Anarchismus, Vegetarismus und Veganismus

Viele Anarchist*innen haben sich sensibel zur Gewalt gegen Tiere ausgedrückt

| Renate Brucker

In einem im Ruhrgebiet viel gelesenen Blog, in dem es hin und wieder auch um Themen wie Vegetarismus, Veganismus, Tierrechte geht, erschien ein provegetarischer oder proveganer Kommentar, unterzeichnet mit „Eine Anarchistin“. Die „Anarchistin“ wurde von einem Blogger umgehend belehrt, dass Bakunin, ein Riese von Gestalt, täglich enorme Fleischmengen verzehrt hätte. Wenn das ein ernsthaftes Argument sein sollte, so war es nicht nur psychologisch ungeschickt, sondern offenbarte auch einen Mangel an historischem Wissen zum Verhältnis von Vegetarismus oder Veganismus und Anarchismus. (GWR-Red.)

Dass auch das Töten von bewussten, empfindungsfähigen Lebewesen Gewalt ist – dieser Erkenntnis konnten sich Menschen, die Gewalt ablehnten, kaum entziehen. Leo Tolstoi (1828-1910) bezog denn auch die Gewalt gegen Tiere in seine Gewaltkritik ein und zog seine persönlichen Konsequenzen in Form einer vegetarischen Ernährung, obwohl dies zu familiären Spannungen führte. Pflanzliche Ernährung war ein Teilaspekt der Veränderung seiner gesamten Lebensweise im Sinne von Vereinfachung, Angleichung an die arme bäuerliche Umgebung, Ablehnung von Luxus und industriellen Produktionsweisen.

Doch Tolstoi ging es auch um das Leiden der Tiere und das menschliche Mitleid. Er glaubte, dass die meisten Russen mitleidig seien, aber in einer Art Verblendung verharrten. „Entsetzlich sind nicht nur die Leiden und der Tod der Tiere, sondern auch die Tatsache, daß der Mensch ohne alle Notwendigkeit sein Gefühl der Teilnahme und des Mitleids zum Schweigen bringt und sich selbst Gewalt antut, um grausam zu sein. Und wie tief liegt im Herzen des Menschen das Verbot, ein lebendes Wesen zu töten.“ (1)

Schwer erträglich ist seine präzise, nüchterne Beschreibung der Vorgänge im Schlachthaus von Tula, das doch immerhin als „modern“ galt, aber auch der in der vorindustriellen dörflichen Gesellschaft. „Als wir in ein Dorf kamen, bemerkten wir ein fettes, fast ganz rosarotes Schwein, das man aus einem Haus heraustrieb, um es zu schlachten. Es schrie verzweifelt mit menschenähnlicher Stimme. Gerade in dem Augenblick, wo wir vorüberfuhren, begann man, es abzustechen. Ein Mann fuhr ihm mit dem Messer über die Kehle. Das Geschrei des Schweines wurde noch stärker und kreischender, das Tier riß sich los, von Blut überströmt. (…) Das Schwein wurde eingeholt, niedergeworfen und getötet. Als sein Geschrei aufhörte, stieß der Karrenführer einen tiefen Seufzer aus. ‚Gibt es keinen Gott mehr?‘, fragte er. Dieser Ausruf zeigt den tiefen Abscheu des Menschen vor dem Mord.“ (2)

Auch dass Tiere Eigentum sind, kritisiert Tolstoi in seiner Lebensgeschichte eines Pferdes (3) mit Namen „Leinwandmesser“, ähnlich wie dies später Clara Wichmann mit anderen – juristischen – Argumenten tun wird. Tolstoi sieht Tiere als Individuen und beweist seine Empathie, „wenn er etwa das Leben eines Pferdes psychologisch-biographisch auffasst und die Perspektive des Tieres einnimmt.“ (4) Nicht nur durch seine Schriften trug Tolstoi zur Verbreitung vegetarischer Ideen bei. Siedlungen, die sich an seinen Idealen orientierten und vor dem Ersten Weltkrieg in vielen Ländern gegründet wurden, setzten sie praktisch um. Vegetarische Gesellschaften folgten seinen Anregungen und Ratschlägen, etwa bei der Gründung des Deutschen Vegetarierbundes 1892 in Leipzig.

Nur wenig jünger als Tolstoi war der französische Geograph Elisée Reclus (1830-1905), der schon 1865 zur von Bakunin gegründeten „Internationalen Allianz der sozialen Demokratie“ gehörte und sich 1868 auf dem Berner „Kongress für Frieden und Freiheit“ zur anarchistischen Minderheit bekannte. (5) Für seine Beteiligung an der Verteidigung der Pariser Commune wurde er mit einer zehnjährigen Verbannung aus Frankreich bestraft, verbrachte diese Zeit in der Schweiz und später in Brüssel als Professor für Geographie. Eliseé Reclus, der sich selbst als „Légumiste“ bezeichnet (von légumes = Gemüse), beschreibt – wie viele Vegetarier – traumatische Schlachterlebnisse in der Kindheit, und führt auch ethische und ästhetische Argumente an. Er kritisiert die Erniedrigung der Schlachttiere im Vergleich zu ihrer nichtdomestizierten Form, ihre Deformation durch die „Zucht“ zu einer „sich in einem stinkenden Pfuhl suhlende[n] bloße[n] Fleischmasse“ (6) und fragt, ob die Menschen nicht so gegen die Natur insgesamt handeln, indem sie Schönheit in Hässlichkeit verwandeln. So lehnt er auch die Vivisektion ab. „Es ist die Hässlichkeit der Tat, die uns mit Abscheu erfüllt, wenn wir einen Naturforscher sehen, wie er lebendige Schmetterlinge in seine Schachtel aufspießt, oder wie er einen Ameisenhaufen zerstört, um die Ameisen zu zählen.“ (7)

Nach der Beschreibung von Kriegsgräueln in China fragt er: „Wer sind diese furchtbaren Mörder? (…) Aber besteht nicht ein direkter Zusammenhang von Ursache und Wirkung zwischen der Nahrung dieser Henker, die sich selbst ‚Vertreter der Zivilisation‘ nennen, und ihren furchtbaren Taten? Auch sie sehen in dem blutigen Fleisch den Ausgangspunkt von Gesundheit, Stärke und Intelligenz. (…) Besteht denn ein so großer Unterschied zwischen dem toten Körper eines Ochsen und dem eines Menschen? Durcheinandergemischte zerteilte Gliedmaßen und Eingeweide sind nicht mehr zu unterscheiden: Von der Schlachtung des Ochsen bis zur Tötung des Menschen ist es nur ein kleiner Schritt…“ (8)

Elisée Reclus sieht auch die strukturelle Ähnlichkeit in der rassistischen Abwertung von Menschen und der von Tieren. Es gibt eine doppelte Moral, die eine wird auf die angeblich „gelbe Rasse“ angewandt, die andere „bleibt das Privileg der weißen“ – und als ebenso „elastisch“ kritisiert er die unterschiedliche Moral gegenüber Menschen und Tieren. (9) Er bleibt allerdings nicht bei der Kritik der Gewalt stehen, denn er erhofft sich eine historisch positive Entwicklung, von den Vorfahren, denen der Verzehr ihrer Mitmenschen zuwider wurde, über die Gegenwart, in der viele Menschen bereits den Konsum von Pferden oder Gesellschaftstieren ablehnen, bis hin zu einer Zeit, „in der wir unseren Gang nicht beschleunigen müssen, um diese schreckliche Minute abzukürzen, in der wir an Schlachthöfen vorüberkommen.“ (10) Es handelt sich beim Vegetarismus nicht um eine neue Religion oder ein neues Dogma, sondern darum, „… unsere Existenz – soweit es uns bei den ästhetischen Voraussetzungen unserer Umwelt möglich ist – so schön und harmonisch wie möglich zu gestalten.“ (11)

Als die im gleichen Jahr wie Elisée Reclus geborene Louise Michel (1830 oder 1833-1905) starb, folgten Hunderttausende ihrem Sarg. Die „vierge rouge“, die „rote Jungfrau“ war eine der bekanntesten Verteidigerinnen der Pariser Kommune und zugleich eine Projektionsfläche für deren Gegner*innen und Anhänger*innen. Als „pétroleuse“ (12) verdammt, als „hässlich“, als „Mannweib“ verächtlich gemacht und als „Fanatikerin“, als „Ungeheuer in menschlicher Gestalt“ gefürchtet, wurde sie auf der anderen Seite fast als Heilige, als selbstlose, großherzige „bonne Louise“ verehrt. (13)

Louise Michel war die Tochter einer Zofe, ihr Vater war vermutlich der Sohn der Schlossbesitzer, denn diese nahmen sich ihrer Erziehung an. Sie wurde Lehrerin, allerdings nicht im Staatsdienst, denn sie lehnte den dafür geforderten Eid auf das Kaiserreich ab und gründete eigene private Schulen. Ihre anarchistische Gesinnung führte Louise selbst auf frühe Beobachtungen ihrer Umwelt, besonders der Leiden der Tiere zurück, für die sie großes Mitleid empfand: „Der Anblick einer geköpften Gans, die immer noch herumlief, weckte in dem Kind Mitleid für die Tiere und ‚Grauen vor der Todesqual‘ des Menschen gleichermaßen; das Mädchen hört von der Hinrichtung eines Vatermörders in einem Nachbardorf; die Qual des Tieres und die Qual des Menschen bewirken beide Empörung gegen eine falsch eingerichtete Welt. Bereits in dem acht- oder zehnjährigen Kind ist die Empörung so groß, daß es kein Fleisch mehr essen will.“ (14)

Als sensibles Kind, dessen Spielgefährten die Katzen und Hunde des Schlosses waren, das mit Kühen und Pferden spach, Mäuse, Fledermäuse und Schildkröten pflegte, litt Louise sehr unter der gewohnheitsmäßigen Tierquälerei „angefangen bei dem hilflosen Frosch, den die Bauern durchschneiden und dessen obere Hälfte (…) mit den herausquellenden Augen in der Sonne liegen lassen, wo er sich mit zitternden Vorderbeinen in der Erde zu verstecken versucht, bis zu der Gans, deren Füße man festnagelt, und dem Pferd, dessen Leib man von Blutegeln aussaugen lässt.‘“ (15) In ihren Memoiren beschrieb sie die für sie traumatischen Erlebnisse: „Das war einer der Gründe für meinen Aufstand gegen die Mächtigen. (…) Von der Zeit, da ich auf dem Land die Grausamkeit gegen die Tiere erlebte und das entsetzliche Bild ihrer Lebensbedingungen erfaßte, stammt mein Mitleid für sie und dadurch mein Bewußtsein für die Verbrechen der Macht.“ [Denn so] „handeln auch die Führenden mit den Völkern!“ (16)

Auch im Zusammenhang mit der Prostitution, deren Ursache sie vor allem in Armut, Unwissenheit und fehlenden Perspektiven für Frauen sieht, weist sie auf die strukturellen Ähnlichkeiten der Ausbeutung von Menschen und Tieren hin. „Hört, die Besitzer der Bordelle tauschen untereinander Frauen so wie die Bauern Pferde und Ochsen tauschen; sie sind Herden, das Menschenvieh bringt am meisten ein.“ (17) Sie versteht, dass harte Lebensumstände hart machen können und entschuldigt sich für ihr Mitleid – unter dem sie doch selbst leidet: „Verzeiht mir, meine lieben Freunde auf dem Lande, wenn ich mich zu lange über die Leiden auslasse, die bei Euch die Tiere ertragen müssen. Bei der harten Arbeit, über die Euch diese Rabenmutter von Erde beugt, leider Ihr selbst so sehr, daß Ihr alles Leiden verachtet.“ (18)

Louise Michel konnte sich auch an der Schönheit und Vielfalt von Tieren und Pflanzen erfreuen. Während ihrer Verbannung nach Neu-Kaledonien, 1873 bis 1880, als Strafe für ihre Teilnahme an der Verteidigung der Kommune, erforschte und beschrieb sie eingehend die dortige Tier- und Pflanzenwelt. Sie interessierte sich für die Traditionen der indigenen Bevölkerung, erlernte ihre Sprache und durfte in ihrem letzten Jahr dort sogar eine Schule eröffnen. Ihre Zuwendung zu allen Formen des Lebens hat ihr sicher geholfen, in der Zeit der Verbannung nicht zu zerbrechen.
Ähnlich Louise Michel hatte Clara Wichmann (1885-1922) in ihrer Kindheit viele Tiere ohne Vorurteile gepflegt und beobachtet. In Hamburg als Tochter einer deutschen Familie geboren, lebte sie in den Niederlanden und arbeitete nach ihrem Jurastudium im Amt für Statistik, speziell Kriminalstatistik.

Clara Wichmann gilt als wichtige Theoretikerin der Gewaltfreiheit und des Antimilitarismus, sie setzte sich ein für das Frauenwahlrecht und die Frauenbefreiung, für Strafrechts- und Justizreformen und unterstützte Bewegungen gegen den Krieg und die Wehrpflicht, für den Sozialismus, den Anarchismus und den revolutionären Syndikalismus, den sie als „Neusyndikalismus“ bezeichnete. Als Kritikerin des Gewaltprinzips und jedweder Unterdrückung und Ausbeutung klagte sie die Rechtlosigkeit der Tiere an. In ihrem Aufsatz über die Stellung der Haustiere (und „Nutztiere“) im Recht kritisiert sie, dass Tiere keine eigenen Rechte haben, sondern dass sie im Rechtssystem als Sachen betrachtet und Verbrechen gegen Tiere nicht als Verbrechen gegen diese direkt, sondern nur indirekt als Verstoß gegen die Sitten geahndet werden, und dies auch nur, sofern sie öffentlich und in „Anstoß erregender Weise“ begangen werden. Ebenso wie Louise Michel weist sie auf die strukturellen Ähnlichkeiten in der Unterdrückung von Menschen und Tieren hin und vergleicht die Lage der Tiere mit der besiegter Völker oder Stämme in der Geschichte, oder mit der Lage der Frauen oder der Arbeiter. (19) In ihrem Nachlass befindet sich auch ein selbst zusammengestelltes vegetarisches Kochbuch, denn durch ihre Zusammenarbeit mit vegetarisch lebenden Pazifist*innen und Tolstojaner*innen nahm sie die vegetarische Lebensweise an.

Neben diesen bekannten gewaltfreien Anarchisten könnten noch viele andere Namen genannt werden: Kropotkin mit seinem neuen Blick auf die „gegenseitige Hilfe“ bei Menschen und Tieren, der österreichische Arbeiter Franz Prisching, die Niederländer*innen Willy Eikeboom und Bart de Ligt sind nur einige Beispiele, die zeigen, dass gerade aus dem Prinzip der Gewaltfreiheit heraus „eine grundlegende innere Umstellung des menschlichen Verhaltens gegenüber den Tieren“ (Clara Wichmann) von Anfang an im Anarchismus mitgedacht und gefordert war.

(1): Leo Tolstoi, Die Fleischesser/ Die erste Stufe. 1892. In: Leo Tolstoi, Clara Wichmann, Elisée Reclus, Magnus Schwantje u.a., Das Schlachten beenden! Verlag Graswurzelrevolution 2010, S. 58.
(2): Ebd.
(3): Johann Bauer, Tolstoi als Kritiker der Gewalt. In. Leo Tolstoi u.a.. Das Schlachten beenden! S. 52f.
(4): Ders., ebd., S. 52.
(5): Lou Marin, Der Anarchist Elisée Reclus. In: Leo Tolstoi u.a.:Das Schlachten beenden! S. 79-84.
(6): Elisée Reclus, Zur vegetarischen Lebensweise. In: Leo Tolstoi u.a: Das Schlachten beenden! S. 87.
(7): Ebd., S. 93.
(8): Ebd., S. 89.
(9): Ebd., S.89f.
(10): Ebd., S.92.
(11): Es gab durchaus auch Anarchisten, die enge dogmatische Vorgaben aufstellten, z.B. sich nur von Früchten, nicht von ganzen Pflanzen zu ernähren.
(12): Es gibt eine Vielzahl von zeitgenössischen (oder auch späteren) Zeichnungen bzw. Karikaturen, die „hässliche, zerlumpte“ Frauen mit Brandfackeln und/oder Petroleumkanistern auf dem Wege zu oder bei einer Brandstiftung zeigen.
(13): Michaela Kilian, „Keine Freiheit ohne Gleichheit!“ (Louise Michel (1830 oder 1833-1905), Anarchistin, Schriftstellerin, Ethnologin, libertäre Pädagogin. AV Verlag, Lich 2008. S. 14ff.
(14): Ebd., S. 48. Kilian bezieht sich hier auf einen Brief Louise Michels an Victor Hugo.
(15): Ebd., S. 52.
(16): Ebd.
(17): Ebd., S.80.
(18): Ebd., S. 52.
(19): Clara Wichmann, Die Rechtsstellung der Haustiere. In. Tolstoi u.a., S. 129 ff.