Stichworte zum Postanarchismus 27

Arbeit

Zwischen negationistischem und produktivistischem Tun

| Oskar Lubin

Die Maus Frederick aus Leo Lionnis gleichnamigem Kinderbuchklassiker von 1967 verweigert die Arbeit. Zumindest dem ersten Anschein nach. Während seine Artgenoss*innen fleißig Nüsse, Stroh und alles mögliche an Zeug sammeln, das sie für den Winter brauchen, sitzt Frederick nur rum und schaut in die Sonne. Wie sich später herausstellt, sammelt er Farben, Sonnenstrahlen und Worte, die er seinen Freundinnen und Freunden in den schweren Stunden des Spätwinters, als alle Vorräte aufgebraucht sind, auch zukommen lässt. Zu deren großem Vergnügen. Während Frederick sich erst gegen die gebrauchswertschaffende und abstrakte Arbeit zu wehren scheint, verrichtet er sie schließlich doch. Frederick ist ein Kreativarbeiter und taugt damit durchaus als Modellmaus für die gegenwärtige Ökonomie der westlichen Gesellschaften. Denn hoch geschätzt werden die kreativen Skills hier ebenso wie am Ende des Kinderbuches. Sie verhindern auch, dass die Leute angesichts ihrer sonstigen Armut durchdrehen, schaffen Ablenkung vom Leiden und bieten Trost.

Und noch in anderer Hinsicht ist der Fall Frederick paradigmatisch: Arbeit erscheint unter dem Kreativitätsaspekt vor allem als selbstbestimmte Weltaneignung. Diese Aneignung der Welt durch Arbeit hatte auch Karl Marx schon gesehen, allerdings noch ergänzt durch den Aspekt der Unterwerfung des Subjekts, der im Fall Fredericks ebenso wenig augenfällig ist wie beim Hipster, der seine gesammelten Farben, Sonnenstrahlen und Worte neben dem Latte Machiato-Pappbecher in seinem Laptop verwertet. Für den Anarchismus ist diese Frederick-Sache ein Problem. Denn sie stellt grundlegende Annahmen infrage.

Vielleicht lassen sich zunächst grob zwei Strömungen in der anarchistischen Geschichte ausmachen, die quer zu anderen sinnvollen Unterscheidungen wie kommunistisch vs. individualistisch usw. liegen: der produktivistische und der negationistische Flügel.

Der produktivistische Anarchismus ist im Rahmen der Arbeiter*innenbewegungen zu 
verorten, kämpft um höhere Löhne, weniger Arbeitszeit, organisiert sich syndikalistisch, strebt selbstverwaltete Betriebe an. Und stellt bei all dem die Notwendigkeit von produktiver Arbeit nicht in Frage. Der Anarchosyndikalismus ist seine Repräsentantin. Der negationistische Anarchismus verweigert, boykottiert, sabotiert, ist mal ungehorsam mal passiv, er hat seine Ahn*innen in der Lysistrata des Aristophanes, die durch Sexstreik den Krieg zwischen Athen und Sparta verhinderte, in Henry David Thoreau („Über das Recht zum Ungehorsam gegen den Staat“, 1849) und Paul Lafargue („Das Recht auf Faulheit“, 1880) und er hat seine große Zeit in den Subkulturen der 1960er und 1970er Jahre. Aussteigen und Verweigern, darüber konnten sich sogar Hippies und Punks einig werden, wenn sonst schon über nichts.

Produktivistische und negationistische Strömungen standen nicht immer im Widerspruch zueinander, auch für den Anarchosyndikalimus etwa ist mit dem Streik eine Verweigerungstaktik zentral. Aber manchmal eben doch: Der Historiker Michael Seidman beschreibt in „Gegen die Arbeit“ die Probleme der anarchosyndikalistischen CNT, ihre Mitglieder zum Arbeiten anzuhalten. Die „Gewerkschaftsaktivisten wollten, dass die Arbeiter ihre Rolle als Arbeiter enthusiastisch annehmen“ (1). Das wollten die aber oft gar nicht. Trotz selbstverwalteter Betriebe wollten sie häufig einfach lieber nicht arbeiten. Als verfassungsmäßiges Recht kam das „Recht auf Arbeit“ im Realsozialismus oft einem Zwang zum Arbeiten gleich. Und David Peace lässt in seinem Roman „GB84“ über die Bergarbeiterstreiks in England 1984/85 einmal Arbeiter auftreten, die das „Recht auf Arbeit“ einfordern – es sind nicht die kämpfenden Kumpel, sondern die Streikbrecher! (2) Sie wollen arbeiten und sich nicht von der Gewerkschaft den Streik diktieren lassen.

Das produktive Paradigma hatte also im Wesentlichen zwei Haken: Es ließ sich ohne Repression nicht durchsetzen und/ oder es verkehrte sich ohne Weiteres in ein anti-emanzipatorisches Mittel. Pjotr Kropotkin bezeichnete das „Recht auf Arbeit“ in „Die Eroberung des Brotes“ (1919) daher schon weitsichtig als „günstigstenfalls ein industrialisiertes Zuchthaus“ (3) und setzte ihm das Recht auf Wohlstand entgegen.

Das alles machte, historisch betrachtet, Frederick besonders attraktiv. Die Verweigerung der fließbandorientierten (Fabrik- und Büro-)Arbeit und die Suche nach Alternativen zu ihr wurde ab den 1960er Jahren zu einem echten Problem für das Kapital. Also reagierte es – Gregoire Chamayou etwa beschreibt in seinem Buch „Die unregierbare Gesellschaft“ (2020) unterschiedliche Strategien, die auf Seite der Konzerne und des Managements diskutiert wurden, um auf das Fernbleiben vom Arbeitsplatz, auf die an Fertigungsteile gelötete Haschpfeifen und auf die eigenmächtige Verlangsamung der Arbeitsabläufe vorzugehen. Durchgesetzt hat sich die Kooptation, das „neue Zauberwort lautete Dialog“ (4): Dabei ließen sich Informationen sammeln, Diskurse einhegen und die Bewegungen in Radikale und Gemäßigte spalten. Und Kooptation bedeutete auch: das Anstacheln und Abschöpfen der kreativen Potenziale der Lohnabhängigen. Die Kapitalstrategen sahen, ließe sich sagen, in Frederick einen produktiven Arbeiter. Der Neoliberalismus wurde weniger mit Gewalt durchgesetzt, als über die Aktivierung von Freiheits- und Kreativitätsvorstellungen. So ließen sich auch Mehrheiten wieder festigen. Mit gesammelten Sonnenstrahlen sein Auskommen bestreiten, das war attraktiv. Damit noch gefeiert zu werden und unterm Strich auch Geld zu verdienen, das wurde zu einem Modell, das von Venice Beach nach Silicon Valley führte, oder deutscher gesagt: vom Störtebeker, dem Punk-Schuppen in der Hamburger Hafenstraße zum Störtebeker, dem gediegenen Café in der Elbphilharmonie. Getrieben von der Kooptationsstrategie der Pfeffersäcke wurden die Freibeuter*innen nun nicht mehr geköpft, sondern integriert und eingeladen, selber kleine Pfeffersäckchen mit freibeuterischem Antlitz zu sein.

Während der produktivistische Anarchismus das Repressionsproblem nicht lösen konnte, steht der negationistische Anarchismus ratlos vor dem Kreatitivitätsproblem. Verweigerung ist, wo sie nicht als Aufgeben der Lebenstätigkeit total wird, produktiv geworden. Ihre kreativen Elemente, die vormals als Ausflucht und Alternative fungierten, sind allmählich – also mit der Umwandlung der Industriegesellschaft in eine Dienstleistungsökonomie – zu zentralen Systemstützen geworden.

Die Arbeitskämpfe können weder an den produktivistischen Pol anknüpfen, denn allein unter ökologischen Gesichtspunkten ist hier eine Grenze erreicht, ab der irgendwann nur noch Spätwinter ist wie in der Mäusehöhle und alle Ressourcen verbraucht sind. Noch können sie ohne Weiteres am negationistischen Pol andocken. Denn die kreative Verweigerung, die die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit auflöst, ist vom Kapital dankbar aufgegriffen worden. Es hat nach der Phase grauen Fabrikalltags gelernt, Sonnenstrahlensammlungen wie Farben und Worte zu lieben. Ein zeitgemäßer Postanarchismus sollte weder das eine noch das andere Problem ignorieren und stattdessen an diesem Dilemmata ansetzen.

(1) Michael Seidman: Gegen die Arbeit. Über die Arbeitskämpfe in Barcelona und Paris 1936-38. Heidelberg: Verlags Graswurzelrevolution 2011, S. 206.
(2) David Peace: GB84. München: Heyne Verlag 2014, S. 101.
(3) Pjotr Kropotkin: Die Eroberung des Brotes. Berlin: Verlag Der Syndikalist 1919, S. 18.
(4) Grégoire Chamayou: Die unregierbare Gesellschaft. Eine Genealogie des autoritären Liberalismus. Berlin: Suhrkamp Verlag 2019, S. 167.

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