wir sind nicht alleine

Mehr als nur ein Hauch von Freiheit!

Wiederbesetzung der „Rosa Nera“ in Chaniá

| Ralf Dreis

Rosa Nera ist wieder ausgeschildert - Foto: Thomas Moick via flickr. com (https://www.flickr.com/photos/tombild/51379664837/in/dateposted/), CC BY-NC-SA 2.0

Die Anarchist*innen in Griechenland kämpfen unaufhörlich gegen die fortschreitende neoliberale Privatisierung und Kommerzialisierung des Lebens. Über ihre letzten Erfolge, wie z. B. die Wiederbesetzung der „Rosa Nera“ in Chaniá, schreibt aus Thessaloníki für die GWR Ralf Dreis. (GWR-Red.)

Neun Monate nach der Räumung des zuvor seit 2004 besetzten anarchistischen Zentrums „Rosa Nera“ in Chaniá auf Kreta wurde das Haus am 5. Juni 2021 erfolgreich wiederbesetzt und ist damit erneut in den Händen der Bewegung und des emanzipatorischen Teils der Stadtgesellschaft. Die Rückgewinnung des historischen Hügels Kastéli über dem venezianischen Hafen bedeutet das moralische und praktische Ende der Pläne der Regierung der Néa Dimokratía (ND), ein Luxushotel im Zentrum Chaniás zu errichten. Nur zwei Wochen nach der Räumung und Wiederbesetzung des selbstverwalteten Theaters Emprós in Athen ist dies der zweite herbe Rückschlag für die reaktionär-neoliberale ND-Regierung innerhalb kurzer Zeit.
Als klare Absage an den so genannten Bürgerschutzminister Michális Chrysochoídis, aber auch ganz persönlich an den aus Chaniá stammenden Familienclan des Ministerpräsidenten Kyriákos Mitsotákis muss die Wiederbesetzung des historischen Gebäudekomplexes durch Aktivist*innen der „Rosa Nera“ aufgefasst werden. Die „Rosa Nera“ war am 5. September 2020 durch starke Polizeieinheiten erstürmt und geräumt worden, womit nach 16-jährigem Bestehen eines der wichtigsten selbstverwalteten solidarischen Projekte des Landes zerschlagen werden sollte. Die Räumung war damals nicht nur als Ansage von Chrysochoídis und Mitsotákis an die anarchistische Bewegung gedacht, mit allen Besetzungen des Landes kurzen Prozess zu machen, sondern in gleichem Maße ein Versprechen an private Kapitalinteressen, da der historische Gebäudekomplex der 5. Kretischen Division, auf dem „Balkon von Chaniá“ gelegen, für großspurige Investitionen mit privatem Luxushotel, Swimmingpools und eigenem Wachschutz vorgesehen war. Seitdem wurde das geräumte Zentrum neun Monate lang rund um die Uhr von Polizeikräften bewacht. Ein privater Bautrupp hatte auf Anordnung der staatlichen Repressionskräfte die Eingänge zugemauert, die Fenster mit Metallplatten verschraubt und alle sanitären und elektrischen Anlagen in den Gebäuden zerstört. Toiletten und Abwasserrohre wurden zubetoniert.

Ort der Freiheit

Hunderte Menschen setzten diesem Zustand am Samstag, dem 5. Juni 2021 mit der erfolgreichen Wiederbesetzung um 12 Uhr mittags ein Ende. Die Polizeikräfte konnten in Anbetracht der Kräfteverhältnisse ohne Auseinandersetzung vertrieben werden. Dann wurden Eingänge und Fenster geöffnet und mit der sofortigen Instandsetzung begonnen. Schon um 17 Uhr desselben Tages nahmen mehr als 1.200 Menschen an der ersten öffentlichen Vollversammlung mit anschließendem Fest auf dem „Balkon von Chaniá“ vor der „Rosa Nera“ teil. Seit dem 6. Juni finden täglich Veranstaltungen und öffentliche Plena statt, und die Reparatur der vom Staat hervorgerufenen Schäden schreitet voran. In ihrem ersten Text zur Wiederbesetzung erinnern die Besetzer*innen an die Geschichte der Gebäude und betonen, dass „nur wenn sie niemandem gehören, können sie allen gehören“.
„Wir fordern ganz konkret, dass dieser Ort erneut ein Ort der Freiheit und des Kampfes für das Leben wird. Denn nur so kann es uns gelingen, seine Umwandlung in einen Hotelkomplex und seine Kommerzialisierung zu verhindern. Nur wenn er in die Hände der Gesellschaft übergeht, kann es Gleichberechtigung in der Entscheidung über seine Zukunft geben. All die offiziellen und inoffiziellen Wichtigtuer, die ständig über die Zukunft des Hügels von Kastéli reden, haben noch nie jemanden ohne bekannten Namen als gleichberechtigten Gesprächspartner anerkannt.“
Beim Hügel von Kastéli, genau über dem venezianischen Hafen von Chaniá gelegen, handelt es sich um den wichtigsten topografischen Punkt der Stadt. Dort befinden sich die drei ehemaligen Gebäude (Kommandantur, Gefängnis, Kaserne) der 5. Kretischen Division, die 1986 mit Geldern des Bildungsministeriums vom Verteidigungsministerium erworben wurden. Sie wurden der Polytechnischen Universität Kretas zur Durchführung des Hochschulbetriebs gespendet, was jegliche Privatnutzung nach Artikel 109 der griechischen Verfassung als verfassungswidrig ausschließt. Trotzdem verscherbelte sie der ehemalige Uni-Dekan, Mitsotákis-Vertraute und spätere Néa-Dimokratía-Parlamentarier und Staatssekretär im Bildungsministerium, Wasílis Digalákis, in einem undurchsichtigen Verfahren zu einem Schleuderpreis an das private Konsortium Belvedere zwecks Errichtung einer Luxushotelanlage. Erst durch die Veröffentlichung der Baupläne durch die Besetzer*innen der „Rosa Nera“ wurden die Pläne der Investor*innen in ihrem ganzen Ausmaß bekannt: Private Luxushotelanlagen mit Swimmingpools und Wachschutz im historischen Zentrum der Altstadt ohne Zugang für die Bewohner*innen der Stadt. Ein Plan, den der aus Chaniá stammende Ministerpräsident Kyriákos Mitsotákis (ND) persönlich noch in seiner Zeit als Oppositionsführer lobte und durch Artikel in der Presse vorantrieb. Eigene Pläne der Stadt (Stadtbibliothek, historisches Archiv) blieben unberücksichtigt. Wichtiger Teil des jahrelangen Widerstands war die „Bürgerinitiative gegen das Hotel auf dem Hügel von Kastéli“ und das Besetzer*innen-Kollektiv der „Rosa Nera“, die durch ihre ständigen Interventionen bei allen politisch relevanten Themen in der Stadt für den öffentlichen Charakter der Gebäude kämpften und diesen zugleich durch hunderte öffentlicher Veranstaltungen im besetzten Zentrum in den letzten 16 Jahren verwirklichten. Die erfolgreiche Wiederbesetzung der „Rosa Nera“ stellt insofern einen empfindlichen Schlag für die neoliberale Erzählung der erfolgreichen Privatisierungen in Griechenland dar. Dóra Bakogiánni, ND-Politikerin, Ex-Außenministerin und große Schwester von Mitsotákis, forderte deshalb ebenso wie der für den Verkauf verantwortliche Digalákis die sofortige erneute Räumung der „Rosa Nera“, was bei den momentanen Kräfteverhältnissen in Chaniá schwierig werden dürfte.

Das „freie, selbstverwaltete Theater Emprós“ in Athen

Kopfzerbrechen dürfte die Wiederbesetzung der „Rosa Nera“ der Regierung auch deshalb bereiten, weil sie nur zwei Wochen nach dem Desaster der versuchten Räumung des Emprós-Theaters in Athen erfolgte. Seit der Emprós-Besetzung 2011 im Rahmen der Kämpfe gegen die von der so genannten Troika aus Internationalem Währungsfonds, Europäischer Zentralbank und EU-Kommission oktroyierten Spardiktate sind Hunderte Künstler*innen dort aufgetreten. Über 400 verschiedene Theaterstücke in mehr als 2.000 Vorstellungen wurden aufgeführt. Mehr als 450 Konzerte, 300 Vorträge und unzählige Veranstaltungen zur Unterstützung selbstorganisierter Projekte, von Geflüchteten, von Hungerstreiks, Kunstgruppen und Filminitiativen fanden statt, zudem Hunderte von Versammlungen, Plena, Ausstellungen, Gedichtabende, Literaturfestivals und Workshops.

In Thessaloníki wurde im August 2020 das anarchistische Zentrum „Terra Incognita“ geräumt, zugemauert und seitdem rund um die Uhr von der Polizei bewacht. Wie Chaniá zeigt, muss das kein Hindernis sein.

Das 1933 erbaute, seit 1989 als Beispiel der Architektur der Zwischenkriegszeit unter Denkmalschutz stehende schlichte Industriegebäude diente zunächst als Druckerei für die gleichnamige Zeitung. Von 1988 bis 2007 diente es als Sitz des Theaterensembles Morfés und anschließend als Sitz des Theaters Emprós. Nach fast fünf Jahren Leerstand besetzte im November 2011 die Künstler- und Künstlerinnen-Initiative Mavíli das Gebäude mit Unterstützung der Bürgerinitiative Psyrí und erfüllte es mit neuem Leben.
2012 übernahm die wöchentlich stattfindende offene Vollversammlung die Verantwortung für den Betrieb und die Verwaltung des Theaters. Polizeiliche Räumungsversuche in den Jahren 2013 und 2016 konnten mit Massenmobilisierungen abgewehrt werden. Im Zuge der nationalistischen Kampagnen zum inzwischen beigelegten Namensstreit mit der Nachbarrepublik Nordmazedonien verübten Nazis 2018 einen Brandanschlag auf das Theater. Bei einer ähnlichen Nazi-Demonstration in Thessaloníki wurde das besetzte anarchistische Zentrum „Libertatia“ bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Es wird inzwischen von den Be-setzer*innen wiederaufgebaut. Am 19. Mai 2021 wurde das Emprós im Morgengrauen von starken Polizeikräften geräumt und zugemauert. Doch der Plan der Regierung und ihres Bürgerschutzministers Chrysochoídis, das in der Covid-19-Pandemie geschlossene Emprós ohne Widerstand zu räumen, ging nicht auf. Nach einem ersten allgemeinen Aufschrei der Empörung, Solikundgebungen in anderen Städten und kritischen Äußerungen vieler Kulturschaffender versammelten sich am Nachmittag des 22. Mai mehrere Tausend Menschen zur Protestdemonstration, um mit Musikbegleitung zum zugemauerten Emprós zu ziehen. Unter großem Jubel, kämpferischen Parolen und der Musik der 150 Musiker und Musikerinnen der „Support Art Workers“ wurden mit Vorschlaghämmern die zugemauerten Eingänge geöffnet. Das Gebäude wurde mit einer Riesenparty erneut besetzt, und die Vollversammlung gab die dauerhafte Wiederbesetzung bekannt. In der Folge wurden erste Unstimmigkeiten innerhalb der Regierungspartei und im Familienclan des Ministerpräsidenten deutlich. Ein erneuter Räumungsversuch der Polizei am 24. Mai scheiterte an der Intervention der linken Stadtverordnetenfraktion Anoichtí Póli/Antarsía, da die Polizeikräfte wie am 19. Mai erneut nicht über die nötige Veränderungsgenehmigung der zuständigen Behörde für zeitgenössische Baudenkmäler verfügten. Der Versuch, das Gebäude diesmal mit Eisengittern abzusperren, musste nach einer Strafanzeige von Anoichtí Póli/Antarsía abgebrochen werden. Die landesweite Künstler*innen-Vereinigung Potha verurteilte „dieses unmögliche Unternehmen des erneuten Räumungsversuchs“ und forderte ein „entschiedenes Eingreifen des Kulturministeriums und der Stadt Athen“. Daraufhin meldete sich der Bürgermeister von Athen und Neffe des Ministerpräsidenten, Kóstas Bakogiánnis (ND), zu Wort. Er schlug der Eigentümerin des Emprós, der staatlichen Gesellschaft zur Verwaltung öffentlicher Gebäude (Etad), vor, es der Stadt Athen zu überlassen. Damit wolle Athen „den künstlerischen Ausdruck und die Künstler der Stadt unterstützen“. Die Vollversammlung des Emprós zeigte sich davon unbeeindruckt: „Ob uns eine staatliche oder eine städtische Behörde zumauern will, ist uns egal. Wir werden das Emprós in jedem Fall selbstverwaltet und kämpferisch weiterbetreiben.“
Aktivist*innen in Thessaloníki warten nach den Wiederbesetzungen in Athen und Chaniá auf die weiteren Entwicklungen in ihrer Stadt. Dort wurde im August 2020 das anarchistische Zentrum „Terra Incognita“ geräumt, zugemauert und seitdem rund um die Uhr von der Polizei bewacht. Wie Chaniá zeigt, muss das kein Hindernis sein.