Modell einer partizipativen Demokratie

| Manfred Norwat

Anarchie, na klar! Aber wie soll sie aussehen, diese goldene Zukunft? Wie organisieren wir uns, wenn wir nicht mehr eine Handvoll Kleingruppen, sondern eine Gesellschaft von 80 Millionen sind? In der Kritik sind wir groß, aber darüber, wie eine konkrete Alternative aussehen könnte, denken wir lieber nicht nach. Was sind schon die Niederungen der Verwaltung im Vergleich zum Höhenflug des anarchistischen Geistes? Im folgenden Text skizziert Manfred Norwat die mögliche Ausgestaltung eines Rätesystems in einer modernen Gesellschaft. Wir hoffen, dass der Text unsere Leser*innen dazu anregt sich Gedanken zu machen, worüber wir reden, wenn „Anarchie“ nicht nur ein Schlagwort ist. (GWR-Red.)

Die heutige repräsentative Demokratie ist bestimmt durch die Wahl von Volksvertreter*innen auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene. Die gewählten Abgeordneten haben den Auftrag, im Sinne der gesamten Körperschaft und deren Bevölkerung Gesetze und Regelungen auszuarbeiten, zu verabschieden, die Regierenden zu kontrollieren und die Wähler*innen ihres Wahlkreises zu vertreten.
Dass das Ergebnis der politischen Entscheidungen oft nicht den Erwartungen breiter Bevölkerungsschichten entspricht, dafür sorgen mächtige Interessengruppen, die im Hintergrund und für die Wahlbevölkerung unsichtbar ihre Fäden ziehen und die wahren Herren des politischen Geschehens sind. Auf diese Weise ist eine parlamentarische Demokratie mit der Herrschaft des Kapitals kompatibel. Es wird durch Meinungsbeeinflussung und finanzielle Förderung nur Parteien im politischen Raum eine Teilhabe an der Macht zugestanden, die grundsätzlich die kapitalistische Gesellschaftsordnung nicht in Frage stellen, sondern ihr Interesse auf deren Erhaltung und Ausbau setzen. In dieser Art von Demokratie findet ein Ringen um Ausgleich zwischen ungleich gewichtigen Interessengruppen statt, was immerhin kostengünstiger aber auch kreativer ist als eine Diktatur mit ihrem ganzen Repressionsaufwand gegenüber einer unterdrückten und demotivierten Bevölkerung.
Allerdings gilt die genannte Beschreibung einer demokratischen Grundordnung nur für eine sog. Schönwetterdemokratie. Sollten die gesellschaftlichen Verhältnisse sich zum schlechteren verändern, so wurden und werden auch in der bürgerlichen Demokratie Instrumente geschaffen, um der Systemgefährdungen Herr zu werden. Das politische Instrumentarium kann bis knapp unter die Schwelle zur Diktatur, teilweise darüber hinausreichen.
Soweit das Prinzip und die Wirklichkeit unserer parlamentarischen Demokratie. Wie kann man jedoch die Schwächen der Repräsentation ausgleichen und das Niveau der Demokratie auf eine höhere Ebene bringen? Durch Volksversammlungen, auf denen abgestimmt wird? Einerseits sind diese schwer umsetzbar und der Einfluss des Einzelnen auf die Entscheidungen und deren Umsetzungen tendieren gegen Null.

Verbraucher- und Produzent*innen-Räte

Um das demokratische Defizit auszugleichen, beschreibe ich im folgendem das Modell einer partizipativen Demokratie. Voraussetzung für dieses Modell ist, dass eine gemeinwirtschaftliche Ökonomie besteht, in der Grund und Boden sowie die Produktionsmittel vergesellschaftet sind. Die Produktion und Verteilung der Güter erfolgt nach gesellschaftlichen Vorgaben, die es jedem Bürger und jeder Bürgerin ermöglichen, ihre individuellen Bedürfnisse im Einklang mit Natur und Gesellschaft zu befriedigen.


In einer künftigen Gesellschaft ist jede*r Erwachsene über Verbraucher- und Produzent*innen-Räte an gesellschaftlichen und politischen Entscheidungen beteiligt. Da aufgrund der reduzierten Arbeitszeit keine Arbeitslosigkeit besteht, ist jede*r von ihnen auf der einen Seite erwerbstätig, also Produzent*in, auf der anderen Seite Konsument*in. Nur für Menschen mit einer geistigen Behinderung besteht eine Repräsentation (s. u.). Auf der Seite der Verbraucher*innen sind die Vertretungsorgane der Rat der Hausgemeinschaft, in größeren Städten der Rat des Stadtteils und in kleinen und mittleren Gemeinden der Rat der Ortschaft, der Stadt und der Region. Auf der Pro-duzent*innenseite sind dies der Abteilungs- / Kleinbetriebsrat, der Betriebs- und der Branchenrat. Der Betriebsrat hat natürlich eine andere Bedeutung als heute, nämlich eine „exekutive“ Funktion. Über das „was“ produziert wird, entscheidet der Betriebsrat in Abstimmung mit dem wissenschaftlichen Beirat (s. u.), das „wie“ regeln die Kolleg*innen unter sich. Im höchsten Rat, dem Prokonrat (Produzent*innen/Konsument*innen-Rat) sind schließlich die Mitglieder aus dem Konsum- wie Produktionsbereich gemeinsam vertreten.
Es gilt das Prinzip der partizipativen Demokratie durch Rotation der beteiligten Personen. Nicht durch Wahlen, in denen starke Persönlichkeiten und Gruppen (Parteien) an Einfluss und Macht gewinnen, sondern durch die rotierende Beteiligung jedes*r erwachsenen Bürgers*in kann die Gefahr einer antidemokratischen Entwicklung minimiert und die Demokratie (Volksherrschaft) zur vollen Entfaltung gebracht werden, auf heute übertragen prägnant ausgedrückt: Alle Macht den Machtlosen.
Für den/die einzelne*n erwachsene*n Bürger*in bedeutet das, dass er/sie im Laufe seiner/ ihrer beruflichen Lebensphase und auch als Rentner*in mit gewissen Unterbrechungen 3-4 mal Mitglied eines Rates und zwar möglichst im Wechsel zwischen Verbraucher*innen- und Produzent*innenräten wird. Mit dem Alter steigt der Verantwortungsbereich, für den der/die Einzelne zuständig ist, d. h. man beginnt ab dem 25.Lebensjahr im Rat der Hausgemeinschaft (Ebene 1), und steigt ab dem 45.Lebensjahr über den Stadtteil-, Orts-, Abteilungs- bzw. Betriebsrat (Ebene 2) und ab dem 55. Lebensjahr in den Branchen-, Regional- und das höchste Gremium, den Prokonrat (Ebene 3), auf. Das Renteneintrittsalter (Beendigung der aktiven Arbeitsphase) von 60 Jahren wird auch als Höchstalter für die Mitgliedschaft in einem Rat festgesetzt. Wer ab dem 55. Lebensjahr im Branchen- oder Regionalrat vertreten war, kann nach dem 60. Lebensjahr auf freiwilliger Basis in internationale Räte delegiert werden, dies gilt nicht für ehemalige Mitglieder des Prokonrates.
Die Mitgliedschaft in einem Rat dauert 2 Jahre, wobei zu berücksichtigen ist, dass jedes Jahr eine Hälfte an Mitgliedern ausscheidet und die frei werdenden Sitze wieder von neuen Mandatsträger*innen besetzt werden. Die Aufnahme in den Rat erfolgt jährlich gegen Jahresende für das neue Jahr, wenn die eine Hälfte aus dem Rat ausscheidet. In der Verwaltung des Orts- bzw. Stadtteilrates gibt es einsehbare Einwohner*innen-Listen, nach denen die aufzunehmenden Ratsmitglieder transparent durch die EDV ermittelt werden.
Verglichen mit heute ist die Ratstätigkeit von 2 Jahren ein kurzer Zeitraum. Um alle Bürger*innen an der Ratstätigkeit zu beteiligen, ist jedoch ein längeres Mandat kaum möglich. Andrerseits ist für ein effektives Arbeiten in den Räten eine Mindestdauer von 2 Jahren erforderlich. Für die Vorbereitung der Sitzungen und die Zeit der Anwesenheit sind die Ratsmitglieder von ihrer Arbeit (durchschnittliche Wochenarbeitszeit: ca. 25 Stunden) freigestellt. Die Teilnahme an den Räten ist ein aus den demokratischen Prinzipien hergeleitetes unveräußerliches Recht, andrerseits aber auch eine Pflicht.
In den Räten werden die Aufgaben auf Ausschüsse und nötigenfalls Unterausschüsse verteilt, die die Vorgaben für die zugehörige Verwaltung erarbeiten und diese auch kontrollieren. Im Prokonrat könnten das z. B. die Ausschüsse für Volkswirtschaftsplan, Außenhandel, Justiz, Bildung, Gesundheitswesen oder Koordinierung sein.

Partizipationsprinzip und Entscheidungsprozess

Die Rats- und Ausschusssitzungen sind öffentlich. Die Abstimmungen erfolgen nach demokratischen Mehrheitsverhältnissen. Die zuständigen Räte tragen die Verantwortung für ihren Bereich und sind gegenüber ihren Bürger*innen rechenschaftspflichtig. Sie können zwar bestimmte Aufgaben innerhalb des Rates an Ausschüsse delegieren, sind jedoch gesamtverantwortlich. Der Prokonrat erlässt eine für alle Räte verbindliche Rahmensatzung, innerhalb derer sich die einzelnen Räte eigene Satzungen geben können.
Die Aufgaben des Prokonrates sind vor allem allgemeiner Art, wie Erlass von Regeln (Gesetze), Vertretung nach innen und außen, Koordinierung der gesamtwirtschaftlichen Aktivitäten usw. Die Konsument*innen-Räte stellen die notwendigen Investitionen fest und sind für deren Realisierung verantwortlich. Dies gilt ebenso für die Produktionsziele der Betriebe und deren Umsetzung durch die Betriebsräte. Die Regional- und Branchenräte haben für ihren Bereich die entsprechenden Koordinierungsaufgaben. Hier ist ein beständiger Abstimmungsbedarf zwischen den verschiedenen Ebenen notwendig.
Die sogenannte Gewaltenteilung zwischen Regierung, Parlament und Justiz im heutigen Sinne ist aufgehoben. Die Räte üben für ihren Bereich zugleich regierende, gesetzgebende und recht-sprechende Funktionen aus. Da das Partizipations- und nicht das Repräsentationsprinzip gilt, d. h. die Bevölkerung unmittelbar über die Räte an der Ausübung der Macht beteiligt ist, wenn auch für jede*n nur zeitlich begrenzt, muss daher die Macht auch nicht zwischen den demokratischen Institutionen geteilt werden.
Eine Kontroll- und Überwachungsfunktion haben wissenschaftliche Beiräte, deren Aufgabe es ist, die Belange der nicht vertretenen Natur und der unterrepräsentierten Minderheiten wie z. B. Menschen mit geistiger Behinderung in den Entscheidungsprozess einzubringen. Sie werden von den wissenschaftlichen Einrichtungen ebenfalls nach einem Rotationssystem für den Beirat bestimmt. Die Wissenschaftler*innen sind aufgrund ihrer Mitgliedschaft in den Beiräten nicht in das Rätesystem integriert, jedoch nach ihrem Ausscheiden aus den Beiräten. Sie beraten die Räte und besitzen gegenüber jeder Ratsebene ein Vetorecht, d. h. jede vom Beirat abgelehnte Ratsentscheidung ist ungültig.
Zwar sind die Kinder und Jungerwachsene bis zum Alter von 25 Jahren und die Älteren über 60 Jahre nicht (Ausnahme: internationale Räte) mit einbezogen, aber über die Schüler-, Ausbildungs- und Student*innen-Räte lernt die Jugend das Handwerkszeug der Partizipation praktisch und theoretisch als Bildungseinheit kennen. Daher ist nicht die Frage maßgebend, „ob“ ich mich in die gesellschaftliche Verantwortung, sondern „wie“ ich mich einbringe. Für die Rentner*innen gibt es Rentnerräte mit Mitwirkungsrechten in allen sie betreffenden Fragen.

Umsetzung in die Praxis

Bereits heute (deshalb reelle Utopie) kann man in übersichtlichen Organisationen oder in selbstverwalteten Betrieben das Prinzip der rotierenden Verantwortung einführen. Natürlich muss jedes Mitglied sich auf seine/ihre Weise einbringen. Die bisherigen Funktionsträger*innen und „Macher*innen“ müssen sich zurücknehmen und die bisherige passive Basis sich entsprechend aktivieren. Man kann die Verantwortungsbeteiligung auch dadurch erlernen, dass die einfachen Mitglieder durch Übernahme bestimmter Aufgaben an verantwortliche Tätigkeiten herangeführt werden und die für eine bestimmte Zeit eingesetzten Funktionsträger nur noch Koordinierungs- und Vertretungsaufgaben wahrnehmen.
Aufgrund unserer Sozialisation und Bildung können solche Modelle in der Umsetzung manchmal mühevoll und nicht fehlerfrei sein. Daher ist eine hohe Lernbereitschaft bei jedem*r Einzelnen Voraussetzung für das Gelingen dieses basisdemokratischen Modells. Für eine künftige Gesellschaftsordnung, die sich auf den Prinzipien der Humanität, der Solidarität und der Ökologie gründet, ist es von maßgebender Bedeutung, wie sie politisch organisiert ist. Die partizipative Demokratie, d. h. die basisdemokratische Beteiligung jedes Bürgers und jeder Bürgerin wäre ein wesentlicher Beitrag dazu.

Eine ausführliche Beschreibung der partizipativen Demokratie findet sich in: Manfred Norwat: Die Gesellschaft der Zukunft. Entwurf einer neuen Gesellschaftsordnung, tredition, Hamburg 2016, 320 Seiten, 11,90 Euro, ISBN: 978-3-7345-2668-8. www.zukunft.norwat.de