Donatella Di Cesare: Von der politischen Berufung der Philosophie, Matthes & Seitz, Berlin 2020, 175 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-95757-871-6
Um politisch und gesellschaftsverändernd vorwärts zu kommen, wagt die Philosophin Donatella Di Cesare mit ihrem verdichteten Werk „Von der politischen Berufung der Philosophie“ einen Blick zurück auf die Wurzeln der Philosophie. Ihr Programm fasst sie nach den drei einleitenden Kapiteln wie folgt zusammen: „Anstatt klassisch gewordene Definitionen zu wiederholen, ziehe ich es in diesem Buch vor, das Unzeitliche der Philosophie im Lichte der Fragen der Zeit auf die Probe zu stellen. Deswegen schlage ich eine […] existenzielle und politische Reflexion auf ihr Schicksal, ihre Rolle sowie ihr Potenzial im Zeitalter des Technokapitalismus und der neoliberalen Governance vor.“
Außen stehen
Di Cesares roter Faden ist die Feststellung, dass es im Rahmen der vollendeten Globalisierung kein Außen mehr gibt, was unter anderem zu dem „hyperrealistische[n] Refrain ‚There is no alternative!‘“ geführt habe. Dem gegenüber stellt sie die Aussage, dass Philosoph*in-sein aber gerade heiße, außerhalb zu stehen. Wo können Philosoph*innen demnach heutzutage noch stehen?
Man kann dieses Buch als gute Einführung in die Philosophie verstehen, beginnend ab den „alten Griechen“ bis zur Neuzeit. Philosophie als ein „Abenteuer des Denkens“. Bereits Heraklit versucht, mittels Sprache die Welt zu verstehen. Die griechisch geprägte Philosophie macht Di Cesare fest an den drei griechischen Wörtern Atopie, Uchronie und Anarchie. Dass sie, die sich als politische Berufung zur polis, also zur Stadt, hingezogen fühlt, eigentlich fehl am Platz ist, da sie „außer-Ort“ (atopos) ist. Dass sie gegen-zeitlich (ouchronos) wirkt, also nicht recht in die Zeit zu passen scheint. Di Cesare bezieht An-archie nicht nur auf bzw. gegen die archía, also die Herrschaft, sondern auch auf die archȇ, wenn sie schreibt, dass sie jedes Prinzip untergrabe und jeden Befehl aussetze. „So untersteht die Philosophie nicht nur nicht der Ordnung der archȇ, sie entzieht einer solchen auch die Legitimation.“ Sokrates gilt als „der Archetyp des Philosophen“, mit seinem „Nicht-Wissen“, seinem „In-sich-selbst-Blicken“ und seinem Staunen als einer öffentlichen Praxis. Durch ihn entdeckt die Philosophie erstmals ihre politische Berufung, die aber durch seine Hinrichtung schon wieder beendet wird.
Der Philosoph ist, weil unverortbar, ein Fremder in der eigenen Stadt. Ein dauerhafter Emigrant, ein „erhabener Migrant des Denkens“. Denn das Denken erzeuge Heimatlosigkeit. Zusammen mit Walter Benjamin meint Di Cesare, dass der Philosoph politisch ein Asylsuchender in seiner Stadt sei. Wegen seiner Nicht-Zugehörigkeit finde er sich dabei aufseiten der „Fremden, Exilanten, Einwanderer wieder“, aber auch bei den Nomaden, den Obdachlosen, den Entfremdeten, den Lumpensammlern sei sein Platz.
Heidegger
Der „Fall Heidegger“ wird von Di Cesare als erneuter Versuch der Philosophie geschildert, sich wieder in die Politik einzumischen. Bei dem Medienrummel nach der Veröffentlichung der Schwarzen Hefte vor einigen Jahren – angefangen im Frühjahr 2014 – fragt sie sich, ob der Prozess gegen den Philosophen diesmal nicht eher durch die Medien abgehalten worden sei. Sie beschreibt die falsche Richtung von Heidegger: „Dieser Lehrmeister des vertikalen Falls […] findet jedoch den Ausweg des Exodus nicht und setzt […] auf die falsche Revolution, auf die ‚braune‘.“ Sie meint aber trotzdem, dass es diese Begrenzung des Denkens in der Philosophie nicht geben darf. Aber die heutige Realität sehe anders aus: „Das Etikett ‚Totalitarismus‘ markiert die Grenze, über die man sich nicht hinauswagen darf, und errichtet das Verbotsschild, das im Vorhinein jedwede Alternative diskreditiert.“
Bei der Philosophie gehe es darum, Grenzen immer wieder aufzuzeigen, sie zu überschreiten. Sie löse dabei keine Probleme, sondern stelle radikale Fragen, „eine Theorie der letzten Dinge“, eine Metaphysik. Das sei die Abgrenzung der Philosophie auch von den Wissenschaften, denn diese seien immer begrenzt. Sie seien dem „Diktat des Nützlichen“ unterworfen, einem Ziel untergeordnet, von einem Fortschrittsglauben überzeugt. All das gelte nicht für die Philosophie, die „stets darüber hinausblickt“.
Di Cesare sieht vielmehr, dass die Philosophie der Kunst verwandt sei und an die Literatur grenze. Besonders hebt sie deren Nähe zur Dichtung hervor. Auch beim Dichter sieht sie eine Berufung, indem er sich dem Äußersten aussetzt, und darüber schreibt. Dabei spart die Philosophin nicht an Kritik an der sogenannten normativen Philosophie, die heutzutage vorherrscht. Diese habe sich Wissenschaft, Politik und Wirtschaft vollständig untergeordnet. Sie diene allenfalls dazu, „um die liberale Demokratie zu unterstützen und zu verteidigen“. Sie sei zu einer „Konsensmaschine“ verkommen, dabei lebe „echte“ Philosophie vom Dissens.
Anarchische Philosophie
Im letzten Kapitel „Anarchische Nachschrift“ kommt Di Cesare darauf zurück, dass Philosophie an-archisch ist. Sie bezieht sich dabei auf die Schriften von Emmanuel Levinas, der vorschlägt, das Verhältnis von Selbst und Anderem umzukehren: „Vor dem Selbst kommt der Andere. Vor der Freiheit kommt die Verantwortung. Und diese Letztere ist, da sie ohne Prinzip und Befehl bleibt, eine anarchische.“ Bereits an anderer Stelle hatte Di Cesare darauf hingewiesen, dass man den Anderen bzw. das Fremde nicht negieren sollte, da das einer Selbstverneinung gleichkomme. Stattdessen hebt sie die Bedeutung der Gastfreundschaft hervor: „Denn die Gastfreundschaft bedeutet ein Aussetzen, eine Unterbrechung des Selbst.“
Der Staat versuche, sich als Souverän unverzichtbar zu machen in Bezug auf Ordnung. Mittels der „Dichotomie vom Innen und Außen, von Souveränität und Anarchie“ verweise er die Anarchie nach außen und setze sie mit Chaos und Unordnung gleich. Aber laut Levinas meint Anarchie eine andere Ordnung. Aber, und da zitiert Di Cesare Levinas: „Die An-archie herrscht nicht […] die Anarchie kann nicht souverän sein wie die archȇ.“ In ihrer politischen Form, dem Anarchismus, sieht Di Cesare aber das Problem mit der Souveränität. Deswegen plädiert sie zum Schluss ihres Buches für einen anderen Anarchismus: „Da die Politik eine Forderung nach Gerechtigkeit ist, bedarf es endlich der Artikulation eines Anarchismus der Verantwortung.“
In diesem Buch werden viele griechische Wörter verwendet und übersetzt. Da sie aber immer wieder auftauchen, hilft es beim Lesen dieses Buches, wenn man Griechisch versteht. Die gegensätzlichen Wörter idiotikós (= privat) und koinós (= gemeinsam, gemeinschaftlich) tauchen zum Beispiel im Zusammenhang mit Heraklit auf. Da sich die Philosophie auf „das koinon, die geteilte Welt“ beziehe, meint Di Cesare, dass der Ausdruck „Private Weisheit“ ein Oxymoron sei (also ein Widerspruch in sich), und spricht deshalb von einer „privaten Idiotie“. Sie hat zwar kurz vorher darauf hingewiesen dass das griechische Wort idiotȇs auf das Eigentum verweist, aber das reicht meines Erachtens nicht aus, um den Witz mit der „privaten Idiotie“ wirklich zu verstehen.
Sozialkritisch
Das Buch ist durchzogen von einer gekonnten Gesellschafts- und Kapitalismuskritik. Die Autorin sieht „Hunderte Millionen von Individuen […], die nachts vor erleuchteten, magnetisch anziehenden Bildschirmen verharren, welche für immer ihre Vorstellungskraft beschädigen“. Und damit auch nicht mehr zum Philosophieren taugen. Das führe eher zu einer „Art des Somnambulismus“, der auch unter dem Namen 24/7 bekannt sei. Dieses „letzte Blendwerk des Kapitalismus“ in seiner neuen Schlaflosigkeit nennt sie zeitgemäß treffend den Sleep mode. Auch Fortschritt sieht sie eher kritisch, denn „die Technik [hat] mit ihrer Einführung von Verfahren der Vereinfachung die geistigen Fähigkeiten letzten Endes zur Regression, wenn nicht gar zum Verschwinden verurteilt“.
Philosophie und Dichtkunst arbeiten gleichermaßen mit der Sprache. Aber die Gesellschaft sieht sie dagegen auf „einer inzwischen vorherrschenden Flucht vor dem Wort [bedingt durch] die Rolle des von den sozialen Medien verbreiteten Neusprechs [und] der heuchlerischen Antirhetorik der Blogs“. Während das Private zu innerst vom Öffentlichen durchdrungen sei, sei der öffentliche Raum seinerseits nur mehr die Leere von Publizität und Werbung. Das ist eine einer Philosophin angemessene, sprachlich gekonnte Kulturkritik, die aber weit davon entfernt ist, in reinem Pessimismus zu verfallen.
Risse im System
Beim Lesen dieses Buches musste ich mehrmals an den Politikwissenschaftler John Holloway denken. Es ist nicht nur die Kapitalismuskritik, die Di Cesare und Holloway verbindet. Drei weitere Punkte sind mir dabei aufgefallen.
Wenn Di Cesare schreibt: „Diese Schwierigkeit [mit der Unschlüssigkeit] ist dennoch heilsam, insofern sie die einzige Bedingung des gemeinsamen Fragens und Suchens darstellt“, dann erinnert das stark an das „fragend schreiten wir voran“ (wir = gemeinsam) der Zapatistas, das Holloway immer wieder in seinen Schriften anführt.
Wenn sie schreibt: „Nur mehr selten liest man philosophische Texte, die […] eine evokative und poetische Kraft besitzen“, dann wird mir bewusst, dass sowohl sie als auch Holloway eine sehr interessante Sprache verwenden, die evozieren und provozieren will, die aufrüttelt, und mit frischen Bildern arbeitet.
Wenn sie zum Abschluss ihres Buches schreibt: „In einer Zeit, in welcher der in seiner Souveränität bedrohte Staat jedweden politischen Raum zu kontrollieren und auszufüllen sucht, ist es vonnöten, den Blick nicht nur außerhalb der Grenzen, sondern auch in das Innere seines Gebiets zu richten, in die sich eröffnenden Zwischenräume und Zwischenzeiten“, dann wird mir klar, dass das genau die Risse im System sind, die Holloway in seinem Kapitalismus aufbrechen meint, und die es gilt zu besetzen und auszuweiten.