libertäre buchseiten

„There is No God“

Zu politischen Schriften und poetischen Texten von Percy Bysshe Shelley (1792-1822)

| Elmar Klink

Percy Bysshe Shelley: There is No God!” Religions- und Herrschaftskritik, Verlag Freiheitsbaum, edition Spinoza, Reutlingen 2019, 172 S., 14 Euro, ISBN 978-3-922589-71-6

Ein bewegtes Dichter- und Rebellenleben der englischen Romantik, das nur knapp dreißig Jahre währte, davon vielleicht zehn dichterisch-schöpferische und politisch aktive. Von Shelley, dem Feuerkopf, Freund Lord Byrons und Ehemann von Mary Wollstonecraft Godwin (offizielle Eheschließung zum Jahreswechsel 1816/17), der ein überschaubares Oeuvre hinterließ, lag bisher auf Deutsch im Leipziger Insel-Verlag eine 1985 erschienene, umfangreiche DDR-Ausgabe „Ausgewählte Werke: Dichtung und Prosa“ in einem Band vor, die 1990 in etwas besserer Ausstattung auch von Insel Frankfurt/M. übernommen wurde. Dies wird nun durch ein 2019 mit speziellem Editionsinteresse neu herausgegebenes Buch des Freidenkers, Verlegers und Publizisten Heiner Jestrabek weiter ergänzt. Von ihm wurden schon mehrere einschlägige Titel mit philosophischen und religionskritischen Schriften bekannter und weniger bekannter Verfasser*innen herausgegeben, so von August Bebel, Rosa Luxemburg, August Thalheimer, Jakob Stern, Matthias Knutzen oder Albert Dulk.

Shelley ertrank als Nichtschwimmer vor der Toskanaküste bei Viareggio während eines Segeltörns, bei dem er, sein Begleiter Edward Williams, noch ein Freund und zwei weitere Seeleute auf der Yacht „Don Juan“ von einem Sturm überrascht wurden. Das Segelboot kenterte und alle an Bord kamen um. Shelleys Leiche trieb einige Tage im Meer, bevor Fischer sie fanden. Am Strand errichteten Freunde einen Scheiterhaufen, auf dem sie Shelleys Leichnam unheilig, aber nicht minder feierlich rituell verbrannten, was auch in einer Zeichnung festgehalten wurde. Die Asche des Dichters wurde zum Teil ins Meer gestreut. Einen Teil davon sowie Shelleys Herz soll Mary an sich genommen und verwahrt haben. Der Rest fand im Urnengrab seine Heimstatt. Shelley war Dichter („An die Feldlerche“; „Ode an die geistige Schönheit“, Sonett „England in 1819“ u. v. a. m.), er übersetzte Werke Calderons und Goethes Faust I. Ferner war er ästhetischer Theoretiker („Verteidigung der Poesie“), radikaler Aufklärer („Die Reform aus philosophischer Sicht“) und politischer Publizist („Eine Botschaft an das Volk …“). Als solcher war er auch Rebell und Atheist (Traktate: „Eine Widerlegung des Deismus“ und „Die Notwendigkeit des Atheismus“, letzterer im Buch enthalten), übte mit ereignisbezogenen Pamphleten und grundsätzlichen Aufsätzen Kritik an Staat, Politik und Religion seiner Zeit. Davon und von Shelleys künstlerischer Person und kurzem, abenteuerlichem Leben handelt dieses Buch.

Das „Jahr ohne Sommer“

Ein bekanntes äußeres Zeit- und Naturereignis in Shelleys Leben sei hier kurz erwähnt, da nicht ohne eine gewisse Bedeutung. Im Jahr 1816 schickte eine ökologische Katastrophe weitab in Südostasien ihre widrigen Klimaboten durch globale Winde bis nach Europa und Amerika. Die im Jahr zuvor durch einen verheerenden Ausbruch des Vulkans Tambora auf der indonesischen Insel Sumbawa ausgestoßenen, riesigen heißen Lavaaschewolken, zogen um die Welt. Sie verdüsterten und trübten vielerorts wochenlang den Himmel ein. Es führte zu anhaltenden Regen-, ja sogar Schneefällen, Temperaturstürzen und Überschwemmungen von Flüssen wie dem Rhein. Vor allem bei Dämmerung morgens und abends kam es am Firmament zu bizarren Erscheinungen des Lichtspektrums mit vorherrschend gelblich-braunen, ockerfarbenen, orangenen, roten bis violett-bläulichen Farbvariationen, die ineinander flossen. Eine die Konturen verschwimmen lassende Malerei William Turners, Zeitgenosse von Shelley, gibt ein optisches Zeugnis dafür. Weitere Folgen waren drastische Ernteausfälle in vielen Landstrichen, Hungersnöte und Bevölkerungswanderungen. Die ungewöhnlich intensiven Lichtphänomene, die den Himmel bisweilen „brennen“ oder glühen ließen, faszinierten und wurden zugleich bedrohlich als Künder von Unheil empfunden. Stand womöglich sogar der Weltuntergang bevor? Erst im Lauf der Folgejahre normalisierte sich die Lage wieder und verbesserten sich die Ernteerträge.

Der Roman „Frankenstein“

In jenem kalten Sommer 1816 reiste das Paar Shelley-Wollstonecraft Godwin in die Schweiz in die Nähe des Genfer Sees, wo es im Juli schneite. Um dort den Freund Lord Byron in dessen gemietetem Chalet Villa Diodati zu besuchen. Shelly verfasste sein Natur-Poem „Mont Blanc“. In einer zwischen äußerem, befremdendem Klimaphä-nomen und seelischem Reflex ambivalenten Stimmungslage unternahm man Tagesausflüge oder erging sich an dunklen, regnerischen Tagen und nachts zum Zeitvertreib in einer Art Dichter*in- und Gothic-Seancen. Ken Russells Film „Gothic!“ (GB 1986) greift dies in üppiger Ausschmückung auf. Wenn schon Weltuntergang, so sollte es dabei wenigstens toll und ausschweifend zugehen, mögen die Freunde vielleicht gedacht haben. Dadurch und durch den Genuss von Alkohol, Laudanum und allerlei sonstigen psychedelischen Drogen animiert, entstanden Horror- und Fantasy-Kurzgeschichten oder düstere Poeme, die man sich wetteifernd im Rausch gegenseitig vorlas. Besonders Mary Shelleys Ehrgeiz war in der Männerrunde angestachelt. Byrons Leibarzt John Polidori verfasste so lange vor Bram Stokers Dracula-Roman die Erzählung „Der Vampyr“. Byron selbst schrieb das Gedicht „Die Finsternis“. Mary lieferte eine erste Skizze einer Erzählung, aus der ihr berühmter Roman „Frankenstein oder der moderne Prometheus“ hervorgehen sollte. Die „Horrorstory“ vom künstlichen Menschen und „Monster“ aus Leichenteilen, durch atmosphärische Elektrizität von Blitzen zum Leben erweckt, war so gewagt und dazu noch von einer Frau verfasst, dass Mary Shelley sich dazu entschloss, sie zunächst anonym zu veröffentlichen.

In den für das Zusammenwirken des Künstlerpaares Shelley-Wollstonecraft Godwin bedeutenden Roman floss mit ein, was sie, Percy B. Shelley, Lord Byron und der dreien Dichter-Freund John Keats an Kritik an der Gesellschaft, Wissenschaft, Institution Kirche und Religion umtrieb. Das „romantische Monster“ als Projektion menschlicher Furcht vor Freiheit und sozialer Ängste. Die künstlich zum Leben erweckte, missbrauchte und hässliche Kreatur, der es menschlich um nichts anderes geht als Würde zu erlangen und geliebt zu werden – stattdessen gefürchtet, gejagt und in Wahnsinn und Raserei getrieben, so dass sie mordet und verwüstet. Der Arzt Dr. Frankenstein als Ausgeburt menschlicher Hybris, gottgleich neues Leben erschaffen zu wollen. Mary Shelley nahm auch Bezug auf allerlei groteske medizinische Reanimationsversuche zu jener Zeit an Toten mit Stromstößen. Um all dies geht es in diesem frühen literarischen Zeugnis moderner Fragestellung nach dem Leben als romantischem Plädoyer für die Unversehrtheit der Natur und Unantastbarkeit menschlichen Lebens, das weit mehr ist als ein Horror-Drama in Prosa oder eine filmreife Vorlage für Hollywoods banale Horrorküche. Roberto Massari zeigt in seiner Studie „Mary Shelleys Frankenstein‘. Vom romantischen Mythos zu den Anfängen der Science-fiction“ (1989), dass das Verdienst des Buches nicht im Horror, sondern darin liegt, Technik und Fortschrittsglauben zu kritisieren. Die Shelleysche Kreatur tritt als sich selbst reflektierendes, artikuliert sprechendes, geplagtes Wesen auf, das sich selbst vertretend Anklage erhebt gegen die Grausamkeit seines irdenen Erschaffers. In seiner „Akkulturation“, der geistigen Reifung, in der sie erst lesen lernen muss, ist eines der ersten Werke, das sie liest, John Miltons Prosagedicht „Das verlorene Paradies“, das in ihr Fragen und Reflexionen hervorruft.

Nun hatte der Herausgeber primär wohl nicht im Sinn, diesen für seine Absicht eher abseitigen Hintergrund mehr zu beleuchten. Er schreibt zum eigenen Motiv: „Die Insel-Ausgabe ist die umfangreichste moderne Ausgabe. Leider fehlen (oder sind zusammengekürzt) die Teile, die mir wichtig sind (vollständige Queen Mab mit Anmerkungen, in unserer Ausgabe jetzt erstmals in Deutsch vollständig). Es ist ja der rote Faden unserer edition Spinoza, nicht mehr oder selten zu bekommende Texte zu veröffentlichen und zeitgemäß zu kommentieren“. (Mail vom 12.7.2019 an den Verfasser). Zu einem Bücherzettel heißt es: Die edition Spinoza „veröffentlicht Beiträge zur Philosophiegeschichte und Theorie und sieht sich inspiriert von Leben und Werk des Baruch Spinoza (1632-1677), dem Begründer des modernen europäischen Rationalismus“. Soweit zum Editionsvorhaben.

Epochenumbruch 1789

Das Wort Anarchie, ursprünglich aus dem Griechischen, war zwar vereinzelt im Gebrauch, so auch in Shelleys Poem „The Mask of Anarchy“ (Der Maskenzug der Anarchie), aber man benutzte es noch kaum in einem systematischen philosophischen Sinn oder als politischen Kampfbegriff einer Bewegung. Da mussten erst später kritische Geister wie Stirner, Proudhon, Kropotkin und vor allem Bakunin auftreten, um dem Begriff der Herrschaftslosigkeit gegen Shelleys Adaption als Maske des Zügellos-Willkürlichen der Herrschenden die treffende, richtige Bedeutung zukommen zu lassen. Politische Essays, in denen sich Staats- und Herrschaftskritik artikulierte und als Doktrin formulierte, lauteten z. B. „Untersuchung über die politische Gerechtigkeit“ (1793), wie jener von Marys Vater, dem Sozialreformer William Godwin. Man bezog sich am Ende des Absolutismus und in der aufkommenden Industrialisierung mit ihrer proletarisierenden Vermassung kritisch auf den neuen Diskurs über Freiheit, Recht, Demokratie, Regierung, auf das Volk als handelndes politisches Subjekt, den die Aufklärung und die Revolutionen der Neuzeit auf die Tagesordnung gesetzt hatten. Shelleys Schaffenszeit zog sich bis in die nachnapoleonische Ära. Europa war mit Freiheitsrevolution, jakobinischen Exzessen und Krieg dagegen überzogen worden. Napoleon Bonaparte war ein geschickter Nutznießer dieser Konflikte einander widerstrebender Kräfte und spannte die erwachte Nationalgesinnung im eigenen Land ein für die Errichtung seiner Dynastie, seine politischen Reformziele („Code napoléon“) und vor allem monströsen Eroberungszüge bis nach Ägypten und Russland. Dazu trug er auch dem latent weiter existierenden Monarchismus auf seine Weise Rechnung und machte sich 1804 in pseudoaufklärerischer Geste durch Selbstkrönung zum weltlichen Kaiser der Franzosen mit absoluter Vollmacht eines Tribuns, das der Papst nur noch absegnen durfte. Die ausgeblutete Revolution hatte im Machtvakuum ihren Militärdespoten als Erben bekommen.

Doch das aufgeblähte, widersprüchliche Konstrukt konnte nicht lange währen und gutgehen und fiel letztlich nach der „Herrschaft der 100 Tage“ mit Napoleons 1815 verlorener Schlacht gegen eine britisch-preußische Entente auf den Feldern bei Waterloo in sich zusammen. Eine Phase der Reaktion und Restauration des keineswegs ausgerotteten Adels und der zu mehr Macht gelangten höheren Stände kam nun nach Napoleons endgültigem Abgang in die Verbannung auf der britischen Atlantik-Insel Helena wieder verstärkt zum Zug. Zugleich rumorten die Ideen und Ziele der Revolutionen in Amerika und von 1789 mit ihren mächtigen Befreiungsimpulsen in den Köpfen und Herzen der Menschen weiter. Die literarische wie idealistische Romantik gab dieser Stimmung z. T. neuen, natur-schwärmerischen Ausdruck (siehe etwa Rousseaus Vorwegnahme in: „Émile oder über die Erziehung“, 1762), ohne direkt politisch zielgerichtet zu sein; die dann aber z. B. in Deutschland wieder in die republikanische Rebellion in der Übergangsphase im Vormärz mündete. Von 1812 bis 1814 führte die englische Krone bereits wieder Krieg mit dem neuen, unabhängigen US-Amerika. Auch in Irland schwelte antibritische Unruhe, in der Percy B. Shelley sich für die Gleichberechtigung der irischen Katholiken einsetzte und sich gegen die Union mit England aussprach („Aufruf an das irische Volk“; „Vorschläge für eine Vereinigung“).

Mask of Anarchy“ – „Die Maske (oder Der Maskenzug) der Anarchie“

In Italien lebend erfuhr Shelley von einem blutigen Ereignis in England, wo nach den kostspieligen Feldzügen und Koalitionskriegen gegen Napoleon und Frankreich landesweit Arbeitslosigkeit und Hunger herrschten. Soziale Proteste wurden durch Reitertrupps mit Waffengewalt unterdrückt. Am 16. August 1819 kam es auf dem heutigen St. Peter‘s Field in der Baumwollmetropole Manchester zu einem Kavallerieangriff gegen Demonstrierende (Massaker von Manchester). Hunderte wurden niedergeritten, es gab im „Gefecht von Peterloo“ an die 20 Tote und Hunderte schwer Verletzte, darunter Frauen und Kinder. In Europa reagierte man empört und auch Shelley machte sich sofort an ein anklagendes Poem und wandte sich solidarisch an die englischen Arbeiter und ein allgemeines Publikum, um es wachzurütteln.

Bertolt Brecht diente „Mask of Anarchy“ 1947 als Vorbild für sein Poem „Der anachronistische Zug – Freiheit und Democracy“. In Zirkeln kursierend wurde es allerdings erst posthum 1832 veröffentlicht. Das Gedicht hat 91 Strophen, meist im Vierzeiler- (a-a, b-b) oder vereinzelt auch Fünfzeiler-Versmaß (a-a, b-b-b). Bemerkenswert ist, dass in dem Gedicht Anarchy als Gegenbild zur Freiheit benutzt wird. Jestrabek kommentiert dazu in einer Fußnote: „Shelley und andere Republikaner verwendeten den Begriff damals i. S. von Abwesenheit von Recht, institutioneller, willkürlicher Gewalt und Gesetzlosigkeit, die von den Herrschenden gegen das Volk ausgeübt wurde“ (S. 23). Nur so lässt sich auch die Überschrift Anarchie als Maskerade verstehen. An anderer Stelle weist Jestrabek darauf hin, dass Shelley wegen seiner Brisanz und Gefährlichkeit für Sitte, Religion und Moral von der bürgerlichen Gesellschaft gehasst, abgelehnt und geächtet, ja schließlich sogar nach Italien vertrieben wurde. Shelley wäre zudem viel eher von den niederen Ständen gelesen worden.

Fritz Mauthner berichtet in seinen Buch „Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande“ (neu 2011), der kränkliche Shelley sei einmal auf der Post in Pisa, als er nach Briefen fragte und dazu seinen Namen nannte, von einem Engländer und Offizier mit den Worten „Sind Sie Shelley, der Atheist?“ angesprochen und mit einem Fausthieb niedergeschlagen worden. Jeremy Corbyn, der englische Gewerkschaftsführer und Labourpolitiker, zitierte in seiner Ansprache beim vielbesuchten Glastonbury Musik- und Kunst-Festival 2017 in der südwestenglischen Grafschaft Somerset einzelne appellative Verse aus „Mask of Anarchy“. Hier zwei bezeichnende Auszüge aus dem politischen Poem:

(…) Des Verderbens mancherlei / In dem Zuge kam vorbei; / Doch gehüllt in Prunk und Staat / Von Bischof, Pair und Advokat. – Zuletzt die Anarchie, sie sitzt / Auf weißem Rosse blutbespritzt, / Ihr Angesicht, die Lippen bleich, / Dem Tod, den St. Johann sah gleich. – Eine Krone ihre Stirn umspannt, / Ein Zepter glänzt in ihrer Hand, / Auf der Stirne steht, / Ich bin euch Gott, König und Gesetz zugleich. – Schnell und stattlich war der Schritt, / Mit dem sie über England ritt / Und die Menge auf ihrem Pfad, / Zu einer Blutespfütze trat. (…) Von Meer zu Meer, durch Stadt und Feld / Anarchie den Sieg’szug hält. / Ihre Spur sind Blut und Leichen, / Bis sie Londons Stadt erreichen. – Jeder Bürger schreckbefangen / Fühlt sein Herz in Graus erbangen / Als mit Donnerruf empfahen / Wird des Siegeszuges Nahen. – Denn es naht des Söldners Meute / Im gold’nen und im blutigen Kleide, / Alle singend jubeltönig: / „Du bist Gott, Gesetz und König! – O wie lange harren wir, / Mächtige, auf dein Panier / Leer die Beutel, die Schwerter kalt / Gib Ruhm, Blut, Gold uns tausendfalt“. – Advokaten und Paffen beugen / Zur Erde nieder die Sirnen, die bleichen – / Leis tönt’s, wie heuchlerisch Gebet: / „In ihr Gesetz und Herrin seht!“ – Und laut rief es tausendtönig: / „Du bist Herr, Gesetz und König! / Anarchie, dir huldigen wir / Heilig sei dein Nam‘ hierfür! Und Anarchie, ein Knochenmann, / Knirt und grinset Jeden an, / Als hätte, seinen Erzieher zu lohnen, / Das Volk gezahlt zehn Millionen. (…)“ (Deutsche Nachdichtung von Julius Seybt, 1844).

Queen Mab“ – „Feenkönigin Mab“

Das Herzstück des neuen Buches neben der Werk- und Lebensbetrachtung Shelleys durch Heiner Jestrabek (S. 7-32) ist die Dichtung „Queen Mab. Philosophical Poem“ von 1813 (Feenkönigin Mab. Philosophisches Poem ) sowohl erstmals vollständig im Original als auch übersetzt mit erläuternden Anmerkungen zu Textstellen von Shelley persönlich und zusätzlichen Fußnoten des Herausgebers (S. 48-158). Allein dieser zentrale Teil macht aus dem Buch eine sorgfältig bearbeitete Textausgabe mit durchaus auch etwas Meilensteincharakter. Dazu trägt sicher auch die lesefreundliche Aufmachung des Layouts bei mit zweispaltigem Text in fetten Lettern, der durch Zeichnungen, Faksimiles von Originalbuchcovern und s/w-Abbildungen aufgelockert ist. Der Titel Feenkönigin mag vielleicht etwas verwirren und an Kindermärchen denken lassen, was diese Philosophische Dichtung natürlich nicht ist, sondern lediglich ihr Stilmittel ist. Darum auch der Zusatz „philosophical poem“. Die allegorische Verserzählung ist Shelleys erstes poetisch-politisches Werk und er schrieb es bereits 1811 mit 19 Jahren. Es spiegelt auch bereits die Anlagen der weiteren Entwicklung des Dichters, politischen Denkers und Gottverneiners Shelley wider. In seiner Abhandlung „Poetisierung als Kritik“ (Tübingen 2016), die von Jestrabek ausführlich zitiert wird, stellt Hans-Peter Ecker fest, dass Shelley bereits „den schärfsten Angriff auf die christliche Lehre … in seinem Jugendwerk Queen Mab“ führe (Ecker, S. 30f.). Dazu schreibt Ecker:

In Queen Mab wird die Geschichte der Menschheit als eine Reihe von Akten der Gewalt und Unterdrückung geschildert. Ursache des Übels ist nicht die menschliche Natur, sondern die bestehende Verfassung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Königliche Tyrannen verstoßen fortwährend gegen die harmonische Ordnung der Natur, Staatsmänner und Priester sind ihre willigen Werkzeuge. Mit der Religion setzen sie die Menschen in Angst und Schrecken, um sie in Unmündigkeit zu halten. In dieser Situation verderben die Menschen geistig und moralisch, wodurch der allgemeine Übelstand weiter befestigt wird.“ (ebd.)

Ecker zieht nun einen interessanten Vergleich zwischen der Zwiesprache der Feenkönigin Mab, die diese Erkenntnisse dem Geist des schlafenden Mädchens Janthe vermittelt und der Konstellation des Dialogs zwischen dem Geistwesen Ahasver und dem Rabbi in Stefan Heyms Roman „Ahasver“ (1981). Matthias Rude sieht, Shelleys „Notes zu Queen Mab“ zitierend, darin die politische Forderung vorgetragen nach einem „vegetarischen Zustand der Gesellschaft in der alle Energie des Menschen in die Schaffung gänzlichen Glücks gelenkt werden soll“ (Matthias Rude: „Antispeziesismus. Die Befreiung von Mensch und Tier in der Tierrechtsbewegung und in der Linken; theorie.org, 2013).

The Necessity of Atheism“ – „Die Notwendigkeit des Atheismus“

Ebenfalls bereits 1811 entstand dieses Traktat, dessen Text mit der Feststellung beginnt: „Es ist kein Gott!“. Auch er wird, 1813 nochmal erweitert, erstmals vollständig von Jestrabek veröffentlicht auf der Basis einer zusätzlich hinzugezogenen, moderneren Übersetzung von 1992. Man kann die gemeinsam mit dem Studienfreund Thomas Jefferson Hogg verfasste Abhandlung als eine Art Ausführung der aufgeklärten Gedanken von John Locke und David Hume zum Thema ansehen. Es führte zu beider Verweis vom Oxford College. Wie sehr Shelley da schon radikal politisch geerdet war, zeigt ein lange verschollener, 2006 wiederentdeckter „Political Essay of the Existing Things“ (1811), in dem Shelley Kritik übt an kolonialem Imperialismus und Krieg. Die jüngste Marx-Tochter Eleanor berichtet von Shelleys positiver Aufnahme durch Karl Marx und Friedrich Engels. Die Chartisten, eine frühe politische Reformbewegung in Großbritannien für die Rechte und Belange der Arbeiter*innen, so benannt nach der von William Lovett 1835 verfassten People’s Charter, einem Freiheits-Pamphlet mir konkreten politischen Forderungen, wurden von Shelley maßgeblich mit beeinflusst.

Mary Shelley und das Dichter-Erbe

Shelleys Frau überlebte den tödlich verunglückten Dichter um fast dreißig Jahre, in denen sie sich als femme de lettre um das Erbe ihres Mannes verdient machte, wie Jestrabek schreibt. Obwohl ihr Schwiegervater ihr dabei mehrfach Hürden in den Weg legte, der nie viel von seinem Sohn und dessen Werk hielt. So verhinderte er auch eine geplante Biografie über Shelley durch Mary Shelley. Erst 1839 konnte von ihr eine vierbändige Edition der Gedichte P. B. Shelleys besorgt und herausgegeben werden. Das Biografie-Verbot umging sie in gewisser Weise dadurch, dass sie einen literarischen Kunstgriff anwandte, der ihr als selbst erfolgreicher Autorin nicht schwer fiel. Sie veröffentlichte im Jahr 1826 einen halbbiografischen Roman, der in einer fiktiven Zukunft des 21. Jahrhunderts angesiedelt ist und den Titel „The Last Man“ (dt. „Verney, der letzte Mensch“; als TB z. B. 1986) trägt. Dabei ordnete sie einzelnen Personen der Handlung Persönlichkeitsmerkmale von Shelley, Lord Byron und sich selbst unter anderen Namen zu. Der Zukunfts-Roman erschien 2018 bei BoD neu, herausgegeben und übersetzt von Maria Weber (Mary Shelley: „Der letzte Mensch“. Vollst. Ausgabe in einem Band).

Wer freilich nach Shelley-Texten wie „Der entfesselte Prometheus“, „Eine Botschaft an das Volk anlässlich des Todes von Prinzessin Charlotte“, „Laon und Cythna“ (umgearbeitet zu „The Revolt of Islam“), „Die Reform aus philosophischer Sicht“, „Verteidigung der Poesie“ und noch anderem sucht, wird nicht umhin können, sich die einbändigen „Ausgewählten Werke“ bei Insel in einer antiquarischen Ausgabe zu besorgen, worin diese und vieles aus der Vers-Dichtung zweisprachig zu finden sind. Die dortige Einführung zu Person und Werk Shelleys von Horst Höhne ist wohl noch immer mit die kompakteste, kenntnisreiche Kurzdarstellung zu diesem Sujet (Leipziger Ausgabe, 1985, S. 5-65). Für Interessierte am Programm des Verlags Freiheitsbaum, edition Spinoza hält der Verlag auf seiner Homepage eine Übersicht über seine Titel und weitere Freidenker*innen-Informationen bereit. Heiner Jestrabek gibt zudem unregelmäßig ein INFO Frei denken heraus, das man sich gratis online zusenden lassen kann.

Elmar Klink