Kampf für reproduktive Gerechtigkeit

Bedeutung von Abtreibungsverboten für die Unterdrückung der Frauen

| Brigitte Kiechle

Weltweit fordern Frauen für sich das Recht, selbst zu entscheiden, ob sie Kinder wollen, wann sie Kinder wollen und wie viele Kinder sie wollen. Dazu gehört auch das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Restriktive Abtreibungsgesetze sind Teil der Gewaltkultur gegenüber Frauen und Ausdruck frauenverachtender Verhältnisse. Sie sind Teil bevölkerungspolitischer Herrschaftsinstrumente. Unabhängig davon ist längst bekannt, dass mit Abtreibungsverboten und Kriminalisierung von Frauen, die sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden, keine Abtreibung verhindert werden kann, sondern nur das Leben und die Gesundheit von Frauen aufs Spiel gesetzt werden. Der Kampf um Selbstbestimmung und reproduktive Gerechtigkeit ist deshalb in den letzten Jahren erneut zu einem zentralen Anliegen der feministischen Bewegung rund um den Globus geworden. Erinnert sei z. B. an die Massenbewegungen in Irland, Polen, Spanien und Argentinien.

Erfolgen wie jüngst im Ministaat San Marino stehen immer auch erneute Angriffe auf bereits erreichte Errungenschaften wie aktuell in Texas (USA) gegenüber. In San Marino waren Schwangerschaftsabbrüche selbst bei Vergewaltigung oder Gefahr für das Leben der Frau verboten. Nun gilt nach einer Volksabstimmung Ende September dieses Jahres eine Fristenregelung, bei der bis zur 12. Schwangerschaftswoche ein Abbruch erlaubt ist. Nach kraftvollen feministischen Kämpfen in den USA in den 1960er- und 1970er-Jahren wurde das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten gesetzlich verankert. Anfang September dieses Jahres konnten die klerikalen und erzkonservativen Abtreibungsgegner in den USA in Texas einen wichtigen Erfolg verbuchen. In Texas trat ein Gesetz in Kraft, mit dem Schwangerschaftsabbrüche nach der 6. Woche auch bei Vergewaltigung und Inzest verboten werden. Das Gesetz widerspricht der bundesweiten US-Gesetzgebung und beschäftigt derzeit die Gerichte. Die feministische Bewegung in den USA hat mit ersten großen Demonstrationen in mehreren Städten auf den Angriff der Rechten reagiert. Die Erfahrungen in den USA haben gezeigt, dass es gefährlich ist, sich mit erkämpften frauenrechtlichen Teilerfolgen zufriedenzugeben und auf die Einhaltung von „Recht und Gesetz“ zu vertrauen. Errungene Reformen, die die kapitalistischen Strukturen nicht grundsätzlich angreifen, sind immer umkehrbar, sobald der Druck der Bewegungen von unten nachlässt und die Reaktionäre wieder Morgenluft wittern. Der Kampf um reproduktive Gerechtigkeit kann deshalb vom Kampf gegen das Patriarchat und für eine emanzipatorische und solidarische Gesellschaft nicht getrennt werden. In den USA haben linke Feministinnen diesen Zusammenhang hervorgehoben und damit begonnen, erneut Massenproteste von unten zu organisieren und zum Aufbau einer Bewegung aufzurufen, die feministische und soziale Kämpfe zusammendenkt und zusammenbringt.

BRD-Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch ist Ausdruck staatlicher Bevormundung und Frauenunterdrückung

Der § 218 im Strafgesetzbuch (StGB), mit dem ein Schwangerschaftsabbruch in der BRD nach wie vor grundsätzlich verboten ist, besteht seit 150 Jahren. Er wurde am 15. Mai 1871 ins Reichsstrafgesetzbuch aufgenommen. Schwangerschaftsabbruch galt als Verbrechen und wurde mit Zuchthaus bestraft. Seit dieser Zeit besteht auch der Kampf für die Abschaffung des Schandparagraphen. Dabei ging und geht es beim § 218 nicht einfach nur um den Schwangerschaftsabbruch selbst, sondern darum, wer letztlich über die Gebärfähigkeit der Frauen entscheidet: Die Herrschenden mit ihren bevölkerungspolitischen und frauenbevormundenden Interessen oder die Frauen selbst. Der Kampf um den Zugriff auf die menschliche Reproduktion ist zugleich ein Kampf um gesellschaftliche Machtverhältnisse. Frauen stehen in dieser Auseinandersetzung an vorderster Front – gleichzeitig als Opfer und Akteurinnen.
Für die ersatzlose Streichung des § 218 mobilisierten in der Weimarer Zeit schon die kommunistische Frauenbewegung und später die autonome Frauenbewegung ab den 1970er-Jahren. Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) forderte die Aufhebung des Abtreibungsparagraphen und völlige Straffreiheit. Die Forderungen wurden von einer Massenbewegung auf die Straße getragen. Die „neue“ Frauenbewegung der BRD schaffte es in den 1970er- und 1980er-Jahren erneut, die Abtreibungsfrage auf die Tagesordnung zu bringen und die Frauen zu mobilisieren. Letztlich wurde zwar eine Liberalisierung für die Frauen in Westdeutschland erreicht, die alte Grundposition, Schwangerschaftsabbruch als Unrecht zu qualifizieren und Frauen die Entscheidungsfreiheit abzusprechen, wurde dadurch aber nicht aufgehoben. Ein Schwangerschaftsabbruch ist immer noch grundsätzlich strafbar, und nur in Ausnahmefällen (z. B. in den ersten drei Monaten und nur nach Zwangsberatung) gilt er als gerechtfertigt. Dies zeigt sich insbesondere an den jüngst erfolgten strafrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen gegenüber ÄrztInnen gemäß § 218 und § 219a StGB. Allein die Tatsache, über die Möglichkeiten zum Schwangerschaftsabbruch zu informieren, über die besten Methoden aufzuklären und selbst Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, reichte nach Anzeigen eines rechten selbsternannten „Lebensschützers“ aus, die Staatsanwaltschaft auf den Plan zu rufen und gerichtliche Verurteilungen zu erreichen.
Der Kampf gegen den § 218 ist nach wie vor ein zentraler Punkt in der Geschlechterauseinandersetzung, denn er geht weit über die Abtreibungsfrage hinaus. Es geht u. a. um die gesellschaftliche Rolle, die uns Frauen zugedacht wird. Die Abtreibungsgesetzgebung ist außerdem Einfallstor für staatliche Frauenentmündigung und Ausdruck bevölkerungspolitischer Maßnahmen. Für all jene, die ein rückwärtsgewandtes und reaktionäres Frauenbild propagieren, gehört die Forderung nach einer weiteren Verschärfung der Abtreibungsgesetze zum Programm.

Die Dreieinigkeit: Antifeminismus, Nationalismus und Rassismus

Rechte Abtreibungsgegner sind auf dem Vormarsch. Ihr Frauenbild ist verbunden mit einer Kampfansage an alle emanzipatorischen Vorstellungen von Frauenleben, wirklicher Gleichberechtigung und der Vielfalt der Lebensformen. Sie stellen sich eine Gesellschaft vor, in der alle feministisch erkämpften Errungenschaften der letzten Jahrzehnte wieder zurückgenommen werden. Der Antifeminismus der Rechten, ob in der BRD, in Polen, Brasilien, Türkei oder den USA, ist eng verknüpft mit Rassismus und Nationalismus, die sich gegenseitig bedingen und verstärken. Da wird von „Überfremdung“, Auslöschen der „deutschen Identität“ und „Aussterben des deutschen Volkes“ geschwafelt und gegen Geflüchtete und People of Color gehetzt. Dies führt dann zur Forderung an die „deutsche Frau“, ihren Dienst am Vaterland zu leisten und mehr Kinder zu bekommen. Letzteres gehört zum Programm aller Nationalisten weltweit. So fordert z. B. Erdoğan in der Türkei von den Frauen des Landes, ihrer „patriotischen Pflicht“ nachzukommen und mindestens drei Kinder zur Welt zu bringen. Wobei dies mit Warnungen und Drohungen für alle verbunden ist, die sich dieser Forderung verweigern und damit angeblich eine oppositionelle Haltung kundtun. Fundamentalistische „Lebensschutzgruppen“ blockieren Beratungsstellen, greifen Frauen und ÄrztInnen körperlich an und schrecken, wie in den USA, auch vor Mord nicht zurück. Frauen, die sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden, werden als Mörderinnen diffamiert. Gegen den angeblichen „Kinderholocaust“ wird jeden September in Berlin der „Marsch für das Leben“ organisiert, an dem in trauter Einigkeit Nazis, „Lebensschützergruppen“, rechte katholische Kirchenkreise und Mitglieder von AfD bis zur CDU marschieren. Der AfD, inzwischen bundesweit in allen Parlamenten vertreten, geht es um die Hinwendung zu einer „nationalen Bevölkerungspolitik“. Dabei werden Familien-, Frauen- und Migrationspolitik miteinander vermischt. Die traditionelle Familie soll als Leitbild im Grundgesetz festgeschrieben werden. „Willkommenskultur für Kinder“ gilt für die „angestammte Bevölkerung“. Angeblich benachteiligte Männer und Väter sollen in ihren Rechten gestärkt werden. Abtreibungen und von der traditionellen Familie abweichende Lebensformen gelten nicht nur als unerwünscht, sondern sollen verhindert werden. Gleichzeitig soll das individuelle Asylrecht vollständig abgeschafft und Zuwanderung auf ökonomische Notwendigkeiten ohne Daueraufenthaltsperspektive begrenzt werden.
In feministischen Kreisen wird immer mal wieder diskutiert, ob die rechten Frauenfeinde tatsächlich ernst zu nehmen sind. Sie sind es! Ein Beispiel ist u. a. die Diskussion um den § 219a StGB. Es gehörte nach Einführung der Indikationslösung von Anfang an zur Strategie rechter politischer und religiöser Gruppen, die Liberalisierung über den Angriff auf ÄrztInnen und Beratungsstellen auszuhebeln. Neben Öffentlichkeitskampagnen gegen die „Morde im Mutterleib“ gehörten Strafanzeigen gegen ÄrztInnen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, zum Standardprogramm. Wurden diese früher von den Staatsanwaltschaften in der Regel eingestellt, so wird nun immer öfter ein Strafverfahren eingeleitet. Immer weniger ÄrztInnen sind außerdem bereit, einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen. In vielen Krankenhäusern werden keine Schwangerschaftsabbrüche in der Dreimonatsfrist mit Zwangsberatung durchgeführt. Dies führt in einigen Gegenden der BRD dazu, dass ein notwendiges Angebot der Frauengesundheit, ein Zugang zu schonenden Abtreibungsmöglichkeiten, nicht mehr zur Verfügung steht.

Protest allein genügt nicht – weitere Reförmchen ändern noch nichts!

Nachdem im November 2017 die Ärztin Kristina Hänel vom Amtsgericht Gießen zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, weil sie auf ihrer Webseite darüber informierte, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführt und über das Verfahren informierte, hat die Bewegung gegen den § 218 wieder neuen Schwung bekommen und ist aus dem Dornröschenschlaf aufgewacht. Die Proteste haben zwar zu kosmetischen Veränderungen beim § 219a StGB geführt, der 1933 ins Strafgesetzbuch eingeführt wurde; abgeschafft wurde der Paragraph jedoch nicht.
Am internationalen Aktionstag „Safe Abortion Day“ am 28. September 2021 sind weltweit Frauen auf die Straße gegangen, um gegen Kriminalisierung und Abtreibungsverbote zu demonstrieren. In der BRD wurden für ca. 80 Städte Aktionen angekündigt. Dies ist zunächst einmal positiv zu bewerten, zeigt es doch die Aktualität des Themas. Es handelte sich jedoch oft nur um kleine Aktionen. Die öffentliche Wirksamkeit ließ bis auf wenige Ausnahmen zu wünschen übrig. Bilder zu produzieren für die sozialen Medien, schafft noch keine breite wirkungsvolle Bewegung.
Auch über die inhaltliche Orientierung ist dringend eine frauenpolitische Debatte notwendig. Die Hauptforderung der „Pro-Choice“-Kampagne ist, den § 218 aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Diese Forderung ist letztlich weichgespült und nicht geeignet, eine kämpferische Bewegung aufzubauen. Sie ist nicht identisch mit der Forderung nach ersatzloser Streichung des § 218. Es handelt sich dabei nicht um sprachliche Spitzfindigkeiten, sondern um grundsätzlich unterschiedliche politische Strategien. Eine Neuregelung der Abtreibungsgesetzgebung kann auch in einem Sondergesetz erfolgen und lässt damit die Möglichkeit offen, einschränkende, bevormundende oder strafrechtliche Vorschriften lediglich neu zu fassen, ohne diese grundsätzlich abzuschaffen. Auch Überführung in das Ordnungswidrigkeitenrecht wäre möglich. All dies wäre dann nur eine formale, keine tatsächliche Änderung. Auch die Einschränkung auf die Streichung des § 219a würde an der prinzipiell frauenfeindlichen Gesetzesbestimmung und der grundsätzlichen Rechtswidrigkeit bei Schwangerschaftsabbrüchen nichts ändern. Der Kampf um Halbheiten ist letztlich demobilisierend und führt nicht zu einer emanzipatorischen Lösung. Nur mit der ersatzlosen Streichung des Schandparagraphen 218 kann sichergestellt werden, dass betroffene Frauen nicht länger kriminalisiert und ihre Lebensentscheidung und -perspektive nicht mehr von den Moralvorstellungen und der Willkür von RichterInnen, StaatsanwältInnen, Kirchenmännern, reaktionären ÄrztInnen und PolitikerInnen abhängig gemacht werden.

Wir benötigen eine breite Kampagne für reproduktive Rechte und reproduktive Gerechtigkeit. Dabei geht es u. a. darum, die verdrängte Bedeutung von Abtreibungsverboten für die Unterdrückung der Frauen wieder ins Bewusstsein zu rufen. In der Regel wird die Entscheidung für das Austragen einer Schwangerschaft oder einen Abbruch nicht als gleichwertige Entscheidung betrachtet. Das Abtreibungsverbot macht Abtreibung und Geburt zu patriarchal kontrollierten Zwängen, zu Verboten und Geboten. Solange sich Frauen nicht ohne Einschränkung und Bevormundung für einen Abbruch entscheiden können, wird es auch keine völlig frei gewählte Mutterschaft geben. Dieser Zusammenhang berührt uns alle unabhängig von unserer individuellen Entscheidung in der Kinderfrage.
Die Forderung nach Aufhebung von Abtreibungsverboten allein bleibt jedoch viel zu abstrakt und greift im Sinne tatsächlicher Frauenemanzipation zu kurz. Selbst mit der ersatzlosen Streichung des § 218 StGB und Schaffung ausreichender Angebote und Zugangsmöglichkeiten zu bestmöglichen ärztlichen Behandlungen würden sich zwar die Bedingungen für einen Schwangerschaftsabbruch verbessern, aber noch nicht die konkreten Lebensbedingungen und die Entscheidungsgrundlagen für ein Leben mit oder ohne Kinder. Wirkliche Entscheidungsfreiheit setzt auch die soziale Frage auf die Tagesordnung. Im Kontext reproduktiver Unterdrückung müssen auch durch Rassismus bedingte und klassenbedingte Ungerechtigkeiten analysiert und aufgegriffen werden, ebenso die Lage der Frauen des Südens und der Frauen in den Communities of Color. Wirkliche Entscheidungsfreiheit für oder gegen Mutterschaft setzt auch soziale Sicherheit und eine Gesellschaft ohne patriarchale und soziale Unterdrückung voraus. Unser Kampf muss deshalb gleichzeitig mit einem politischen Ansatz verbunden werden, der darauf abzielt, die Bedingungen zu überwinden, unter denen Sexualität und Mutterschaft im Interesse von Kapital und Patriarchat funktionalisiert werden.

Wir müssen uns den Feminismus als kollektive Handlungsoption neu aneignen und uns im Kampf um reproduktive Gerechtigkeit um neue handlungsfähige und nicht-reformistische internationale Vernetzungsstrukturen bemühen. Es geht nicht nur darum, in einzelnen Bereichen Verbesserungen zu erreichen, nicht um Gleichheit in der Ungleichheit im herrschenden System, sondern um Organisierung von Protest und Widerstand, der auf Befreiung zielt, uns aus der Fremdbestimmung befreit und ein gutes selbstbestimmtes Leben für alle ermöglicht. In diesem Sinne gilt es die Bewegung für die ersatzlose Streichung des § 218 StGB zu stärken und inhaltlich zu erweitern. 150 Jahre § 218 sind ein Skandal, den wir endlich beenden müssen.

Brigitte Kiechle ist Mitglied der Frauengruppe „Feministische Intervention“ in Karlsruhe. Die im Artikel vertretene Position zum § 218 ist Ergebnis der gemeinsamen Diskussion zum Thema.

Brigitte Kiechle: Frauen*streik. «Die Welt steht still, wenn wir die Arbeit niederlegen». Schmetterling Verlag, Stuttgart 2019, 112 Seiten, 10,00 Euro, ISBN 3-89657-173-7