Krimi, Cricket und Jihadisten

| Horst Blume

Omar Shahid Hamid: Der Jihadist, Draupadi Verlag, Heidelberg 2019, 290 Seiten, 19,80 Euro, ISBN 978-3-945191-39-2

Geht das alles zusammen? Aber klar doch. Der Buchautor Omar Shahid Hamid arbeitet selbst im pakistanischen Polizeidienst und musste für mehrere Jahre wegen islamistischer Morddrohungen das Land verlassen. Während dieser Zeit schrieb er drei Kriminalromane. Einer davon ist „Der Jihadist“.

Er handelt von dem späteren islamistischen Terroristen Aussi und seinem Freund Eddy, die in der Mannschaft einer renomierten anglisierten Schule in der 15 Millionen-Stadt Karachi begeistert Cricket spielen. Ganz Pakistan ist geradezu besessen von diesem Sport, den die Kolonialmacht Großbritannien ins Land gebracht hat. Selbst der in dem Roman mehrmals als Vorbild erwähnte Cricket-Star Imran Khan ist heute in der Realität Präsident Pakistans. Die gemeinsame Schulfreundin von Aussi und Eddy ist Sana. Zusammen sind sie ein unzertrennliches Dreiergespann, das auch nach der unbeschwerten Schulzeit zwar an weit auseinanderliegenden Orten lebt, aber durch lange Briefe ihren Kontakt unter schwierigen Bedingungen aufrecht erhält. Aussi wird nach mehreren kurzen Zwischenstationen „Scheich Uzair“, der neben unzähligen Greueltaten zwei blutige Präsidentenattentatsversuche und den Mord an einer schwangeren BBC-Journalistin mit dem hebräischen Vornamen Rachel auf dem Gewissen hat.

Wie konnte es soweit kommen?

Die Briefe und die zwischendurch eingestreuten Handlungsstränge in der Gegenwart fügen sich Stück für Stück wie ein Puzzle zu einem verstörenden Gesamtbild zusammen. Während Eddy und Sana als Angehörige des gehobenen Mittelstandes auf Unis in den USA studieren, kann Aussis Vater kein Flugticket ins Ausland für seinen Sohn bezahlen. Sein Haus wurde ihm durch kriminelle Machenschaften weggenommen. Durch diese Deklassierung kann Aussi nur in Pakistan studieren. Hier macht er als Aktivist in einer nur auf den eigenen Vorteil bedachten politischen Partei ernüchternde Erfahrungen.

In der folgenden Zeit muss Eddy erfahren, dass das Leben für ihn keine befriedigenden Perspektiven bietet. In dem Cricket-Team an der Uni wird er durch Kasten-Quotierung und Günstlingswirtschaft ausgegrenzt. Als er ein Mädchen auf dem Campus ansprach, wurde er durch Konservative bedroht und gedemütigt. Nachdem er wegen seiner Parteiaktivitäten Ärger mit der Polizei bekommen hat, muss er für kurze Zeit ins entfernte, schöne, aber zwischen Indien und Pakistan politisch umkämpfte Kaschmir zu Verwandten flüchten. Anschließend kann er mit dem Startgeld der Partei in Britannien Medizin studieren.

Während Eddy und Sana in den USA in die Glitzerwelt von Partys und Privilegien eintauchen, bricht Aussi nach nur sieben Monaten sein Studium ab, muss in einer stinkenden Hähnchenbraterei arbeiten und ein kümmerliches Dasein fristen. Obwohl auch Eddys und Sanas Träume in der Folgezeit empfindliche Dämpfer erhalten, fallen sie aufgrund ihrer mittelständischen Herkunft relativ weich. Der im Abstiegskampf befindliche Aussi hingegen sucht Kontakt zur Islamischen Gesellschaft in London. Das Religiöse interessiert ihn nicht wirklich, denn er macht sich sogar über die „leichtgläubigen Trottel“ lustig. Als hochbegabter Cricket-Stratege findet er jedoch Gefallen daran, andere Menschen zu manipulieren, in seinem Sinn einzusetzen und zur Gewalt anzustacheln.

Zur attraktiven und intellektuellen Sana, die er seit seiner Jugend anhimmelt, kann er jedoch keine Beziehung aufbauen, weil er patriarchalen Vorstellungen anhängt und inzwischen zur Unterklasse gehört. Sie leben in zwei völlig unterschiedlichen Welten. Er fühlt sich herabgesetzt und zum „persönlichen Sozialexperiment“ Sanas degradiert. Seine nun folgenden Aktivitäten im Kosovo, im Rahmen einer muslimischen Hilfsorganisation und später als Kämpfer in Afghanistan, Kaschmir und Pakistan, sind für ihn ein Mittel, aus „den Fesseln seiner bisherigen Existenz auszubrechen“.

Das Cricketspiel war seine Religion, Englisch seine Sprache und doch hatte er für Sanas nach westlichem Vorbild ausgerichteten demokratischen Aktivismus nur Verachtung übrig. Nach seinen verpassten Chancen spielt er stattdessen mit Menschenleben. Mit ziellos eingesetzter Gewalt, aber mit strategischem Geschick und unter Anwendung von Manipulationstechniken bei der Rekrutierung von Selbstmordattentätern avanciert er zum gefährlichsten Terroristen Pakistans. Während Eddy und Sana, die inzwischen zueinander gefunden haben, die erste Entführung von Aussi noch als coole „James Bond-Aktion“ wahrnehmen, will er die „Welt niederbrennen“, weil seine ursprünglichen Träume geplatzt sind.

Er wird in Indien gefasst, brutal gefoltert und von seinen Kumpanen wieder freigepresst. Ab jetzt zerstört er systematisch und mit einer ausgeklügelten Strategie seine alte liberal-aufgeklärte Familie und Sana. Sogar seinen besten Cricketfreund Eddy, der Sana heiraten will, verschont er nicht. Dass er als Schiit von der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft Pakistans als Abtrünniger angefeindet wurde, spielte in Aussis Jugend keine Rolle. Jetzt ist es ein zusätzlicher Grund, ihn zu töten.

Selbst als gefasster Terrorist im Gefängnis treibt der zum Scheich Uzir gewandelte Aussi seine mörderischen Spielchen weiter und beeinflusst den Wärter, damit er den ermittelnden Kommissar Omar tötet und er selbst fliehen kann. Mit einer atemberaubenden und perfiden Gewalteskalation versucht der Jihadist seinem „verfehlten Leben“ einen Sinn zu geben. Politischer Terrorismus wird hier zu einem persönlichen Rachefeldzug für erlittene demütigende Erfahrungen, die ihre Ursache in sozialen Herabsetzungen haben.

Komplexe, miteinander verschachtelte Handlungsstränge auf unterschiedlichen Zeitebenen verlangen von den LeserInnen ein konzentriertes Mitdenken. Durch die Auseinandersetzung mit dem Text werden sie mit erhellenden Einblicken in die Ursachen des jihadistischen Terrors belohnt. Als Hilfsmittel befinden sich im Anhang ein Lexikon der englischsprachigen Cricketbegriffe, Urdu-Worterklärungen und Definitionen von Berufsbezeichnungen. Und jetzt kann es mit der spannenden Lektüre losgehen!

Horst Blume