindruck entstehen konnte, dass England zwar den Krieg (oder die Kriege) gewonnen hat, aber den Frieden verloren, während Deutschland, der Kriegsverlierer, als blühend und boomend wahrgenommen wird. Während der Brexit-Verhandlungen mit der EU hat es zum Beispiel immer wieder Versuche britischer PolitikerInnen gegeben, lieber direkt mit Berlin zu verhandeln, das von Vielen als das eigentliche Machtzentrum Europas wahrgenommen wird.

Eine der Strömungen im Brexit ist in der Tat ein nostalgisches „Zurück zur guten alten Zeit“. Die „hard Brexiters“ der ultrakonservativen „European Research Group“ um Jacob Rees-Mogg bedient diese Strömung besonders mit Slogans wie „No deal, no problem“. Schließlich brauche Europa Großbritannien mehr als andersherum. Bewegungen noch weiter rechts, zum Beispiel Anhänger von Nigel Farage und der United Kingdom Independence Party oder offen rassistische und faschistische außerparlamentarische Bewegungen, die sich seit dem Brexit ermutigt fühlten, befürworten auch einen harten Brexit.

Foto: Ashley Basil via flickr.com (CC BY 2.0)

Eine komplett andere Strömung, die sich sehr stark für einen Austritt ausgesprochen hat, findet sich in der überwiegend „Labour“-wählenden Bevölkerung der ehemaligen industriellen Zentren besonders im Norden Englands und in Wales. Hier wurde die EU als eine Kraft der wirtschaftlichen Globalisierung wahrgenommen, von der die Mehrheit in diesen Regionen nicht profitiert hat. Dieser Eindruck wurde wahrscheinlich weiter geschürt von der neoliberalen und kriegstreiberischen Blair-Regierung (die sich selber „New Labour“ nannte), wenn Fragen nach Unterstützung zur Erhaltung ganzer Industrien zurückgewiesen wurden mit dem Verweis auf europäische Wettbewerbsregeln. Generell wurde die EU oft als Entschuldigung oder Sündenbock für allerlei politisches Versagen herangezogen.

Die Menschen in diesen postindustriellen Regionen fühlen sich vernachlässigt, missverstanden und bevormundet von den urbanen und oft ‚multikulturelleren‘ Eliten. Eben jene urbanen und eher liberalen Teile der Bevölkerung sind in der Tat schnell mit einem simplifizierenden und herablassenden Vorwurf von Rassismus und Dummheit zur Hand, oft die eigene Verstrickung in strukturellen Rassismus nicht sehend. Diese Teile der Bevölkerung haben sich eher für einen Verbleib ausgesprochen. Innerhalb dieser Strömung finden sich viele jüngere Menschen und Studierende, die mit einer Perspektive einer global immer unsichereren Zukunft viele Hoffnungen in eine gerechtere Wirtschaftsordnung haben. Sie fühlen sich häufig von Jeremy Corbyn, dem Oppositionsführer angesprochen, der sich klar vom Blair‘schen Neoliberalismus distanziert und sich offen als sozialistisch sieht, was ihn zum Buhmann selbst der sogenannten gemäßigten Konservativen macht.

Der andere gewichtige Teil der WählerInnen, der sich für einen Verbleib in der EU ausgesprochen hat, sind Menschen, die immer noch gut verdienen, zum Beispiel im Finanzdienstleistungssektor, die häufig ihre Interessen eher von der konservativen Partei vertreten sehen und eine Corbyn-Regierung um jeden Preis verhindern wollen. ParlamentarierInnen solcher konservativen Wahlkreise haben sich 2016 meist für einen Verbleib in der EU ausgesprochen und sind nun nahe der Labour-Partei-Linie eines Brexits, der nahe an der EU ist, möchten aber nicht als mit Labour zusammen arbeitend gesehen werden.

All diese verschiedenen Strömungen, besonders innerhalb des Austrittslagers, beanspruchen nun die Deutungshoheit für das Ergebnis des Referendums, das bekanntlich eine sehr komplexe Frage in eine binäre verwandelte: Verbleib oder Austritt. Was Verbleib bedeutete war relativ klar, was Austritt bedeutete jedoch nicht. Was wahrscheinlich ein ausschlaggebender Vorteil der Austrittskampagnen war, dass allen möglichen Gruppen alles Mögliche und Unmögliche und oft Widersprüchliches versprochen werden konnte, wird nun zum großen Problem. Theresa May zum Beispiel, aus ihrer Zeit als Innenministerin bekannt für eine harte oder gar rassistische Linie gegenüber Einwanderern, hat eine ihrer berühmten roten Linien gezogen, indem sie die Freizügigkeit ausschloss und damit die Möglichkeit eines Verbleibs im Binnenmarkt. Andere BefürworterInnen eines Austritts hingegen haben einen Fortbestand der Vorteile des Binnenmarktes versprochen.

Der größte Stolperstein scheint aber die Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland, das Teil des Vereinigten Königreichs ist. Befürchtet wird ein Wiederaufflammen des gewaltsamen Konflikts, sollte dort eine Grenze mit Grenzkontrollen entstehen. Eine Lösung des Problems wäre ein Fortbestand in der Zollunion. Dies wollen weite Teile der Austrittsbefürworter nicht, weil sie sich von selbstausgehandelten Handelsabkommen viel versprechen (ein zentrales Versprechen angelehnt an alte imperiale Beziehungen) und weil eine Zollunion mit gemeinsamen Regeln einhergeht. Eine andere Lösung, von der EU vorgeschlagen, wäre ein Verbleib Nordirlands in der Zollunion während der Rest des Königreichs austritt. Dies käme einer Grenze innerhalb des Vereinigten Königreichs gleich und ist mit der DUP, der nordirischen Democratic Unionist Party, auf deren Stimmen Theresa May für eine Mehrheit im Parlament angewiesen ist, nicht zu machen. Selbst die Möglichkeit, dass es dazu kommen könnte, falls es nicht zu einer anderen ausgehandelten Lösung kommt, hat dazu geführt, dass die DUP am 15. Januar 2019 gegen Theresa May gestimmt hat.

Aus legaler Perspektive ist der momentane (16. Januar) Ausgangspunkt, dass das Vereinigte Königreich am 29. März 2019 ohne Vertrag aus der EU austritt. Vorbereitungen für diesen Fall sind nun im Gange, auf beiden Seiten des Kanals. Bei aller Ernsthaftigkeit ist es nun beinahe schon erheiternd, dass das Transport-Ministerium unter anderem einen Vertrag an eine neugegründete Fährfirma vergeben hat, die nicht einmal Fähren hat und ihre Transport- und Vertragsbedingungen von einem Pizzalieferservice kopiert hat. Wie es nun weitergeht, ist sehr schwer zu sagen. Die Grenzen von Parlamentarismus und Referendum werden klar. Eine der mir sympathischsten Ideen ist „citizens assemblies“ einzurichten, Bürgerversammlungen, die dann die verschiedenen Strömungen zusammen bringen können.

Als Nichtbürger (oder Bürger von Nirgendwo, wie Theresa May mich und die 3.5 Millionen anderen EuropäerInnen bezeichnet hat), werde ich natürlich wieder einmal nicht mitreden dürfen, wie schon zur Zeit des Referendums. Weggehen kann ich auch nicht. Meine Tochter lebt mit ihrer Mutter (beide britische Staatsbürgerinnen) hier und geht hier zur Schule. Falls ich je hätte überzeugt werden müssen, dass das Persönliche und das Politische sich überschneiden, weiß ich es jetzt ganz gewiss, es bedarf keiner Überzeugung mehr. Gleichzeitig muss ich eingestehen, dass ich bisher als weißer Europäer enorme Privilegien hatte, verglichen zum Beispiel mit einem syrischen Flüchtling. Perfider weise wird nun eben genau ein solches an sich anti-rassistisches Argument aufgegriffen für ein zumindest in Teilen rassistisches oder nationalistisches Projekt. Ausländer werden gegen Ausländer und natürlich gegen andere Gruppen ausgespielt. Der Rassismus, ohne den die Unterjochung der „Anderen“ im Imperium nicht möglich gewesen wäre, gewinnt. Das Imperium schlägt zurück. Teile und herrsche!

Mark Huhnen ist in NRW aufgewachsen und lebt seit vielen Jahren in England. Im September 2016 erschien in der Graswurzelrevolution Nr. 411 sein Artikel „Brexit verstehen? Gedanken zu den Entwicklungen in meiner Wahlheimat”.

Dies ist ein Beitrag aus der monatlich erscheinenden Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier